Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Technische Erfindungen und Innovationen in China

Autoren
Schäfer, Dagmar
Abteilungen

Konzepte und Modalitäten praktischen/technischen Wissens (PD Dr. Dagmar Schäfer)
MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Zusammenfassung
Wie werden technische Innovationen in eine Kultur integriert und was sagt dies über deren Fähigkeit zur Innovation aus? Technische Innovationen sind zunächst das Resultat eines praktischen Vorganges. In China entstehen sie meist in der schriftunkundigen Schicht der Handwerker und werden vor allem über persönliche Kontakte vermittelt. Ihre Verschriftlichung belegt, dass praktisches Wissen in einen akademischen Diskurs integriert wurde und sich damit der Umgang einer Kultur mit diesem Wissen verändert hat. Im Zentrum der Studie einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stehen die Entwicklungen des 10. bis 18. Jahrhunderts auf Gebieten wie der Porzellanherstellung, der Textilmanufaktur und der Militärtechnik.

Im Jahr 1561 veröffentlichte Qi Jiguang (1528–1587), ein erfolgreicher General der Ming-Dynastie, ein umfangreiches Traktat zur Militärstrategie, das er unter seinen Offizieren für die Schulung der Soldaten im Kampf gegen die japanischen Wokou-Piraten verteilen ließ. Neben traditioneller Kampfkunst widmete sich Qi Jiguang in diesem Werk auch der Waffenkunde. Er beschreibt ausführlich die Konstruktion einer Hakenbüchse (niaochong) und illustriert detailgetreu die Befestigungsschraube und die Mutter, die den Waffenhahn arretiert (Abb. 1) [1].

Schraube und Mutter werden erstmalig im Jahr 1490 in China beschrieben. Angewendet wurden sie laut Joseph Needham bis zum 18. Jahrhundert jedoch ausschließlich in westlichen Waffen [2]. Auch Qi Jiguangs Bericht änderte das nicht. Zwar machte Qi Jiguangs Dokumentation die technischen Inhalte verfügbar und verbreitete sie, doch löste sich das Wissen nicht von seinem Kontext. Weder wurde die Befestigungsschraube in anderen Bereichen verwendet, noch regte sie weitere Neuerungen an. Welche Funktion hatte die Verschriftlichung technischer Inhalte und welche Rahmenbedingungen für technische Entwicklungen und Innovationen herrschten im klassischen China?

Verschriftlichte Technik, historisierte Innovation – Wandel der Wissenskultur im 10. Jahrhundert

Ab dem 10. Jahrhundert finden sich in der chinesischen Literatur vermehrt technische Inhalte, von hochspezialisierten Beschreibungen zur Herstellung von Tusche, Zucker und Baumwollstoffen, Anleitungen für die Bewässerung der Felder bis hin zu Traktaten zur Astronomie und Architektur. Su Songs (960–1279) Xin Yixiang fayao (Essentielle Methoden der neuen astronomischen Geräte) aus dem Jahr 1094 beispielsweise beschreibt ausführlich die Details einer von ihm entwickelten astronomischen Uhr in Wort und Bild (Abb. 2) [3], das Lu Ban jing (Der Klassiker des Lun Ban) aus dem 15. Jahrhundert gibt Anleitungen für das Schreinerhandwerk.

In erster Linie dienten diese Texte jedoch nicht der Weitergabe technischer Details. Su Song warb um die Aufmerksamkeit und Unterstützung des Kaisers. Sein Traktat formuliert eine staatspolitische Verpflichtung zur Himmelsbeobachtung. Im Falle des Schreinermanuals Lu Ban jing wurde den rituellen Inhalten höhere Bedeutung zugemessen als den technischen Details [4]. Ab dem 14. Jahrhundert diente es den Handwerkern faktisch nur noch als quasi-religiöse Ikone ihres Handwerks.

