Jungen werden immer früher geschlechtsreif

Lebensphase zwischen körperlichem und sozialem Erwachsenwerden verlängert sich

18. August 2011

Jungen werden immer früher körperlich erwachsen. Seit mindestens Mitte des 18. Jahrhunderts ist das Alter ihrer Geschlechtsreife um etwa 2,5 Monate pro Jahrzehnt gefallen. Diesen bisher schwer belegbaren Trend wies Joshua Goldstein, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock (MPIDR), nun mittels Sterblichkeitsdaten nach. Damit scheint auch für Jungen zu gelten, was für Mädchen bereits bekannt war: Der Zeitraum, in dem junge Menschen zwar geschlechtsreif, aber sozial gesehen noch nicht erwachsen sind, wird immer länger.

„Jungen werden ebenso wie Mädchen wahrscheinlich deswegen früher geschlechtsreif, weil Ernährungs- und Gesundheitsbedingungen immer günstiger dafür werden“, sagt Demograf Joshua Goldstein. Medizinische Aufzeichnungen belegen zwar für Mädchen schon lange, dass die erste Menstruation immer eher stattfindet. Für Jungen existieren vergleichbare Daten aber nicht. Goldstein behob den Mangel nun mit demografischen Zahlen: Genau dann, wenn Jungen in der Pubertät am meisten Hormone produzieren, steigt auch ihre Wahrscheinlichkeit zu sterben sprunghaft an. Dieser so genannte „Accident Hump“ ist ein Phänomen, das es in fast allen Gesellschaften gibt und das statistisch gut erfasst ist (siehe Grafik).

Goldstein fand heraus, dass sich der Maximalwert des Accident Humps seit Mitte des 18. Jahrhunderts um etwa 2,5 Monate pro Jahrzehnt in Richtung jüngeren Alters verschoben hat – und damit auch die Geschlechtsreife der Jungen. (Das zeigen Daten für Schweden, Dänemark, Norwegen, Großbritannien und Italien. Ab 1950 ist die Datenlage nicht mehr eindeutig und deutet eine Stagnation an.) Das Maximum des Accident Humps liegt in der späten Phase der männlichen Pubertät, also nach Erreichen von Zeugungsfähigkeit und Stimmbruch.

Werden Jungen geschlechtsreif, leben sie riskanter und sterben häufiger

Zum Accident Hump, den es auch bei männlichen Affen gibt, kommt es, weil sich junge Männer zum Zeitpunkt größter Ausschüttung des Hormons Testosteron besonders riskant verhalten: Gefährliches Imponiergehabe, Unachtsamkeit und hohe Gewaltbereitschaft führen vermehrt zu tödlichen Unfällen. Zwar bleiben sie selten, dennoch steigt die Rate sprunghaft an (siehe Grafik).

"Ein heute 18-Jähriger ist körperlich so weit entwickelt wie ein 22-Jähriger um 1800“, sagt Joshua Goldstein. Grund dafür sei vor allem, dass die Menschen immer nahrhafter äßen und widerstandsfähiger gegen Krankheiten würden. Dass der Zeitpunkt der Geschlechtsreife sich verschiebt, scheint biologische Ursachen zu haben, nicht jedoch mit technischem Fortschritt oder sozialen Verhaltens-änderungen zusammen-zuhängen: So hatte es etwa keinen signifikanten Effekt auf die Daten des Accident Humps, als sich Autos oder Schusswaffen verbreiteten.

Die Veränderungen in der Geschlechtsreife lassen sich zwar nur indirekt über Sterblichkeitsdaten nachweisen. Dennoch betont Joshua Goldstein, wie wichtig ihre biologische Bedeutung ist: „Erstmals können Forscher nachvollziehen, wie Frauen und Männer auf dieselbe Weise auf Veränderungen in der Umwelt reagieren.“

Biologischer und sozialer Erwachsenenstatus driften auseinander

„Biologische und soziale Lebensphasen junger Menschen driften  immer stärker auseinander“, sagt Joshua Goldstein. „Während Jugendliche immer früher biologisch erwachsen werden, erreichen sie den sozialen Status des Erwachsenseins immer später.“ Das zeigt die Lebenslaufforschung: Seit gut einem halben Jahrhundert steigt das Alter, in dem junge Menschen heiraten, Kinder kriegen, ihre Karriere beginnen und finanziell unabhängig von den Eltern werden.

Damit verlängere sich nicht nur die Phase körperlichen Erwachsenseins, innerhalb derer junge Leute noch keine Kinder bekämen, sagt Joshua Goldstein. „Wichtige Entscheidungen im Lebenslauf werden mit immer größerem Abstand zur Sorglosigkeit der Jugend gefällt.“ Unklar sei, ob die „Hochrisikophase“ ihres Heranwachsens für junge Männer gefährlicher werde, weil sie sie früher durchleben, sagt der Demograf. Zwar seien Jungen im früheren Alter weniger mental und sozial gefestigt und dadurch eventuell gefährdeter. Andererseits stünden sie dann noch unter stärkerer Aufsicht der Eltern.

Über das MPIDR

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Von politikrelevanten Themen des demografischen Wandels wie Alterung, Geburtenverhalten oder der Verteilung der Arbeitszeit über den Lebenslauf bis hin zu evolutionsbiologischen und medizinischen Aspekten der Alterung. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt zu den internationalen Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.

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