Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Auf der Suche nach der Grundlage der ersten Wörter

Autoren
Johnson, Elizabeth
Abteilungen

Sprachverstehen (Prof. Dr. Anne Cutler)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Kinder erkennen beim Erwerb der Muttersprache die ersten Wörter lange bevor sie zu sprechen beginnen. Wissenschaftler am MPI für Psycholingustik beschäftigten sich mit der Frage, wie das möglich ist. Laut einem viel beachteten Vorschlag beginnen Kinder Wörter zu lernen, indem sie die Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Silbe zur nächsten beachten. In den Untersuchungen zeigt sich jedoch, dass diese Strategie problematisch ist, wenn man die Komplexität gesprochener Sprachen in Betracht zieht. Daher denken die Forscher am MPI, dass Kinder die Prosodie – die Sprachmelodie – als Ausgangspunkt zum Erlernen ihrer ersten Wörter benutzen.

Wenn wir unsere Muttersprache hören, haben wir den Eindruck, dass zwischen gesprochenen Wörtern ähnliche „Leerzeichen“, also Pausen sind wie zwischen geschriebenen Wörtern. Schaut man sich jedoch das physische Sprachsignal an, merkt man, dass dies eine Illusion ist. Beim Hören einer Fremdsprache verschwindet diese Illusion dann auch: Man hört eine lange Kette von Lauten und kann keine einzelnen Wörter erkennen. Ein Grund für diesen Zusammenbruch der „Wort-Segmentierung“ – das Aufspalten eines Satzes in seine ihn konstituierenden Wörter – liegt darin, dass in jeder Sprache andere probabilistische Regeln die Segmentierung erleichtern. Im Niederländischen zum Beispiel beginnen die meisten Wörtern wie im Deutschen und Englischen mit einer betonten Silbe. Im Französischen hingegen gibt es keine Betonung auf der Wortebene und im Polnischen werden alle Wörter auf der vorletzten Silbe betont. Sprecher des Deutschen und des Niederländischen haben die Neigung, betonte Silben als Wortanfänge zu hören. Das erleichtert die Segmentierung in diesen Sprachen, ist aber im Französischen oder Polnischen nicht hilfreich. Aus der Tatsache, dass die Regeln zur Wort-Segmentierung in jeder Sprache unterschiedlich sind, folgt die Notwendigkeit, die Regeln der eigenen Sprache zu lernen. Ein Deutsch lernendes Kind kann schließlich nicht davon ausgehen, dass in der zu erlernenden Sprache betonte Silben meist am Wortanfang sind. Unser hypothetisches Kind könnte nämlich ebenso gut Polnisch lernen, und in diesem Fall wäre es nicht sinnvoll davon auszugehen, dass die meisten Wörter mit einer betonten Silbe beginnen. Wie lernen Kinder also die Regeln ihrer Muttersprache?

Am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik beschäftigt sich ein Team von Wissenschaftlern seit mehreren Jahren mit dieser Frage. Mit der Hilfe von Verhaltensexperimenten sowie elektrophysiologischen Messungen konnten sie herausfinden, dass Kinder zwischen sieben und neun Monaten schon in der Lage sind, einzelne Wörter ihrer Muttersprache zu erkennen. Das ist lange bevor die Kinder selbst beginnen zu sprechen. Diese erstaunlich frühe Erkennungsleistung könnte man mit der Annahme erklären, dass Eltern ihre Kinder bewusst mit Ein-Wort-Sätzen ansprechen, um ihnen so deutlich zu machen, wie einzelne Wörtern klingen und wo sie anfangen und aufhören. Eine Korpusstudie hat jedoch gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Joost van der Weijer konnte zeigen, dass, wenn man ritualisierte Grüße sowie „ja“- und „nein“-Antworten außer Acht lässt, nur 7 Prozent der an Kinder gerichteten Sprache aus Ein-Wort-Sätzen besteht und manche häufig vorkommenden Wörter wie grammatische Artikel nie in Isolation vorkommen. In einer am MPI für Psycholinguistik durchgeführten Studie zeigte sich, dass Erwachsene auch dann keine Ein-Wort-Sätze produzieren, wenn sie im Labor explizit aufgefordert werden, ihr Kind ein Wort zu lehren. Daraus folgt, dass Kinder mithilfe anderer Strategien in der Lage sein müssen, Wörter zu segmentieren, auch wenn sie sie nicht in Ein-Wort-Sätzen hören.

Einen Grundwortschatz aufbauen mit Hilfe von Übergangswahrscheinlichkeiten

Verschiedene Möglichkeiten sind in der Literatur vorgeschlagen worden. Eine vielversprechende Strategie ist das Lernen von Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Silben. Diese Strategie könnte deshalb funktionieren, weil die Silben, die ein Wort konstituieren, häufiger miteinander auftreten als Silben unterschiedlicher Wörter. Auch ohne Wortkenntnis kann man davon ausgehen, dass „sil“ und „ben“ im vorherigen Satz zusammen ein Wort formen und „als“ nicht zu diesem Wort gehört. Denn auf „als“ können viele andere Silben folgen, während auf „sil“ relativ häufig „ben“ folgt. Auf der Basis dieses statistischen Lernens können Kinder einen Grundwortschatz aufbauen und mit der Hilfe von diesem lernen, dass in der zu lernenden Sprache betonte Silben meist einen Wortanfang markieren. So kann man erklären, dass die 9-monatigen Niederländisch lernenden Kinder in den Studien die Wortbetonung gebrauchen, um Wörter aus einem Satz zu segmentieren.

