Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Ökonomik (1993 bis 2014)

Experimentelle Studien zur Überprüfung der Theorie der Anspruchserfüllung (Satisficing)

Experimental studies to verify the satisficing theory

Autoren
Güth, Werner; Steiger, Eva-Maria
Abteilungen

Strategische Interaktion (Prof. Dr. Werner Güth)
MPI für Ökonomik, Jena

Zusammenfassung
Die zentrale Idee in der Theorie des eingeschränkt rationalen Entscheidens ist das Anspruchserfüllungskonzept mit seinen drei Bausteinen Anspruchsbildung, Anspruchserfüllung und Anspruchsanpassung. Dieser Ansatz lässt jedoch ohne Einschränkungen kaum Schlussfolgerungen und informative Vorhersagen über menschliches Entscheidungsverhalten zu. Das Forschungsprojekt verzichtet bei dem Versuch, diesen Mangel zu beheben, bewusst auf theoretische Verallgemeinerungen, ist dafür aber eng verknüpft mit parallelen experimentellen Studien.
Summary
The satisficing approach with its three constituent processes, aspiration formation, satisficing, and aspiration adjustment, is formally elaborated for a specific class of portfolio selection tasks. It is partly poorly confirmed by experimental data, indicating that bounded rationality requires teaching or, respectively, consulting, and learning.

Die Anspruchserfüllungshypothese als zentrale Idee in der Theorie eingeschränkt rationalen Entscheidens [1, 2] wird oft auf Situationen mit multiplen Zielen angewendet. Zum Beispiel wird man beim Hauskauf Ansprüche an Lage, Größe, Aussehen und Preis des Hauses haben. Die gleichzeitige Maximierung aller Ansprüche ist jedoch meist nicht möglich. Die Anspruchserfüllungshypothese besagt, dass für alle Zustände der Welt die ausgewählte Alternative anspruchserfüllend ist. In diesem Fall sollte also das Haus zum Beispiel im Grünen liegen, zumindest fünf Personen Platz bieten, einen Wintergarten haben und nicht über 350.000 Euro kosten sollte. Die Anspruchserfüllungshypothese unterscheidet sich sowohl von der Rationalitätshypothese als auch vom tatsächlich beobachtbaren Verhalten. Die Rationalitätshypothese beschreibt den Menschen als homo oeconomicus, der durch die korrekte Auswahl einer Handlungsalternative, die seine eindeutigen Präferenzen widerspiegelt, fähig ist, die Konsequenzen seiner Handlungen genau zu bewerten und seinen Nutzen zu maximieren. Dabei vernachlässigt die Rationalitätshypothese die beschränkten kognitiven Fähigkeiten sowie die Notwendigkeit zur sparsamen Verwendung mentaler Ressourcen. Letzteres kann sich als nicht situationsadäquat erweisen, etwa aufgrund einer unangemessenen Einschätzung der tatsächlichen Entscheidungssituation oder emotionaler statt wohlüberlegter Reaktionen.

In Rahmen eines Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für Ökonomik wurden experimentell solche Entscheidungsszenarien untersucht, die auf ein Ziel hin ausgerichtet sind, nämlich den finanziellen Erfolg einer Investitionsentscheidung. Wird typischerweise angenommen, dass sich erst im Verlauf des Entscheidungsprozesses alle Entscheidungsalternativen eröffnen, werden die Versuchsteilnehmer von vornherein über ihren Entscheidungsraum informiert. Da dieser sehr umfangreich ist, werden sie sukzessiv Entscheidungsalternativen generieren und diese auf ihre Anspruchserfüllung prüfen. Bei Nichterfüllung können sie entweder ihre Suche fortsetzen oder aber durch Anspruchsanpassung versuchen, die Anspruchserfüllung zu erleichtern.

