Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung

Jetzt, bald, immer: Zeitskalen frontaler Integration

Autoren
Schubotz, Ricarda I.
Abteilungen

Kognition der Motorik (PD Dr. Ricarda Schubotz)
MPI für neurologische Forschung, Köln

Zusammenfassung
Antizipation – ob in Prognose oder Planung – geschieht auf unterschiedlichen Zeitskalen und wird uns auch ganz unterschiedlich stark bewusst. Neuere Befunde am MPI für neurologische Forschung sprechen für die Annahme, dass dem Frontalhirn eine zentrale Bedeutung für Antizipation im Allgemeinen zukommt. Studien legen insbesondere nahe, dass der Integration von einzelnen, einfachen in übergreifende, größere Zusammenhänge funktionell-anatomisch ein hierarchisches Organisationsprinzip zugrunde liegt. Dabei bleiben selbst sehr abstrakte Prognosen in „Tuchfühlung“ mit Regionen, die Erwartungen bei Bedarf auf Sekundenebene im Detail umsetzen.

Pläne und Prognosen

Manches Planen läuft automatisch ab und scheinbar ohne unser Zutun – etwa wenn wir den Weg zur Arbeit zurücklegen; ein anderes Mal zerbrechen wir uns schier den Kopf – sollen wir jetzt den Läufer oder doch besser den Bauern ziehen? Manche Pläne lenken unser Handeln wie im Stillen über lange Phasen hinweg, wenn wir etwa eine Berufsausbildung absolvieren, während andere Pläne – wie etwa beim Salto vom Dreimeterbrett – unsere ganze Konzentration fordern.

Eine für die Hirnforschung naheliegende Frage lautet, ob es sich bei diesen sehr verschieden anmutenden Arten der Planung um ein und dasselbe neuronale Phänomen handelt oder ob wir es mit grundsätzlich unterschiedlichen Mechanismen zu tun haben. Intuitiv scheint eine scharfe Grenze zwischen dem „motorischen“ Planen unserer Bewegungen und dem kognitiven „strategischen“ Planen zu verlaufen. Empirisch aber ist diese Grenze alles andere als eindeutig [1]. Planung, so zeichnet sich ab, scheint vielmehr eine kontinuierliche funktionelle Größe zu sein, und dabei spielt das Frontalhirn eine ganz besondere Rolle. Genauer gesagt ist die Intaktheit des Frontalhirns als Komponente in ausgedehnten Netzwerken für unsere Planungstätigkeiten unabdingbar. Welchen funktionellen Anteil steuert das Frontalhirn in diesen Netzwerken aber der Planung bei?

Eine Rolle für das Frontalhirn – aber welche?

Das Frontalhirn ist keine funktionell homogene Einheit (siehe Abb. 1 für die Einteilung in Brodmann Areale, BA [2]), und seine Rolle in Planung und Vorhersage mag in Wirklichkeit ein Bündel von ähnlichen, aber differenzierbaren Funktionen sein. Eine Herausforderung für die kognitiven Neurowissenschaften ist es nun, dieses Bündel verwandter Planungs- und Prognosefunktionen und ihre Organisationsweise zu untersuchen. Nach Robin und Holyoak [3] fungiert der präfrontale Cortex als System zur Schaffung und Aufrechterhaltung relationaler – also Zusammenhänge betreffender – Repräsentationen, welche unsere Gedanken und Handlungen leiten: A ist für B, was C für D ist; oder: jetzt mache ich X, dann Y.

Diese Beschreibung scheint jedoch nicht nur für den präfrontalen Cortex zu gelten, sondern sie zieht sich wie ein roter Faden von den anterioren, präfrontalen zu den posterioren, prämotorischen Anteilen des Frontallappens. So wird BA 10 [4] zitiert für die „Integration relationaler Repräsentationen“ [5] oder für die „kognitive Verästelung“ [6], also die Fähigkeit, ein größeres Ziel im Auge zu behalten, während man die dazugehörenden Zwischenziele schrittweise abarbeitet. Das direkt angrenzende BA 9 wird für Aufgaben gefunden, bei denen Probanden über die Kohärenz zweier aufeinanderfolgender Ereignisse oder zweier zusammengehöriger Aussagen urteilen sollen [7]. Hier geht es um die Integration einzelner Zusammenhänge, wie sie durch Ereignisse oder Sätze zum Ausdruck kommen, in übergeordnete, größere Zusammenhänge. Schließlich findet sich auch für das prämotorische Brodmann Areal 6, die hinterste Kolonie des Frontallappens, die Beschreibung, dass diese Region der Integration oder Verkettung einzelner perzeptueller oder motorischer Ereignisse in kompakte Sequenzen dient [8].