Empirische Evidenz für Übergangswahrscheinlichkeiten

Zwei Arten von empirischer Evidenz sprechen für diese Erklärung: An Hand des von van der Weijer zusammengestellten Korpus der an Babies gerichteten Sprache konnte Dan Swingley – ebenfalls ein Mitglied der Gruppe um Anne Cutler – zeigen, dass die Strategie des statistischen Lernens in der Tat erfolgreich sein kann. Wortgrenzen gehen meistens einher mit einer niedrigern Silben-Übergangswahrscheinlichkeit [1]. Um diese Information jedoch zu nutzen, müssen Kinder die Übergangswahrscheinlichkeiten erst extrahieren, sie speichern, und dann auch tatsächlich in der Sprachwahrnehmung anwenden. Doch auch hierfür gibt es empirische Evidenz. In einer wichtigen Studie boten Jenny Saffran und ihre Kollegen von der University of Rochester 8-Monate alten Kindern eine künstliche Sprache an, die aus vier dreisilbigen Wörtern bestand [2]. Obwohl diese Sprache den Kindern nur zwei Minuten lang ohne Intonation und Pausen angeboten wurde und somit die Übergangswahrscheinlichkeiten die einzige Informationsquelle waren, zeigten die Kinder später eine Präferenz für Stimuli mit neuen Wörtern. Das zeigt, dass sie die „alten“ Wörter aus der künstlichen Sprache schon kennen und jetzt weniger interessant finden. Dieses Ergebnis wurde in anderen Studien häufig repliziert, auch wenn die künstlichen Sprachen aus zweisilbigen Wörtern bestehen. Insgesamt zeigt dies, dass die sprachunabhängige Strategie des statistischen Lernens von Übergangswahrscheinlichkeiten ein möglicher Ausgangspunkt für Kinder ist, um das Wortsegmentationsproblem zu lösen.

Berechtigte Zweifel

Einige Fragen bleiben jedoch unbeantwortet. So sind die künstlichen Sprachen in solchen Studien sehr einfach, denn sie bestehen aus einer kleinen Anzahl von Wörtern, die alle die gleiche Länge haben. Zusammen mit Michael Tyler (jetzt an der University of Western Sydney) haben die Wissenschaftler einen ersten Versuch unternommen, statistisches Lernen in einer etwas komplexeren Sprache zu finden. Zunächst haben sie die früheren Studien repliziert. 6- und 8-Monate alte Kinder waren in der Lage, die Wörter einer künstlichen Sprache zu lernen, die aus vier gleich langen Wörtern bestand. Dann haben sie die Struktur der künstlichen Sprache der einer „echten“ Sprache angenähert, indem sie sie aus zwei zweisilbigen und zwei dreisilbigen Wörtern kreierten. Nun zeigten überraschenderweise weder 6- noch 8-Monate alte Kinder Anzeichen dafür, dass sie die Wörter dieser nur minimal komplexeren Sprache gelernt hatten, obwohl die Übergangswahrscheinlichkeiten auch hier sehr gute Hinweise auf die Wörter der Sprache geben. Die Wissenschaftler interpretieren dieses Ergebnis als Hinweis, dass Kinder weniger gut in der Lage sind, Übergangswahrscheinlichkeiten zu berechnen, als die informationstheoretischen Analysen, beispielsweise in der Studie von Dan Swingley, voraussetzen. Diese basieren nämlich auf einer Computer-gestützten Analyse des "symbolischen" Inputs – also einer Textversion des Inputs und nicht des akustischen Signals selbst. Damit überschätzen diese Analysen vermutlich die Wahrnehmungskompetenz eines 7- bis 10-Monate alten Kindes. Wenn das so ist, wären Übergangswahrscheinlichkeiten kein guter Ausgangspunkt, um die überraschenden Fähigkeiten sehr junger Kinder in der Sprachsegmentierung zu erklären.

Die Bedeutung der Sprachmelodie

Wenn jedoch Übergangswahrscheinlichkeiten keine Erklärung bieten, was dann? Die Sprachmelodie ist ein anderer möglicher Ausgangspunkt. Diese Möglichkeit verfolgt das Team am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Die Sprachmelodie markiert, wo Sätze und Teile von Sätzen (wie Nominalphrasen) beginnen und enden. Die Forschungen haben gezeigt, dass Kinder sich sehr früh auf die Sprachmelodie der Muttersprache richten und damit das Sprachsignal in die linguistisch relevanten Teile aufspalten [3; 4]. Auf dieser Basis könnte dann auch das Wortsegmentierungsproblem gelöst werden.

Beteiligte Wissenschaftler: Elizabeth Johnson, Joost van der Weijer, Dan Swingley, Michael Tyler, Anne Cutler

Originalveröffentlichungen

Swingley, D.:
Statistical clustering and the contents of the infant vocabulary.
Cognitive Psychology 50, 86-132 (2005).
Saffran, J.R., Aslin, R.N., Newport, E.L.:
Statistical learning by 8-month old infants.
Science 274, 1926-1928 (1996).
Seidl, A., Johnson, E.:
Infant word segmentation: Edge alignment facilitates target extraction..
Developmental Science 9, 566-574 (2006).
Johnson, E.K., Jusczyk, P.W.:
Word segmentation by 8-month-olds: When speech cues count more than statistics.
Journal of Memory and Language 44, 1-20 (2001).
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