Bei den durchgeführten Experimenten handelt es sich um eine spezielle Klasse von Entscheidungsproblemen ohne strategische Interaktion. Entscheider können einen Kredit aufnehmen, den sie wahlweise in eine fest verzinsliche Anlage (Bond) und in eine oder mehrere riskante Optionen (Aktien) investieren können, deren Rückzahlungswerte vom zufällig bestimmten Zustand abhängen. Da annahmegemäß die Zustände von schlechtestmöglich bis bestmöglich geordnet sind, werden in der theoretischen (experimentellen) Analyse zustandsspezifische Gewinnansprüche unterstellt (erhoben), die den – unter Umständen leeren – Bereich zufrieden stellender Portfolios definieren. Eine Besonderheit des hier verfolgten Ansatzes besteht darin, dass eine Rangordnung von Ansprüchen beziehungsweise eine Anspruchsleiter nicht unterschiedlich anspruchsvolle Zielerreichungsgrade für ein und dieselbe Situation spezifiziert, sondern für unterschiedlich günstige Zustände der Welt in einer stochastischen Entscheidungssituation. Die ausgewählte Alternative sollte daher die Ansprüche in allen Zuständen der Welt erfüllen. Es ist zwar relativ einfach, für eine vorgegebene Entscheidungsalternative zu prüfen, ob sie anspruchserfüllend ist oder nicht, aber je nach Komplexität der Situation (zum Beispiel gemessen an der Anzahl der Zustände) ist es durchaus mehr oder minder schwierig festzustellen, ob Anspruchserfüllung überhaupt möglich ist. Lediglich bei der Anspruchsbildung ist zu berücksichtigen, dass hohe Ansprüche in schlechten Zuständen ehrgeizigere Ansprüche für bessere Zustände der Welt ausschließen können.

Die Regeln des Experiments

Im Experiment unterstellen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Ökonomik zwei mögliche Zustände und analysierten die einfachste Situation, in der ein zinsloser Kredit in Höhe von e in einen risikolosen Bond mit Rückzahlungsquote r=1.1 und in eine Aktie mit zustandsabhängigen Rückzahlungsquoten l=.8 im schlechten und h=1.6 im guten Zustand investiert werden kann [3]. Nach Angabe von Ansprüchen A1 für Zustand 1 und A2 für Zustand 2 konnten die Teilnehmer frei über die Aufteilung des zinsfreien Kredits entscheiden. Im Folgenden ist i2 die riskante Investition und i1 der Betrag, der in den risikolosen Bond investiert wird. Nach der Investitionsentscheidung wurden die Teilnehmer gefragt, ab welcher Wahrscheinlichkeit p für den besseren (zweiten) Zustand sie von der i2 = 0, das heißt i1 = e – Entscheidung auf die i2 = e – Entscheidung umschwenken würden, wenn ihnen nur diese beiden Alternativen offenstehen. Die Teilnehmer spielten über siebzehn Runden, von denen am Ende eine zufällig ausgewählte Runde bezahlt wurde, um Diversifikation über die Zeit auszuschließen.

Dieser Aufbau wurde in darauffolgenden experimentellen Studien erweitert und variiert. Verschiedene Experimentdesigns erhöhten durch einen zusätzlichen Bond die Komplexität der Entscheidungssituation. Hier konnten die Teilnehmer ihre Investition zwischen dem risikolosen und zwei risikobehafteten Bonds aufteilen. In einem weiteren Experiment [4] erhielten die Teilnehmer die Möglichkeit, sich im Sinne der rationalen Nutzenmaximierung oder aber im Sinne der Anspruchserfüllung zu entscheiden. Schließlich wurde die Absorbierbarkeit der Anspruchserfüllung experimentell überprüft, indem man die Teilnehmer zunächst die Anspruchserfüllungsroutine anwenden ließ und es ihnen danach freistellte, hierauf zurückzugreifen [5].

Ergebnisse und Ausblick

Die Ergebnisse der Studien bestätigen die Absorbierbarkeit der Anspruchserfüllung in der einfacheren Version (mit zwei Bonds). Doch führt bereits ein zusätzlicher Bond dazu, dass nur wenige Entscheidungen mit dem Konzept der Anspruchserfüllung vereinbar sind. Im direkten Vergleich ziehen 62 Prozent der Versuchsteilnehmer das rationale Entscheidungskonzept der Anspruchserfüllung vor (38 Prozent). Aber auch hier wird die Anwendung mit steigender Komplexität schwieriger. In komplexen Entscheidungssituationen sollten Entscheider darauf verzichten, voll ausdifferenzierte Anspruchsleitern zu entwickeln, um so die Anzahl der linearen Anspruchsungleichungen bewältigbar klein zu halten.

