Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

Molekulardynamik-Simulationen für Reaktionen in Lösung und in Enzymen

Autoren
Bühl, Michael; Thiel, Walter
Abteilungen

Theorie (Prof. Dr. Walter Thiel)
MPI für Kohlenforschung, Mülheim an der Ruhr

Zusammenfassung
Aktuelle Anwendungen molekulardynamischer Simulationen werden vorgestellt, die detaillierte Einblicke in die Dynamik chemischer Prozesse liefern. Die Beispiele umfassen Struktur und Dynamik von Vanadium- und Uran-Komplexen in wässriger Lösung sowie die Optimierung der Enantioselektivität einer Lipase-katalysierten Esterspaltung durch gerichtete Evolution.

Einleitung

Das virtuelle Labor, in dem alle chemischen Reaktionen vorausberechnet werden können, ist ein lange gehegter Traum der theoretischen Chemie. Mit den modernen Methoden der Quantenchemie ist es heute möglich, Strukturen und Eigenschaften kleiner und mittelgroßer Moleküle in der Gasphase mit beachtlicher Genauigkeit zu berechnen und vorherzusagen, manchmal sogar zuverlässiger als mittels Experimenten. Dies gilt auch für die Triebkraft chemischer Reaktionen zwischen diesen Molekülen. Diese Rechnungen werden meist für ausgewählte Punkte auf der Potenzial-Hyperfläche, d.h. für statische Moleküle durchgeführt.

Fragen nach dem genauen Verlauf chemischer Reaktionen in komplexen Gemischen sind mit solchen statischen Rechnungen allerdings kaum verlässlich zu beantworten. Dies gilt insbesondere für Umsetzungen in kondensierter Phase, wenn zusätzlich zu den Wechselwirkungen der eigentlichen Reaktionspartner noch jene mit oder innerhalb der Umgebung einzubeziehen sind, z. B. die Solvatation durch ein polares Lösungsmittel wie etwa Wasser oder die Dynamik des Peptidstrangs um das aktive Zentrum eines Enzyms. Naturgemäß hängen Effekte dieser Art stark von der Temperatur, d.h. der thermischen Bewegung der einzelnen Teilchen ab.

Diese Bewegungen lassen sich mit molekulardynamischen (MD-) Simulationen verfolgen, bei denen die zeitlichen Veränderungen eines Systems, ausgelöst durch die instantan auftretenden Kräfte zwischen den Atomen, explizit verfolgt werden. Auf diese Weise werden nicht nur einzelne Punkte auf der Energie-Hyperfläche erfasst, sondern alle relevanten Gebiete einschließlich der Reaktionspfade, die schlussendlich zu chemischen Umsätzen führen. Im Folgenden werden einige Anwendungen derartiger Simulationen exemplarisch beleuchtet.

Strukturen von Übergangsmetall-Komplexen in Lösung

Gemäß ihrer Bedeutung in der präparativen Chemie und der Biochemie sind Übergangsmetall-Komplexe Gegenstand intensiver theoretischer Untersuchungen. Die oftmals komplizierte elektronische Struktur dieser Verbindungen erfordert eine genaue, d.h. quantenchemische Beschreibung. Gegenwärtig sind mit entsprechenden Methoden nur relativ kurze MD-Simulationszeiten in der Größenordnung weniger Picosekunden möglich. In günstigen Fällen lassen sich aber bereits in solch kurzen Zeitfenstern spontane Prozesse beobachten, die wertvolle Schlüsse auf die Zusammensetzung und Struktur der realen Lösungen zulassen. Ein Beispiel hierfür sind Komplexe zwischen Vanadat(V) und Dipeptiden, die als Modellverbindungen für die Wechselwirkung zwischen diesem Metallfragment und Proteinen dienen. Obwohl experimentell gut untersucht, sind die Strukturen dieser Komplexe unter physiologischen Bedingungen, d.h. in wässriger Lösung bei pH 7, nicht gesichert. Ausgehend von einer plausiblen, neutralen Startstruktur mit sechsfacher Koordination um das Vanadium, verliert der prototypische Vanadat-Glycylglycin-Komplex während einer MD-Simulation in Wasser zunächst einen H2O-Liganden und dann ein Proton (siehe Kreis bzw. Pfeil in Abb. 1) an das umgebende Solvens. Diese raschen und spontanen Ereignisse zeigen, dass derartige Vanadat-Dipeptid-Komplexe als anionische, fünffach koordinierte Spezies zu formulieren sind.

