Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Die Reform des niederländischen Systems der Krankenversicherung

Autoren
Walser, Christina
Abteilungen
Zusammenfassung
Die Anfang 2006 in Kraft getretene Reform der niederländischen Krankenversicherung war Thema eines Forschungsprojektes am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, ob sich das niederländische System auf das deutsche Recht übertragen lässt. Ein Schwerpunkt der Untersuchung lag auf den aus deutscher Perspektive wichtigen Gebieten der Wettbewerbsstärkung und der Finanzierung.

Kennzeichnend für die Reform des niederländischen Systems der Krankenversicherung ist die Vereinheitlichung des in gesetzliche und private Krankenversicherung aufgeteilten Systems. Sie beinhaltet aber auch Wettbewerbs- und Finanzierungselemente. Die der Reform zugrunde liegende Diskussion begann bereits in den achtziger Jahren, und die damaligen Überlegungen, die vor allem die Etablierung einer Einheitsversicherung betrafen, finden sich auch in der aktuellen Reform wieder.

Das Erfordernis einer solchen Reform ergibt sich im Wesentlichen aus zwei Umständen: Die Kosten der Gesundheitssysteme in den Niederlanden steigen fortwährend. Einzelne gesetzgeberische Maßnahmen konnten diese Entwicklung lediglich kurzfristig aufhalten, führten aber nicht zu einer andauernden Kostenstabilität. Insofern hatten die neuen Regelungen keine System verändernden Wirkungen. Zurückzuführen sind diese Tendenzen zum einen auf den technischen Fortschritt der medizinischen Versorgung und zum anderen auf die demografische Entwicklung, die das Verhältnis der Beiträge zu den Kosten beeinflussen und so zu finanziellen Problemen von beitragsgestützten Versicherungssystemen führen kann.

Die Notwendigkeit einer Reform aus den genannten Gründen besteht ebenso in Deutschland, daher bietet sich eine nähere Untersuchung der in den Niederlanden gefundenen Lösungswege an. Dafür sprechen auch die ähnlichen Grundstrukturen der Krankenversicherungssysteme beider Länder. Gesetzliche und private Krankenversicherung bestehen nebeneinander, ein wesentlicher Anteil der Gesamtkosten wird durch einkommensabhängige Beiträge finanziert und grundsätzlich werden die versicherten Leistungen entsprechend dem Sachleistungssystem erbracht. Schließlich hat auch die zeitliche Abfolge der Reformdiskussion bewirkt, dass sich eine nähere Betrachtung des Lösungswegs, den die Niederländer mit ihrem neuen Krankenversicherungsgesetz beschritten haben, geradezu aufdrängt.

Vorgeschichte der Reform

Der aktuellen Reform in den Niederlanden sind erhebliche Vorarbeiten vorangegangen. Die Reformdiskussion hat ihre Wurzeln in den achtziger Jahren, als ein Gesetzentwurf für eine einheitliche Basisversicherung, die gesetzliche und private Krankenversicherung zusammenfasst, veröffentlicht wurde. Zu einem Gesetz kam es damals aber aufgrund starker Widerstände, insbesondere der betroffenen Interessenverbände, nicht. Den unmittelbaren Anstoß für die aktuelle Reform gab der Bericht des Sociaal economische Raad (Sozial-ökonomischer Rat mit Vertretern der Arbeitgeber, Arbeitnehmern und neutraler Experten) aus dem Jahr 2000, der eine umfassende Untersuchung der Reformbedürftigkeit des damaligen Krankenversicherungssystems enthält. Auf dieser Grundlage wurde der Bericht „Vraag aan bod“ (Vorrang für die Nachfrage) ausgearbeitet, der für die aufgeworfenen Fragen Lösungsansätze enthält. Hierin ist schon ein wesentlicher Teil der neuen Elemente angesprochen: gesetzliche und private Krankenversicherung sollen vereinheitlicht, der pauschale Anteil der Versicherungsprämie gestärkt und der Wettbewerb im Gesundheitswesen intensiver gefördert werden. Am 1. Januar 2006 ist das neue Krankenversicherungsgesetz (Zorgverzekeringswet, Zvw) in Kraft getreten.

