Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Implementierung internationaler Sozialstandards und Sozialrechte

Autoren
Reinhard, Hans-Joachim
Abteilungen
Zusammenfassung
Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) hat 1998 einen Katalog von Kernarbeitsnormen verabschiedet, der für alle Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht ist. Diese sozialen Mindeststandards sind Ausdruck universeller Menschenrechte. Es liegt auch im Interesse der Industrieländer, diese Standards durchzusetzen, da sie ansonsten die sozialen Rechte der eigenen Bevölkerung abbauen müssten.

Warum sind Sozialstandards wichtig?

Mit der sich ausbreitenden Industrialisierung Europas und der Verelendung großer Teile der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert stellte sich die Frage nach Schaffung und Einhaltung sozialer Mindeststandards. Kinderarbeit, Zwangsarbeit, die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch Gewerkschaften und die Stellung der Frau in der Arbeitswelt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Mutterschutz, waren brennende Themen. Die Frage der ungleichen Entlohnung zwischen Männern und Frauen wurde hingegen zunächst kaum problematisiert. Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wurden vor allem mit Arbeitskämpfen durchgesetzt. Der Bereich, der heute in Deutschland mit dem Begriff der sozialen Standards und der sozialen Rechte am ehesten verknüpft wird, nämlich die soziale Sicherheit, wurde allerdings weniger von unten erkämpft als vielmehr staatlich von oben verordnet. Zunächst hatte die sozialdemokratische und sozialistische Arbeiterbewegung begonnen, eigene Institutionen zu gründen, um vornehmlich Alte, Invalide und Hinterbliebene besser zu versorgen. Bismarcks politische Antwort hierauf war die Einführung der deutschen Sozialversicherung, die noch heute in ihrer Grundkonzeption besteht.

Die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation

Nicht nur humanitäre Gründe sprachen gegen die Nichteinhaltung sozialer Mindeststandards; alsbald trat eine wirtschaftliche Dimension hinzu. Man stellte sich die Frage, ob die Einführung sozialer Rechte nicht die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Volkswirtschaften beeinträchtigen würde. Der Verzicht auf soziale Standards wurde als Entwicklungshemmnis für diejenigen Staaten gesehen, welche die Situation der Arbeitnehmer verbessern wollten, da diese einen Wettbewerbsnachteil erlitten. Um nun möglichst alle Staaten auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards zu verpflichten, wurde im Jahr 1919 die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) gegründet, die dann eine Reihe von Übereinkommen ausarbeitete, in welchen soziale Rechte verbrieft wurden. Schon bald stellte sich die Frage, wie man die Einhaltung der Übereinkommen überwachen könnte. 1926 wurde ein Ausschuss gebildet, der aufgrund von Berichten der Staaten die Effektivität der Umsetzung der sozialen Standards und sozialen Rechte überprüfen sollte. Dieses Berichtssystem besteht bis heute.

Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten weitere internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder der Europarat in Pakten und Übereinkommen ebenfalls soziale Mindeststandards und soziale Rechte, jedoch nicht beschränkt auf Arbeitnehmer, sondern als Ausdruck der Menschenrechte für alle Bürger. Um deren Einhaltung zu überwachen, wurden ähnliche Berichtsverfahren eingeführt wie sie die IAO schon vorsah. Internationale Pakte und Übereinkommen haben aber den Nachteil, dass sie der Ratifizierung durch das jeweilige nationale Parlament bedürfen, um in einem Land Geltung zu erlangen. Viele Länder scheuen einen Beitritt, wenn die darin auferlegten Verpflichtungen aus innenpolitischen Gründen nicht opportun sind oder sich eine starke Lobby gegen die Durchsetzung bestimmter sozialer Standards ausspricht. In der Praxis konnten deshalb soziale Mindeststandards häufig nicht effektiv durchgesetzt werden.

Im Zuge der Globalisierung des Welthandels hat das Problem eine neue Dimension bekommen. Die heftigen Proteste anlässlich der Handelsrunden der Welthandelsorganisation (WTO) machen deutlich, wie eng Welthandel und die Einhaltung sozialer Standards als Ausdruck universeller Menschenrechte miteinander verknüpft sind. Dabei prallen sehr unterschiedliche Interessenlagen aufeinander. Die Entwicklungs- und Schwellenländer befürchten, dass sie durch die Einführung von „Sozialklauseln“ Wettbewerbsvorteile verlieren könnten. Die Industrieländer, vor allem unterstützt durch die Gewerkschaften, drängen darauf, dass soziale Mindeststandards unbedingt eingehalten werden. Die Haltung der Betroffenen hingegen ist ambivalent. Selbstverständlich ist ihnen an einer Verbesserung ihrer Lebenssituation gelegen, doch ist die Beachtung von sozialen Mindeststandards für sie nicht nur positiv. Wenn beispielsweise Kinderarbeit abgeschafft wird, verlieren die Familien dadurch notwendiges Einkommen. Die Diskussion um die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen relativiert sich für die Betroffenen dann, wenn jedes noch so geringe Einkommen der Frauen zur Existenzsicherung der Familie beitragen muss.