Derartig rasche Prozesse lassen sich in MD-Simulationen gewöhnlich nur beobachten, wenn sehr niedrige Barrieren zu überwinden sind. Für deutlich aktivierte Prozesse lassen sich auf MD-Basis freie Energie-Profile entlang vordefinierter Reaktions-Koordinaten berechnen, z. B. mittels thermodynamischer Integration. Dies erlaubt quantitative Aussagen über die Zusammensetzung von Lösungen oder die Triebkräfte und Barrieren chemischer Prozesse darin.

Als Beispiel sei hier die Koordinationsgeometrie des Uranyl(VI)-Ions in wässriger Lösung genannt, das u.a. bei der Aufarbeitung radioaktiver Abfälle auftritt. Röntgenbeugungs-Experimente an solchen wässrigen Lösungen liefern mitunter widersprüchliche Ergebnisse und lassen neben der im Festkörper gewöhnlich gefundenen Fünffach- auch eine Vierfach-Koordination der Wasserliganden um die lineare UO22+-Einheit möglich erscheinen. MD-basierte Simulationen für die Entfernung eines H2O-Liganden aus der ersten Koordinations-Sphäre und anschließende thermodynamische Integration zeigen aber deutlich, dass – selbst wenn diese Vierfach-Koordination in der Gasphase möglich wäre – im dynamischen Ensemble der Lösung die herkömmliche Fünffach-Koordination klar dominiert (Abb. 2).

Die Dissoziation eines Liganden ist der einfachste Elementarschritt in der Palette der möglichen (auch katalytischen) Reaktionen von Metall-Komplexen. Die Möglichkeit, derartige Prozesse nun mit quantenchemischen Methoden unter realistischen Bedingungen simulieren, quantifizieren und vorhersagen zu können, eröffnet eine Fülle neuer Anwendungen in den Bereichen der metallorganischen, anorganischen und bioanorganischen Chemie und lässt viele neue, spannende Einblicke in die Abläufe chemischer Reaktionen auf atomarer und molekularer Ebene erwarten.

MD-Simulationen enzymatischer Reaktionen

Die gerichtete Evolution von Enzymen wird in unserem Institut in der Abteilung für Synthetische Organische Chemie seit einigen Jahren experimentell untersucht. Beispielsweise werden Lipasen durch iterative Mutagenese so verändert, dass sie die Esterspaltung für bestimmte Substrate mit verbesserter Enantioselektivität durchführen. Dabei wird Evolution im Labor betrieben: in jeder Iteration werden durch zufällige Mutationen typischerweise einige tausend Varianten erzeugt, für jedes dieser synthetischen Enzyme wird das Substrat der Esterspaltung unterworfen, die Produkte werden dann in einem Hochdurchsatz-Screening auf Enantioselektivität getestet, und nur die „besten“ Varianten werden in der nächsten Generation analog weiter verarbeitet. Dieser „darwinistische“ Prozess optimiert das Enzym für eine bestimmte Aufgabe, ohne dass man den zugrunde liegenden Mechanismus kennt.

Diese „blinde“ Vorgehensweise ist aus praktischer Sicht erfolgreich, aber als Chemiker möchte man natürlich die Gründe wissen. Wieso funktionieren manche mutierten Varianten besser? Was kann man daraus hinsichtlich Struktur und Mechanismus lernen? Im Folgenden wird anhand eines konkreten Beispiels gezeigt, wie MD-Simulationen zur Beantwortung dieser Fragen beitragen können.