In den genannten Werken ist Technik ein kultureller und sozio-politischer Funktionsträger. Die praktische Verwertbarkeit des Inhalts war entweder von vornherein nicht beabsichtigt oder trat im Laufe der Zeit in den Hintergrund des Interesses, während der Kontext an Bedeutung gewann. In anderen Schriften sind technische Beschreibungen in Erörterungen über die Führung des eigenen Haushalts oder des Staates, in soziale Erwägungen, kosmologische Studien oder in politische Diskussionen eingebunden. In welchen Zusammenhängen Technik und praktisches Wissen für die chinesische Gesellschaft relevant waren, wird im Projekt des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte anhand einer Datenbank systematisch erfasst. Im Überblick über die Vielfalt der Inhalte sollen Rückschlüsse über die Systematik der Verschriftlichung dieses Wissensbereichs ermöglicht werden.

Wie eine Kultur mit Technik umgeht, manifestiert sich nicht nur in der unmittelbaren Dokumentation, sondern auch darin, wie ihre materielle Basis und ihr Wandel allgemein wahrgenommen werden, denn diese materielle Basis prägt entscheidend die Identität einer Gesellschaft. Innovationen und Veränderungen dieser Basis müssen sozial und intellektuell verarbeitet werden. Wie hängt die Verschriftlichung technischer Inhalte hiermit zusammen? Ab dem 10. Jahrhundert widmen chinesische Gelehrte diesem Aspekt große Aufmerksamkeit und erstellen umfangreiche Assemblagen der Ursprünge und Anfänge von Dingen und Ereignissen (wuyuan). In diesen Katalogen, die in der Heuremata-Tradition Europas (literarisches Genre, in dem Erfindungen systematisch dokumentiert wurden) ein Spiegelbild finden, werden technische Neuerungen mit einer Geschichte und Tradition versehen und somit kulturell legitimiert.

Verordnete Innovation – Staatsziel Wissenstransfer

Seit dem 14. Jahrhundert engagierte sich der chinesische Staat unter der Herrschaft der Ming zunehmend direkt in der Produktion von Waren wie etwa Textilien, Porzellan und Lackwaren. Das Beispiel der staatlich betriebenen Seidenmanufakturen während der Ming-Dynastie zeigt, dass die Beamten das Problem, wie Wissen, innovative Techniken und Produkte transferiert werden, als sehr wichtig betrachteten. Hochrangige Minister hatten die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Betriebe zu gewährleisten. Sie entwickelten im politischen Diskurs verschiedene Maßnahmen, um einen kontinuierlichen Transfer von innovativen Techniken von der Privatwirtschaft in die Staatsbetriebe zu sichern. Der überlieferte Schriftverkehr macht deutlich, dass Technik zu einem Politikum wurde und Privatwirtschaft und dem Staat neue Rollen in der Wissensvermittlung zukamen.

Auch für die literarisch gebildete Elite dieser Zeit wurde die Wahrnehmung und Kontrolle von handwerklicher Expertise zu einem wichtigen Thema, wie sich am Beispiel von Qiu Juns (1421–1495) politischem Handbuch Daxue yanyi bu („Supplement zu den Erläuterungen zum großen Lernen“, 1506) für hohe Beamte zeigt. Qiu Jun lehnte die zunehmende Kunstfertigkeit der Handwerker seiner Zeit vehement ab. Er bezeichnet sie sogar als „unzüchtig“. Die Ausdifferenzierung der Handwerksberufe bewertete er dagegen positiv. Die Listen zur Erhebung von Dienstleistungen bestätigen, dass die Berufsbezeichnungen zugenommen hatten. Statt auf eine technische Profilierung weist dies aber auf eine wachsende Fragmentierung des Arbeitsprozesses hin.

