Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Arbeitsgruppen für strukturelle Molekularbiologie am DESY

Neue Verfahren der Analyse von Proteinstruktur und -dynamik mit Röntgenstrahlung

New methods of X-ray analysis of protein structure and dynamics

Autoren
Bartunik, Hans D.
Abteilungen

Proteindynamik (Dr. Hans-Dieter Bartunik)
MP Arbeitsgruppen für strukturelle Molekularbiologie am DESY, Hamburg

Zusammenfassung
Die Funktion von Proteinen ist durch ihre Faltung zu dreidimensionalen Strukturen und durch dynamische Änderungen ihrer Konformation im Verlauf biologischer Reaktionen bestimmt. Diese Struktur-Funktionsbeziehungen können inzwischen selbst bei Multiproteinsystemen hoher Komplexität in atomarem Detail untersucht werden. Dabei kommen Verfahren der Röntgenkristallstrukturanalyse unter Nutzung hochintensiver Synchrotronstrahlungsquellen zum Einsatz, die in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt wurden und genomweite Anwendungen ermöglichen. Durch den Bau von Freien-Elektronen-Lasern (FEL) beim DESY werden darüber hinaus völlig neuartige Anwendungsbereiche der biologischen Strukturforschung erschlossen. Der vor kurzem beim DESY in Betrieb genommene VUV-FEL ermöglicht Raman-Spektroskopie im Vakuum-UV-Bereich auf Zeitskalen von Femtosekunden. Im Bereich harter Röntgenstrahlung schafft der geplante Bau eines Röntgenlasers (X-FEL) beim DESY die experimentellen Voraussetzungen für Strukturanalysen transienter Zustände im Pico- und Femtosekundenbereich, für den kombinierten Einsatz von Mößbauereffekt und Beugung zur Lösung hochkomplexer Strukturen und gleichzeitigen Analyse dynamischer Prozesse sowie für die Bestimmung der dreidimensionalen Struktur nichtkristalliner Materie und einzelner (Virus-)Partikel.
Summary
Protein function is determined by the three-dimensional structure and dynamical changes in the conformation during biological reactions. The structure-function relationships currently may be investigated in atomic detail even in the case of complex multi-protein systems. Such studies involve methods of X-ray crystal structure analysis that are based on the use of highly intense synchrotron radiation. The methods recently have been further developed, opening the way to structural genomics applications. The construction of free-electron lasers (FELs) at DESY provides the basis for entirely new types of applications in biological structural research. The VUV-FEL that recently has become operational at DESY may be used for Raman spectroscopic studies in the vacuum-UV on femtosecond time scales. The hard X-ray regime will be made accessible by the planned construction of an X-ray laser (X-FEL) at DESY. The X-FEL may be used for a number of applications including structural analysis of transient states on short time scales down to the femtosecond range, combined use of Mößbauer effect and diffraction for solving highly complex structures and simultaneous analysis of dynamical processes, and determination of the three-dimensional structures of non-crystalline matter and single (virus) particles.

Strukturgenomik

Ein Ziel internationaler Forschung ist die Bestimmung der dreidimensionalen Struktur aller wichtigen biologischen Makromoleküle [1]. Im Mittelpunkt stehen dabei Proteine, deren Strukturaufklärung für die Erforschung der Entstehung von Krankheiten und die Entwicklung von Wirkstoffen von potenzieller Bedeutung ist. Da Proteine unterschiedlicher Funktion zum Teil eng verwandte Faltungen aufweisen, kann die experimentelle Bestimmung der einzelnen Faltungstypen im Prinzip eine Grundlage zur theoretischen Modellierung aller Proteine, auch der anderer Organismen, bilden. Um dieses Ziel zu realisieren, wurden die Methoden der Proteinkristallstrukturanalyse einschließlich der Probenpräparation in den letzten Jahren zu hoher Effizienz weiterentwickelt. Zumindest im Falle löslicher Proteine können gentechnische Produktion, Aufreinigung und durch Robotik unterstützte Kristallisation bereits mit hohem Durchsatz erfolgen. An den führenden Messstationen für Proteinkristallographie mit Synchrotronstrahlung, etwa an der MPG-Beamline BW6 beim DESY, sind Mess- und Auswerteverfahren verfügbar, die eine schnelle Lösung der Struktur und Interpretation ermöglichen. Diese Verfahren werden im Rahmen des laufenden europäischen BIOXHIT-Programms zunehmend automatisiert. Sie finden zurzeit bereits in einem vom BMBF geförderten Projekt der Strukturgenomik von Mycobacterium tuberculosis Anwendung. Dieses Projekt vereinigt Gruppen der MPG (MPI für Infektionsbiologie, Max-Planck-Arbeitsgruppen für Strukturelle Molekularbiologie), des EMBL Hamburg, des FMP Berlin sowie einige Firmen zum so genannten XMTB-Konsortium, das die dreidimensionale Struktur von Zielproteinen aufklärt und Wechselwirkungen mit niedrigmolekularen Liganden untersucht. Die Gefährdung durch Tuberkulose-Erkrankungen (TB) hat sich durch die pandemische Ausbreitung von HIV/AIDS und das zunehmende Auftreten von Resistenzen gegen bereits bekannte Antibiotika weiter erhöht. Das Konsortium untersucht gezielt einige hundert Targetproteine, die für die Entwicklung neuartiger Therapien gegen Tuberkulose von potenzieller Bedeutung sind.