Soziale Mindeststandards als Forschungsgegenstand

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht hat sich seit seiner Gründung in seinen Forschungsarbeiten mit sozialen Mindeststandards befasst. Zunächst lag ein Schwerpunkt in der Untersuchung staatlicher Aktivitäten sozialer Sicherung, insbesondere in Entwicklungsländern. Später wurde der so genannte informelle Sektor sozialer Absicherung (zum Beispiel durch Familien oder Clans) mit einbezogen. Im Bereich der internationalen Organisationen ging es um die Frage, welche formellen Verfahren zur rechtlichen Durchsetzung der sozialen Mindeststandards entwickelt wurden und wie effizient diese Verfahren sind.

Es stellte sich heraus, dass die bisherigen Überwachungsverfahren durch Staatenberichte nur begrenzt erfolgreich waren. 1998 verabschiedete die IAO eine Erklärung der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit. Rechtstatsächlich war an dieser Erklärung zunächst neu, dass sich die Staatengemeinschaft auf einen Katalog sozialer Rechte einigen konnte. Diese als Kernarbeitsnormen („core labour standards“) bezeichneten Normen erschienen so grundlegend, dass jeder Mitgliedstaat der IAO gefordert war, sie zu beachten. Nach Auffassung der IAO ist die Erklärung – und dies ist ein wesentlicher rechtlicher Fortschritt gegenüber der vormaligen Situation – für alle Mitgliedstaaten unmittelbar bindend und bedarf zu ihrer Wirksamkeit auf nationaler Ebene gerade nicht mehr der Ratifizierung durch ein nationales Parlament. Da inzwischen fast alle souveränen Staaten der IAO beigetreten sind, sind die in der Erklärung aufgeführten Regelungen praktisch weltweit unmittelbar geltendes Recht. Die Kernarbeitsnormen sind geregelt durch die Vereinigungsfreiheit und das Recht zur Kollektivverhandlung (Nr. 87, Nr. 98), das Verbot der Zwangsarbeit (Nr. 29, Nr. 105), die Unterbindung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit (Nr. 138, Nr. 182) und die Nichtdiskriminierung am Arbeitsplatz (Nr. 100, Nr. 111).

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht hat untersucht, wie diese Kernarbeitsnormen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit umgesetzt werden können. Die IAO wählte als neue Strategie Pilotprojekte im asiatischen Raum. Firmen sollten sich verpflichten, die sozialen Mindeststandards einzuhalten, sich überwachen und zertifizieren zu lassen. Im Gegenzug wurden diesen Firmen Vergünstigungen beim Export ihrer Produkte in Industrieländer gewährt. Zugleich wurden flankierende Maßnahmen wie beispielsweise die Schulausbildung von Kindern durchgeführt. Eine ähnliche Konzeption mit Importerleichterungen für sozial verträglich hergestellte Produkte verfolgt inzwischen auch die Europäische Gemeinschaft.

Eine wichtige Rolle haben auch Nichtregierungsorganisationen, indem sie Betroffene aufklären und zur Einhaltung sozialer Standards zwingen. Es hat sich bei den Untersuchungen ergeben, dass dieser außerrechtliche Bereich mittlerweile eine Eigendynamik hin zu einer Art Verrechtlichung als „soft law“ entwickelt. Unternehmen fürchten um ihren Ruf bei den Verbrauchern und geben sich interne Verhaltenscodices zur Beachtung sozialer Mindeststandards, lassen sich extern nach den Kriterien der Nichtregierungsorganisationen zertifizieren und nutzen diese Zertifizierung als besonderes Werbekriterium.

In einem weiteren Forschungsprojekt wurden die Erfahrungen mit der Implementierung von Sozialstandards zusammengeführt und kritisch reflektiert. Es wurde analysiert, welche Durchsetzungsprobleme sich sowohl aus der Natur der Rechtsvorschriften als auch aus der jeweils spezifischen institutionellen Einbettung ergeben. In die Betrachtung einbezogen wurden nicht nur Abkommen mit genuin sozial- und arbeitsrechtlicher Ausrichtung, sondern unter funktionalen Aspekten auch die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die rechtlichen Vorgaben für die Europäische Union und die internationalen Finanzinstitutionen. So konnte die Bindungswirkung für mächtige, auf übernationaler Ebene angesiedelte Organisationen mit erfasst werden.

Bislang ist über die Implementierung von sozialen Standards und die Auswirkungen von „soft law“ noch zu wenig bekannt. Wegen der im Rahmen des globalen Systemwettbewerbs zunehmend spürbaren Abwanderung von Unternehmen taucht - wie bereits in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts - die Frage auf, ob die Nichtbeachtung sozialer Standards nicht auch ein Entwicklungshemmnis für die Länder ist, die ihrer Bevölkerung bessere soziale Bedingungen erhalten wollen. In dem Maße, in dem Volkswirtschaften in den Entwicklungs- und Schwellenländern wachsen, geraten andere Staaten unter einen Wettbewerbsdruck. Ein Anzeichen dafür ist der beginnende Abbau sozialer Rechte in den Industrieländern, in Deutschland etwa durch die „Hartz-IV-Gesetze“.

Eine künftige Aufgabe wird sein, zunächst das Nebeneinander verschiedener sozialer Mindeststandards zu systematisieren und bessere Strategien für eine effizientere Umsetzung sozialer Mindeststandards zu entwickeln. Wenn dies gelingt, nutzt dies nicht nur den primär Betroffenen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, sondern hat ebenso Auswirkungen auf die soziale Situation der Menschen in den Industrieländern.

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