Experimentell wird die in Abbildung 3 dargestellte Reaktion untersucht, bei der ein racemisches Gemisch des Substrats (rac-1) durch Wasser unter Katalyse durch eine Lipase in ein Enantiomerengemisch der beiden entsprechenden Säuren gespalten wird. Die beiden Produkte, (S)-2 und (R)-2, verhalten sich wie Bild und Spiegelbild (Enantiomere), je nachdem ob die Methylgruppe (CH3) nach oben oder nach unten steht; analoges gilt für die beiden Formen des Substrats. In dem anfangs vorliegenden racemischen Gemisch sind die beiden Enantiomere in gleicher Menge vorhanden. Wenn die Reaktion nun wegen der Katalyse durch die Lipase für eines der beiden Enantiomere schneller abläuft, wird dieses bevorzugt – im Überschuss – gebildet, und man spricht von Enantioselektivität. Mit der natürlich vorkommenden Lipase aus Pseudomonas aeruginosa reagieren beide Enantiomere fast gleich schnell, mit einem Faktor 1,1 zugunsten von (S)-2. Durch gerichtete Evolution kann dieser Faktor auf etwa 50 gesteigert werden, was einem (S)-Enantiomerenüberschuss von 98% entspricht. Das „beste“ Enzym weist gegenüber dem Wildtyp sechs Mutationen auf.

Um dies theoretisch zu verstehen, braucht man einige grundlegende strukturelle und mechanistische Informationen. Die Kristallstruktur des Wildtyps mit einem Inhibitor ist experimentell bekannt, und man weiß daher, wo die sechs Mutationen in dem „besten“ Enzym auftreten (Abb. 4): Überraschenderweise ist nur eine Mutation direkt am aktiven Zentrum in der Nähe des Substrats lokalisiert (L162G), zwei weitere sind etwas weiter entfernt (S155M, S53P), und die drei restlichen liegen in großer Entfernung an der Oberfläche des Enzyms. Der prinzipielle Mechanismus der Esterspaltung ist ebenfalls bekannt (Abb. 5): der anfangs gebildete Michaelis-Komplex reagiert über ein tetraedrisches Intermediat zu einem Acylenzym unter Freisetzung des Alkohols (R2OH), und die analoge Rückreaktion mit Wasser liefert die Säure (R1COOH). Aufgrund von Untersuchungen an Modellsystemen ist allgemein akzeptiert, dass das tetraedrische Intermediat dem Übergangszustand für den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der Reaktion strukturell und energetisch sehr ähnlich ist. Deshalb kann man aus dem Vergleich solcher Intermediate in erster Näherung auf relative Geschwindigkeiten schließen.

Aufgrund dieser Vorkenntnisse kann man bei der Modellierung der experimentellen Befunde wie folgt vorgehen. Man ersetzt zunächst in der bekannten Kristallstruktur des Wildtyps den Inhibitor durch das tetraedrische Intermediat, zum einen in der (S)-Form und zum anderen in der (R)-Form. Bei dem Einpassen der beiden Enantiomere in die Bindungstasche stellt man fest, dass die Methylgruppe (CH3 in Schema 1) im (S)-Fall günstiger positioniert werden kann, weil sie im (R)-Fall in das aktive Zentrum hineinragt und dort eine gewisse sterische Hinderung erzeugt. Allerdings ist dieser Effekt im Wildtyp nur wenig ausgeprägt.

Der nächste Schritt der Modellierung ist konzeptionell von zentraler Bedeutung. Der Wildtyp des Enzyms wird im Computer mutiert, indem die Koordinaten der betreffenden Aminosäuren geeignet ersetzt werden. Um die hierdurch verursachten Änderungen systematisch zu studieren, wird nicht nur die „beste“ Sechsfach-Mutante (Abb. 4) erzeugt, sondern auch alle entsprechenden Einfach-Mutanten sowie ausgewählte Zweifach- und Dreifach-Mutanten. Die so gewonnenen Geometrien für die tetraedrischen Intermediate sind natürlich nicht optimal und werden daher in einer MD-Simulation relaxiert (etwa 1 ns, sowohl für die (S)-Form als auch für die (R)-Form). Auf diese Weise werden die strukturellen Auswirkungen von Mutationen auf dem Computer nachgestellt. Da das tetraedrische Intermediat ein Minimum auf der Potenzialfläche ist, können die MD-Simulationen sehr effizient mit klassischen Kraftfeldern erfolgen (nach Kalibrierung der Parameter auf quantenchemischer Basis).