Ohne Consulting, Lehren und Lernen ist der deskriptive Erfolg der von Simon entwickelten Theorie der Anspruchserfüllung weder überwältigend noch enttäuschend. Wie zu erwarten war, sind normative Theorie und eingeschränkte Rationalität qualitativ eng verknüpft: Anspruchsdaten und Nutzenparameter sind in der Regel hochkorreliert. Verglichen mit der Entscheidungsroutine „Optimalität“ (die Teilnehmer legen ihr Portfolio mittels Angabe eines Risikopräferenzparameters fest) weist die Anspruchserfüllungsroutine den Nachteil auf, entweder – bei unrealistischen Ansprüchen – keine Empfehlung geben zu können oder – bei realistischen Ansprüchen – meist keine eindeutige. Das mag der Optimalitätsroutine unter Umständen eine größere Attraktivität verliehen haben, als ihr in der Realität zukommt, wo einem niemand das optimale Portfolio für gegebene Risikopräferenzen ableitet. Im Vergleich dazu scheint die Prüfung der Konsistenz weniger Anspruchsbedingungen durch die Entscheider selbst eher vorstellbar, aber keineswegs trivial. Für eine gegebene Investitionsalternative ist diese Prüfung recht einfach, während die Prüfung, ob es überhaupt zufrieden stellende Portfolios gibt, sich als schwierig erweisen kann.

Erfreulich ist die Tatsache, dass Anspruchsbildung, -erfüllung und -anpassung durchaus auf individuellen Charakteristika zu beruhen scheinen, die sich in vielen Entscheidungssituationen als stabil erweisen. Diese aufgabenübergreifende Anspruchserfüllung lässt es realistisch erscheinen, das individuelle Verhalten in neuartigen Situationen aufgrund vorheriger Beobachtungen in mehr oder minder (un-)ähnlichen Situationen vorhersagen zu können. Ähnlich wie für die normative Entscheidungstheorie ist die völlige Konstanz individueller Verhaltenscharakteristik zwar eine Illusion, ebenso aber auch der Albtraum reiner Kasuistik.

Die Absorbierbarkeit der Anspruchserfüllung zeigte zwar keinen durchschlagenden Erfolg (viele Teilnehmer zogen es vor, frei ihr Portfolio auszuwählen), war aber auch keinesfalls deprimierend. Insbesondere ist es möglich, dass die späteren freien Entscheidungen sehr durch die Erfahrungen mit der Anspruchserfüllungsroutine geprägt sind.

Die hier vorgestellten Studien sind nur ein Teil der Bemühungen, die Theorie der Anspruchserfüllung zu mathematisieren und damit anwendbar(er) zu machen und auf empirische, meist experimentelle, Befunde gestützt weiterzuentwickeln. Andere Studien [6] beschäftigen sich mit Suchproblemen und mit experimentellen Ideen, hierfür Anspruchsbildung, Anspruchserfüllung beziehungsweise Anspruchsanpassung beobachtbar zu gestalten. Darüber hinaus sollen vor allem strategische Interaktionssituationen betrachtet werden [1], wobei sich durchaus Anknüpfungspunkte an frühere Forschung ergeben.

Originalveröffentlichungen

S. Berninghaus, W. Güth, M.V. Levati, J. Qiu:
Satisficing in sales competition: experimental evidence.
Discussion Paper on Strategic Interaction #32-2006. Max Planck Institute of Economics Jena (2006).
H. Simon:
A behavioral model of rational choice.
Quarterly Journal of Economics 69, 99–118 (1955).
G. Fellner, W. Güth, and B. Maciejovsky:
Satisficing in Financial Decision Making – A Theoretical and Experimental Attempt to Explore Bounded Rationality.
Discussion Paper on Strategic Interaction #23-2005, Max Planck Institute of Economics Jena (2005).
G. Fellner, W. Güth, E. Martin:
Satisficing or Optimizing – An Experimental Study.
Discussion Paper on Strategic Interaction #11-2006. Max Planck Institute of Economics Jena (2006).
W. Güth, , V. Levati, and M. Ploner:
Is Satisficing Absorbable? An Experimental Study.
Discussion Paper on Strategic Interaction #10-2006. Max Planck Institute of Economics Jena (2006).
W. Güth, E. Martin, and T. Weiland:
Aspiration formation and satisficing in isolated and competitive search.
Discussion Paper on Strategic Interaction #26-2006. Max Planck Institute of Economics Jena (2006).
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