Man kann also zu der Annahme kommen, dass das Frontalhirn der Prognose in Handlungen wie Gedanken dient, dass es aber innerhalb des Frontalhirns einen funktionellen Trend gibt. Ausgehend von der Datenlage können zwei spezifische Annahmen formuliert werden: Zum einen, dass posteriore Regionen der Verarbeitung bzw. dem Speichern einfacher Relationen, anteriore aber der Verarbeitung bzw. Integration multipler Relationen dienen (im Folgenden kurz Prozess-Hypothese). Alternativ kann man aber auch postulieren, dass posteriore Regionen eher motorische Relationen, anteriore hingegen eher kognitive Relationen verarbeiten (Domänen-Hypothese). Diese Hypothesen wurden in mehreren Studien einer konkreten Prüfung unterzogen; vier dieser Studien sollen nachfolgend skizziert werden.

Experiment 1: Von einfacher Verkettung zur Regelkombination

Im ersten Experiment [9] wurden die aus der Intelligenzforschung bekannten Raven-Matrizen verwendet. Sie erfordern das Erkennen und Kombinieren von Regeln, die den Zusammenhang zwischen einigen Bildern bestimmen (Abb. 2). Hierbei wurden nun in einer experimentellen Aufgabe abstrakte Bilder verwendet, wie sie auch in der klassischen Raven-Variante zur Anwendung kommen, in einer anderen aber Fotos von Handlungen. Diese Unterscheidung von abstrakten und handlungsbezogenen Raven-Matrizen diente der Überprüfung der Domänen-Hypothese, wonach erstere BA 10, letztere BA 6 aktivieren sollten. Die Prozess-Hypothese wurde dagegen getestet, indem Raven-Matrizen verwendet wurden, die eine oder zwei Regeln implementieren. Hier war nun die Annahme, dass die Integration zweier Regeln BA 10, nicht aber BA 6 aktivieren sollte. Schließlich wurden noch sequentielle und nicht-sequentielle Regeln miteinander verglichen, erneut in der Annahme der Prozess-Hypothese, nach der BA 6 einfache sequentielle Regeln verarbeitet, nicht aber solche, die komplexeren Vorschriften folgen.

Die Ergebnisse bestätigten einen Anstieg der Aktivität in BA 10, nicht aber in BA 6, für 2-Regel-Matrizen im Vergleich zu 1-Regel-Matrizen, und damit die Prozess-Hypothese. Ebenso fand sich eine Korrelation der Hirnaktivität in BA 6, nicht aber in BA 10, mit sequentiellen Regeln. Hingegen sprachen die Daten nicht für die Domänen-Hypothese: das in den Matrizen verwendete Material spielte keine Rolle im Sinne eines Trends für abstrakte Relationen in weiter anterior gelegenen Regionen; im Gegenteil beanspruchten die konkreteren Handlungs-Matrizen etwas mehr präfrontale Strukturen.

Experiment 2: Hierarchische Komplexität

In einem zweiten Experiment wurde nun die direkt anschließende Annahme überprüft, dass es innerhalb des Frontallappens einen anterioren Trend gibt für hierarchisch komplexere Strukturen. Zu diesem Zweck lernten Versuchspersonen Ziffernsequenzen, die einer bestimmten Struktur folgten; dabei bildeten 2er-Stränge (z.B. 1-6) beispielsweise durch Dopplung je 4er-Stränge (1-6-1-6) und diese z.B. durch Inversion je 8er-Stränge (1-6-1-6-6-1-6-1), die wiederum z.B. durch Translation 16er-Stränge bildeten (1-6-1-6-6-1-6-1-4-7-4-7-7-4-7-4). Indem diese Gebilde nun systematisch zerlegt und von den Versuchspersonen neu gelernt werden mussten, legte das Maß an Zerlegung fest, bis zu welcher Ordnung auf früheres Sequenzwissen zurückgegriffen werden konnte. Durch diesen Trick war es möglich, den Erwerb unterschiedlicher Hierarchie-Ebenen zu differenzieren.