Mit der systematischen Einbindung handwerklicher Werkstätten in den Staatsbetrieb hatte der Gründungskaiser der Ming-Dynastie Zhu Yuanzhang (1382–1398) die Beamten in ihrem Selbstverständnis herausgefordert, verlangte er doch von ihnen, sich mit Fähigkeiten und Arbeiten zu beschäftigen, die nicht ihrem Stand entsprachen. Beamte wie Qiu Jun begegneten dieser Herausforderung mit einer intellektuellen Wendigkeit, die ihre Fähigkeit, dem Staat vorzustehen, auf subtile Weise stärkte: Sie förderten die Modularisierung praktischer Arbeit und kontrollierten die Kunstfertigkeit des Spezialisten mit rituellen Vorgaben. Durch die Modularisierung wird die Tätigkeit des Einzelnen einfacher und der Arbeiter austauschbar [5]. Dafür war nun ein Verwalter nötig, der den Überblick hatte und fähig war, die einzelnen Steine im Mosaik zusammenzufügen; der Beamte hatte die Kontrolle über die Expertise des Handwerkers. Der Kunsthistoriker und Sinologe Martin Powers weist ähnliche Entwicklungen für die Han-Zeit (202–220 vor Christus) anhand der Dekore von Ritualgefäßen nach [6]. Ihre sich wandelnde Struktur interpretiert er als Zeichen einer sich wandelnden sozialen Ordnung, in der die Beamten ihre Kontrollfunktion über praktische Tätigkeiten im Staat etablierten. Auf den ersten Blick erscheinen die späten Dekore im Gegensatz zu den frühen Dekoren komplizierter. Bei näherem Hinsehen wird die repetitive Struktur von Mustern und Linien nach genauen Maßvorgaben deutlich. Damit wurde Vielfalt standardisiert und Reproduktion zur Expertise erhoben. Durch wenige Maßnahmen konnten die Beamten so ihre Kontrollfunktion sichern.

Qiu Juns Diskussion ist ein Beispiel für einen subtilen und vielschichtigen Prozess der Selbstidentifikation der Kopfarbeiter im Verhältnis zum Handarbeiter. Dies ist eine soziale Komponente, die Chinas technische Entwicklung wesentlich beeinflusste. Das Zusammenspiel von Ritus und Arbeitswelt ist eine weitere wichtige Facette der mannigfaltigen kulturellen Traditionen, in die Technik in China eingebettet wurde.

Das Spannungsverhältnis zwischen den elitären Kopfarbeitern, die literarische Ideale pflegten, und den Handwerkern, die praktische Ziele verfolgten, manifestiert sich auch in den offiziellen Dokumenten. Diskussionen über den technischen Innovationstransfer finden sich in Throneingaben und Lokalberichten. Sammlungen wie die offiziellen Wirtschaftsgeschichten der Ming- und Qing-Zeit, das Ming jingshi wenbian (Sammlung von Dokumenten über das Wirtschaftsleben in der Ming-Dynastie), ediert von Chen Zilong (1608–1647), und das Huangchao Qing jingshi wenbian (Sammlung von Dokumenten aus dem Wirtschaftsleben in der Qing-Zeit) von He Changlin und Wei Yuan ermöglichen es, die staatspolitische Einflussnahme auf den Informationsfluss und den Austausch von Handwerkern – Faktoren, die die Innovationskultur Chinas historisch geprägt haben – chronologisch zu erfassen.

Originalveröffentlichungen

Qi Jiguang:
Jixiao Xinshu, Hualian chubanshe („Neues Buch zur effizienten Disziplinierung“) 1561.
Taiwan Commercial Press, Taibei 1978, 208.
J. Needham:
Science and Civilisation in China. Vol. 4, Part 2: Mechanical Engineering.
Cambridge University Press, New York 1965, 757.
Su Song:
Xin yixiang fayao ("Essentielle Methoden der neuen astronomischen Geräte").
In: Zhongguo kexue jishu dianji tonghui, jishu juan 1. (Hg.) Ren Jiyu. He’nan jiaoyu chubanshe, Zhengzhou [1094]1994, 315.
K. Ruitenbeek:
Carpentry and Building in Late Imperial China. A Study of the Fifteenth Century Carpenter’s Manual Lu Ban Jing.
Brill Leiden, New York 1993, 82–85.
L. Ledderose:
Ten Thousand Things. Module and Mass Production in Chinese Art.
Princeton University Press, Princeton 2001.
M.J. Powers:
Pattern and Person. Ornament, Society, and Self in Classical China. Harvard East Asian Monographs.
Harvard University Press, Cambridge, MA, 2006.
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