Inhalt der Reform

Das reformierte System der Krankenversicherung in den Niederlanden fußt auf dem Gedanken des einheitlichen Basisschutzes der gesamten Bevölkerung vor den finanziellen Folgen des Risikos Krankheit. Die wesentlichen Elemente sind:

– verpflichtende und einheitliche Krankenversicherung für alle Einwohner der Niederlande;
– private Versicherungsunternehmen als Träger der Krankenversicherung;
– hoheitlich festgesetztes Leistungspaket;
– Kontrahierungszwang der Krankenversicherungsunternehmen;
– pauschale Prämie, die von den einzelnen Krankenversicherungen festgesetzt wird;
– einkommensabhängiger Beitrag, der hoheitlich vorgegeben wird;
– morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich;
– verstärkte Wettbewerbselemente.

Das System wurde also in Richtung auf eine verstärkte Wettbewerbsorientierung grundlegend erneuert. Träger der neuen Krankenversicherung sind private Versicherungsunternehmen, durch die man sich im Gegensatz zu einer öffentlich-rechtlichen Trägerschaft ein erhöhtes Maß an Flexibilität erhofft. Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür wurden geschaffen, indem man den Versicherungsunternehmen die Möglichkeit eingeräumt hat, unterschiedlich hohe Prämien festzusetzen und sich so von konkurrierenden Unternehmen zu unterscheiden. Auch im Rahmen von Selbstbehalten, Zuzahlungen, Rückerstattungen und Gruppenverträgen gibt es verschiedenste Gestaltungsmöglichkeiten, die bis zur Wahl der Leistungsart, also Sachleistung, Kostenerstattung oder einer Kombination von beidem, reichen. Um eine Mindestsicherung zu gewährleisten, ist lediglich der Inhalt der Versorgung durch die Basisversicherung gesetzlich vorgeschrieben. Dagegen steht es den Versicherungen frei, Zusatzversicherungen anzubieten, die nicht den inhaltlichen Beschränkungen der Basisversicherung unterliegen. Die Zusatzversicherungen dürfen nach dem Krankenversicherungsgesetz aber nicht an den Abschluss einer Basisversicherung gekoppelt werden. Tatsächlich jedoch sieht eine Vielzahl von Versicherungsverträgen genau diese Verbindung vor, wogegen die niederländische Wettbewerbsbehörde einzuschreiten beabsichtigt. Der Anreiz für die Versicherungen, die gesetzlich eröffneten Unterscheidungsmöglichkeiten zur Wettbewerbsstärkung auch zu nutzen, findet sich in der Gewinnerzielung, die ihnen anders als den gesetzlichen Krankenkassen vor der Reform gestattet ist.

Um diese verhältnismäßig weitreichenden Freiheiten der Krankenversicherungsunternehmen auszugleichen und den sozialen Charakter der Krankenversicherung zu gewährleisten, sind öffentlich-rechtliche Rahmenvorgaben eingeführt worden. So müssen die Versicherungsunternehmen allen interessierten Versicherungspflichtigen eine Basisversicherung anbieten. Dieser Kontrahierungszwang gilt aber nicht für Zusatzversicherungen. Insbesondere ist es den Krankenversicherungen nicht erlaubt, ihr Vertragsangebot oder die Höhe der Prämie vom Gesundheitszustand der Versicherten abhängig zu machen. Andererseits besteht für alle Einwohner der Niederlande Versicherungspflicht. Um sicherzustellen, dass tatsächlich alle eine Krankenversicherung abschließen, gibt es nicht allein die gesetzliche Verpflichtung: darüber hinaus droht bei einem Verstoß noch ein Bußgeld. Die gravierendste Folge bei Zuwiderhandlung stellt aber der fehlende Versicherungsschutz dar, denn eventuell anfallende Kosten für Gesundheitsleistungen muss der Nichtversicherte selbst tragen. Eine weitere hoheitliche Anforderung ist die bereits angesprochene gesetzliche Fixierung des Basisleistungspakets, die für alle Krankenversicherungen verbindlich ist, sowie der ebenfalls staatlich festgesetzte einkommensabhängige Beitrag zur Krankenversicherung.

Zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben des neuen Krankenversicherungsgesetzes und zur Kontrolle des Wettbewerbs im Gesundheitsbereich ist eine neue Behörde errichtet worden. Dadurch wird die Aufsicht, die bislang in der Zuständigkeit verschiedener Institutionen lag, vereinheitlicht.

Die Reform in der Forschung

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht hat sich in verschiedenen Projekten und Untersuchungen mit der niederländischen Reform des Krankenversicherungssystems befasst und so die Reform aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.

Systematisierung einzelner Reformvorhaben

Als Grundlage der weiteren Forschungstätigkeit wurden zunächst einzelne Reformmaßnahmen, die dem Krankenversicherungsgesetz vorangegangen sind, aber Auswirkungen auf das neue System haben, untersucht und in einem übergeordneten Gesamtkonzept zusammengefasst. Zu diesen vorgängigen Reformschritten zählt, dass man Leistungen aus der niederländischen Pflegeversicherung der privaten Verantwortung des Einzelnen überlassen oder in die gesetzliche Krankenversicherung überführt hat. Das hat die inhaltliche Reichweite der anschließenden Reform vergrößert. Des Weiteren sollten verfahrensrechtliche Maßnahmen zur Anpassung der Pflegeversicherung an die Krankenversicherung eine eventuelle Integration der Pflegeversicherung in die neue Krankenversicherung erleichtern. Zu diesem Zeitpunkt fand bereits eine Auseinandersetzung mit der Frage statt, inwieweit das niederländische Reformvorhaben auf das deutsche System der Krankenversicherung übertragbar sei. Nach Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes wurde diese Fragestellung vertieft.

Untersuchung der Kernelemente

Die daran anschließende inhaltliche Analyse der Reform arbeitete die Kernelemente heraus: Einheitlichkeit, Privatisierung, Basisleistungspaket, Kontrahierungszwang, pauschale Prämie neben einkommensabhängigem Beitrag und Stärkung der Wettbewerbselemente. Ein Schwerpunkt der Untersuchung lag auf dem besonders relevanten Bereich des Wettbewerbs: Zwischen welchen Beteiligten und in welcher Weise ermöglicht die Reform Wettbewerb? Und wie ist der rechtliche Rahmen, der eine Steuerung des Wettbewerbs in diesem Bereich zulässt, gestaltet? Durch die oben genannten Flexibilisierungsmaßnahmen wird Wettbewerb vor allem zwischen den Krankenversicherungen, weniger im Verhältnis zu den Leistungserbringern, ermöglicht. Demgegenüber stehen normative Vorgaben, wie etwa der Annahmezwang oder das Basisleistungspaket, die ihm rechtliche Grenzen setzen. Auch die neu errichtete, ausschließlich für den Gesundheitsbereich zuständige Wettbewerbsbehörde trägt durch ihre Kontrollfunktion zur Wettbewerbssteuerung bei.

Ist die niederländische Reform auf das deutsche System übertragbar?

Unter dieser Fragestellung haben die Forscher sowohl das Finanzierungsmodell, also die parallele Finanzierung in Form eines einkommensabhängigen Beitrags und einer pauschalen Prämie, als auch die allgemeine Versicherungspflicht und die Organisation der neuen Basisversicherung durch eine einheitliche Struktur und durch private Versicherungsunternehmen geprüft. Mögliche verfassungsrechtliche Probleme, die einer Einführung der genannten Elemente in das deutsche Krankenversicherungssystem entgegenstehen, liegen im Bereich der Gesetzgebungskompetenz.
Die Umformung des deutschen Systems nach niederländischem Muster – das lässt sich als Ergebnis festhalten – wäre zwar nicht unmöglich, würde aber doch auf erhebliche rechtliche Schwierigkeiten stoßen. Das liegt nicht zuletzt an den unterschiedlichen Ausgangslagen in beiden Ländern, man denke beispielsweise an die Position der privaten Krankenversicherungen.

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