Die Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass ein Anstieg im Sinne hierarchischer Strukturen (hier: einer Zahlensequenz) mit einem anterioren Trend frontaler Aktivität einhergeht. So fand sich für die unterste Hierarchie-Ebene das frontale Operculum, für die oberste hingegen BA 9. Zugleich gab es aber auch in BA 6 einen signifikanten Anstieg für das Erlernen dieses obersten Struktur-Niveaus. Die Befunde verdeutlichen also, dass für höhere Integration weiter anterior gelegene Aspekte des Frontallappens zu solchen im posterioren hinzukommen; sie zeigen aber auch, dass es sich bei diesem Effekt um eine Ergänzung, nicht um eine exklusive Beteiligung handelt.

Experiment 3: Antizipation nach Verletzung des posterioren Frontalhirns?

In einer dritten Studie (Abb. 3) wurde der Prozess-Hypothese mit der Frage nachgegangen, ob prämotorische Regionen lediglich der Speicherung relationaler Information dienen, nicht aber der Prognose oder Planung, die auf dieses Wissen zurückgreift. Zu diesem Zweck wurden neurologische Patienten, die einen Infarkt mit posteriorer frontaler Beteiligung (BA 6) erlitten hatten, in zwei Aufgaben getestet. Die eine Aufgabe, eine serielle Prädiktion [10], erforderte das Erlernen von Sequenzen aus drei oder vier Ziffern und die Vorhersage weiterer Wiederholungen derselben Sequenzen. Damit verglichen wurde eine sogenannte n-Zurück-Aufgabe, bei der beurteilt werden soll, ob eine Ziffer identisch ist mit einer vorhergehenden. Beide Aufgaben erfordern ein Sequenzgedächtnis; im Gegensatz zur seriellen Prädiktion aber erfordert die n-Zurück-Aufgabe keine Prognose.

Die Patienten zeigten eine spezifische Beeinträchtigung in der seriellen Vorhersage, während sie mit der n-Zurück-Aufgabe keine Probleme hatten. Dagegen zeigte weder eine klinische noch eine gesunde Kontroll-Gruppe Beeinträchtigungen in der seriellen Vorhersage. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das posteriore Frontalhirn nicht nur für die Speicherung, sondern auch für die Vorhersage kausal relevant ist. Die Daten ergänzen die oben entwickelte Interpretation in wichtiger Hinsicht um die Erkenntnis, dass zwar eine Integration multipler Relationen zu einem anterioren Trend im Frontalhirn führt, im Hinblick auf die jeweils durchgeführten „Berechnungen“ jedoch kein prinzipieller Unterschied festzustellen ist.

Experiment 4: Generalisierte Prognose

Eine vierte Studie widmete sich der Frage frontaler Integrationsfunktion (Abb. 3). Im Alltag bestehen viele Prognosen in einer nicht-deterministischen Schätzung, welche Ereignisse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eintreffen: Wir wissen nicht, welches Auto an einer bestimmten Straßenkreuzung von rechts kommen wird, aber dass eines zu erwarten ist, dessen sind wir uns sicher. Prognosen basieren demnach oftmals auf der Klassifikation von Ereignissen, nicht so sehr auf einem detaillierten Mustervergleich. In einer fMRT-Studie (funktionelle Magnetresonanztomographie) gaben wir Versuchspersonen serielle Prädiktionsaufgaben. Diese erlaubten entweder eine deterministische Vorhersage kommender Reize (exakte Wiederholung von zuvor gesehenen Triplets), oder sie erforderten eine Klassifikation dieser Reize in Kategorien, welche zu bestimmten Zeitpunkten in der Sequenz zu erwarten waren (kategoriale Triplets).