Resonante Streuverfahren mit harter und weicher Röntgenstrahlung

Zur Bestimmung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen und Proteinkomplexen wird in aller Regel Synchrotronstrahlung eingesetzt. Neben hoher Intensität bietet diese vor allem die Möglichkeit experimenteller Phasenbestimmung mit anomaler Streuung in der Nähe von Röntgenabsorptionskanten. Ein Beispiel derartiger Anwendungen stellt die Aufklärung der Struktur des Enzyms Furin der Maus dar [2]. Furin gehört zur eukaryontischen Familie der Proprotein-Konvertasen, die Sekretproteine und Peptidhormone aus größeren Vorläufermolekülen ausschneiden und aktivieren. Furin ist insbesondere an der Aktivierung von Glykoproteinen vieler lipidumhüllter pathogener Viren beteiligt. Abbildung 1 zeigt die mit anomaler Phasierung bestimmte Kristallstruktur. In einem weiteren Experiment wurden nun die chemische Natur und die Lage der für die enzymatische Funktion wesentlichen Bindungsstellen aufgeklärt. Mithilfe anomaler Beugung zu beiden Seiten der Calcium-K-Kante (λ = 3.07 Å) konnten Ca2+-Ionen in zwei Bindungsstellen eindeutig identifiziert werden [3]. BW6 ist eine der wenigen weltweit verfügbaren Proteinkristallographie-Beamlines, die neben harter Röntgenstrahlung auch den Einsatz weicher Röntgenstrahlung bis circa 3.5 Å ermöglichen.

Untersuchung der Strukturdynamik von Proteinen

Die Untersuchung dynamischer Strukturänderungen in Proteinen im Verlauf biologischer Reaktionen erfordert in vielen Fällen hohe (atomare) Auflösung, die zurzeit nur mit Röntgenbeugungsverfahren erreicht werden kann. Zeitaufgelöste Beugungsuntersuchungen auf einer Nanosekunden-Zeitskala [4] sind mit den gegenwärtig verfügbaren Strahlungsquellen auf kleine Proteine und zyklische Reaktionen beschränkt und aufgrund unzureichender Datenqualität oft nur qualitativ interpretierbar. Mit weit größerem Erfolg wurde bisher Röntgenbeugung in Verbindung mit Kryoverfahren eingesetzt. In einer Reihe von Anwendungen konnten die Strukturen intermediärer Zustände in enzymatischen Reaktionen bestimmt und der gesamte Reaktionszyklus im Kristall bei hoher Auflösung verfolgt werden. Die Korrelationen zwischen den Bewegungen im Protein und zwischen benachbarten Proteinmolekülen gehen bei Beugungsmessungen verloren. Sie können jedoch durch Auswertung der diffusen Streuung von Proteinkristallen bestimmt werden. Die dazu erforderliche vollständige Messung der diffusen Streuverteilung bei hoher Auflösung (Abb. 2) wurde erstmals in einer Anwendung mit Haemoglobin realisiert (Gleb Bourenkov und Hans D. Bartunik). Konformationsänderungen, die (Domänen-)Bewegungen großer Amplitude einschließen, können mit Verfahren der Röntgenkleinwinkelstreuung untersucht werden, die in den letzten Jahren zu hoher Leistungsfähigkeit weiterentwickelt wurden [5]. Die Experimentiermöglichkeiten im harten Röntgenbereich können durch neuartige Verfahren im VUV- und im weichen Röntgenbereich ergänzt werden. Der vor kurzem beim DESY aufgebaute VUV-FEL bietet dafür weltweit einzigartige Messbedingungen. Zu den möglichen Anwendungen gehören mikroskopische Abbildungen sowie (CD- und Raman-)spektroskopische Untersuchungen von Konformationsänderungen mit hoher Zeitauflösung, etwa bei Protein-Protein-Interaktionen.