Die strukturellen Änderungen im Laufe der MD-Simulationen sind im Allgemeinen bei der (S)-Form und der (R)-Form des tetraedrischen Intermediats verschieden. Aus Platzgründen wird hier nur ein Fall behandelt (Abb. 6). Wird im Wildtyp an der Position 162 die Aminosäure Leucin durch Glycin ersetzt, verschwindet die Isobutyl-Seitenkette, sodass am aktiven Zentrum mehr Platz geschaffen wird. In diesen Leerraum könnte das benachbarte Histidin (His83) hineinwandern, welches jedoch im Wildtyp über eine Wasserstoffbrücke zu einem Serin (Ser53) fixiert ist. Entfernt man diese Brücke durch eine zweite Mutation S53P (Ersatz des Serins durch Prolin), so wird His83 beweglich. Die MD-Simulationen für diese Doppelmutante zeigen, dass His83 in der sterisch ungehinderten (S)-Form dann in der Tat in das aktive Zentrum hineinwandert und eine zusätzliche Wasserstoffbrücke zum Oxyanion ausbildet. Dies wird für die (R)-Form nicht beobachtet, weil dort die Methylgruppe des Substrats im Wege steht. Die differentielle Stabilisierung der (S)-Form durch eine neue Wasserstoffbrücke im tetraedrischen Intermediat – und damit in der Nähe des Übergangszustands – beschleunigt deren Reaktion relativ zur (R)-Form stark und führt daher zu erhöhter Enantioselektivität.

Aufgrund der MD-Simulationen kann man somit einen kooperativen Mechanismus postulieren, welcher plausibel erklärt, warum die beiden Mutationen L162G und S53P in der „besten“ Sechsfach-Mutante eine erhöhte Enantioselektivität bewirken. Eine genauere Analyse zeigt, dass dies der dominierende Effekt sein sollte und dass zumindest die drei Mutationen an der Oberfläche für die Enantioselektivitaet unerheblich sein sollten. Dies führt zu der Vorhersage, dass die Dreifach-Mutante (L162G, S53P, S155M) und vermutlich sogar die Zweifach-Mutante (L162G, S53P) genauso enantioselektiv sein sollten wie die „beste“ Sechsfach-Mutante. Diese beiden einfacheren Mutanten sind in den ursprünglichen Experimenten nicht identifiziert worden, was daran liegen kann, dass die „darwinistische“ Suche im ungeheuer großen Sequenzraum des Proteins nicht bis zu ihnen vorgedrungen ist. Die vorhergesagten Zweifach- und Dreifach-Mutanten sind mittlerweile gezielt synthetisiert worden, und sie zeigen in der Tat eine ebenso hohe Enantioselektivität wie die vorher „beste“ Sechsfach-Mutante.

Zusammenfassung und Ausblick

MD-Simulationen sind von zunehmender Bedeutung in der theoretischen Chemie, weil sie detaillierte Einblicke in die Dynamik chemischer Prozesse vermitteln. Die hier vorgestellten Beispiele aus zwei ganz unterschiedlichen Gebieten betreffen die Struktur und Dynamik von Übergangsmetall-Komplexen in wässriger Lösung sowie die Optimierung der Enantioselektivität einer enzymatischen Reaktion durch gerichtete Evolution. In beiden Fällen liefern die MD-Simulationen strukturelle und mechanistische Informationen, die dem Verständnis experimenteller Befunde dienen und darüber hinaus neue Experimente zur Überprüfung der theoretischen Vorhersagen induzieren (Bocola, Bühl, Otte, Reetz, Thiel, in Zusammenarbeit mit G. Wipff (Strasbourg) und K.-E. Jaeger (Jülich)).

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