Wie erwartet ergab sich für die kategoriale Vorhersage eine präfrontale Aktivierung, die zu der prämotorischen, die auch bei der deterministischen Vorhersage zu messen war, noch hinzukam. Auch diese Daten legen erneut nahe, dass integrative Anforderungen mit der zusätzlichen Rekrutierung präfrontaler Regionen einhergehen. Zugleich bekräftigen sie die Beobachtung, dass diese Aktivierungen die prämotorischen ergänzen, nicht ersetzen. Diese Befunde passen auch zu der Beobachtung, dass die Verletzung deterministischer, kurzfristiger Erwartung zu vorübergehender präfrontaler Aktivierung führt.

Frontale Funktionen kurz- und langfristiger Erwartung

Viele für uns hochrelevante Erwartungen – etwa in Sprache, Musik und Handlung – erfordern sowohl die exakte, schnelle, kurzfristige als auch die gröbere, längerfristige Prognose und Planung. Und so finden Pläne und Prognosen meist zugleich auf sehr unterschiedlichen, kontinuierlich ineinandergreifenden Zeitskalen statt. Vieles spricht dafür, dass Erwartungen in dem Sekundenfenster, das insbesondere für unsere eigenen Bewegungen so relevant ist, durch die posterioren (prämotorischen) Anteile des Frontallappens im Detail umgesetzt werden, aber von weiter anterior gelegenen (präfrontalen) Arealen in zunehmend längeren Zeitfenstern moduliert werden. Je weiter man nach anterior schaut, desto langsamer verändern sich die Zusammenhänge, die die Erwartung ermöglichen. Posterior beginnend (BA 6), geht es um die nächste Sekunde und Sekunden, dann kommen die klassischen Regionen des Arbeitsgedächtnisses (BA 9), und schließlich erreicht man Strukturen (obere BA 10), die mit den für uns beständigsten Zusammenhängen assoziiert sind: episodischen, logischen und kausalen. Am Ende (untere BA 10, BA 11) erreichen diese schließlich eine Integrationsstufe, die einem bewussten Zugang im Sinne eines vollständigen deliberativen Aufrufs aller Querverbindungen entgegensteht.

Originalveröffentlichungen

R. I. Schubotz:
Prediction of external events with our motor system: towards a new framework.
Trends in Cognitive Sciences 11, 211 – 218 (2007).
K. Brodmann:
Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund des Zellenbaues.
Barth, Leipzig, Germany (1909).
N. Robin, K. J. Holyoak:
Relational complexity and the functions of the prefrontal cortex.
The cognitive neurosciences (M. S. Gazzaniga, Hrsg.), 987 – 997, Cambridge, MA: MIT Press (1995).
N. Ramnani, A. M. Owen:
Anterior prefrontal cortex: Insights into function from anatomy and neuroimaging.
Nature Reviews Neuroscience 5, 184 – 194 (2004).
K. Christoff, V. Prabhakaran, J. Dorfman, Z. Zhao, J. K. Kroger, K. J. Holyoak, J. D. Gabrieli:
Rostrolateral prefrontal cortex involvement in relational integration during reasoning.
Neuroimage 14, 1136 – 1149 (2001).
E. Koechlin, G. Basso, P. Pietrini, S. Panzer, J. Grafman:
The role of the anterior prefrontal cortex in human cognition.
Nature 399, 148 – 151 (1999).
E. C. Ferstl, J. Neumann, C. Bogler, D. Y. von Cramon:
The extended language network: a meta-analysis of neuroimaging studies on text comprehension.
Human Brain Mapping 29, 581 – 593 (2008).
K. Shima, J. Tanji:
Neuronal activity in the supplementary and presupplementary motor areas for temporal organization of multiple movements.
Journal of Neurophysiology 84, 2148 – 2160 (2000).
M. Golde, D. Y. von Cramon, R. I. Schubotz:
Differential role of anterior prefrontal and premotor cortex in the processing of relational information.
Neuroimage 2009 Sep 18, Epub ahead of print.
R. I. Schubotz:
Instruction differentiates the processing of temporal and spatial sequential patterns: evidence from slow wave activity in humans.
Neuroscience Letters 265, 1 – 4 (1999).
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