Aufklärung biologischer Strukturen mit Röntgenlaserstrahlung

Die Aufklärung biologischer Strukturen wurde stets in hohem Maße von der Weiterentwicklung von Röntgenstrahlungsquellen beeinflusst. Der gegenwärtige Leistungsstand der Proteinkristallographie erklärt sich vor allem auch durch den Einsatz von Synchrotronstrahlung, der vor etwa 30 Jahren begann. Der Bau eines Röntgenlasers im harten Röntgenbereich (X-FEL) beim DESY, der 2013 in Betrieb gehen soll, kann die biologische Strukturforschung erneut von Grund auf verändern. Die Erhöhung der Brillianz um mehrere Größenordnungen (Abb. 3), die kurze Dauer der einzelnen Photonenpulse im Bereich von etwa zehn Femtosekunden sowie der hohe Grad der Kohärenz der Strahlung ermöglichen völlig neuartige Untersuchungsverfahren, deren Anwendungsgrenzen zurzeit noch nicht abschließend beurteilt werden können. Bei der Untersuchung transienter Strukturzustände können die Zeitskalen um drei Größenordnungen bis in den Femtosekundenbereich verschoben werden, und anstelle der jetzigen Beschränkung auf kleine Proteine von der Größe des Myoglobins eröffnet sich die Möglichkeit für Strukturanalysen von intramolekularen Prozessen und Protein-Protein-Wechselwirkungen in Multiproteinsystemen unter Einsatz von (Laue-)Beugung und Kleinwinkelstreuung. Die spektrale Brillianz der Röntgenlaserstrahlung erlaubt im Prinzip Anwendungen des Mößbauereffekts, bei denen Beugungsmessungen bei hoher Bragg-Auflösung, also bis zu hohen Beugungswinkeln, mit Energieauflösung im μeV-Bereich verbunden werden. Damit können so große anomale Effekte erzielt werden, dass experimentelle Phasen für sehr viel komplexere Strukturen als bisher gelöst werden können. Die Messungen ergeben zudem Information über dynamische Strukturprozesse. Die hohe Kohärenz der Röntgenlaserstrahlung kann im Prinzip zur Aufklärung der Struktur nichtkristalliner Materie genutzt werden. Dies ist insbesondere für die Untersuchung von Membranstrukturen sowie für die Lösung der Struktur einzelner Partikel, etwa von Viren, Ribosomen oder Multienzymkomplexen, von hoher potenzieller Bedeutung. Die Entwicklung der Verfahren zur effizienten Nutzung der FEL-Strahlungsquellen beim DESY erfordert eine enge Zusammenarbeit von Physikern und Strukturbiologen in einem entsprechend strukturierten Umfeld.

Originalveröffentlichungen

J. M. Chandonia, S. E. Brenner:
The impact of structural genomics: expectations and outcomes.
Science 311, 347-351 (2006).
S. Henrich, A. Cameron, G. P. Bourenkov, R. Kiefersauer, R. Huber, J. Lindberg, W. Bode, M. E. Than:
The crystal structure of the proprotein processing proteinase furin explains its stringent specifity.
Nature structural biology 10, 520-526 (2003).
M. E. Than, S. Henrich, G. P. Bourenkov, H. D. Bartunik, R. Huber, W. Bode:
The endoproteinase furin contains two essential Ca2+ ions stabilizing its N-terminus and the unique S1 specificity pocket.
Acta crystallographica D Biol. Crystallographica 61, 505-512 (2005).
F. Schotte, M. Lim, T. A. Jackson, A. V. Smirnov, J. Soman, J. S. Olson, G. N. Phillips Jr., M. Wulff, P. A. Affinrud:
Watching a protein as it functions with 150-ps time-resolved x-ray crystallography.
Science 300, 1944-1947 (2003).
M. V. Petoukov and D. I. Svergun:
Global rigid body modeling of macromolecular complexes against small-angle scattering data.
Biophysical Journal 89, 1237-1250 (2005).
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