Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Molekulare Eigenschaften an Grenzflächen: Von flachen Modellsystemen zu in situ Mikro- und Nanopartikelsystemen

Autoren
Roke, Sylvie
Abteilungen

Nichtlineare Spektroskopie an biologischen Grenzflächen (MPG) (Dr. Sylvie Roke)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Grenzflächen spielen bei vielen physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen eine enorme Rolle. In der Realität sind die meisten Grenzflächen Teil eines komplizierten Systems kondensierter Materie, wie beispielsweise Zellmembranen oder Emulsionen. Zunehmend werden heute unter Umgebungsbedingungen die strukturellen und dynamischen Eigenschaften an flachen Grenzflächen mithilfe nichtlinear-optischer Messtechniken untersucht. Kombiniert mit Lichtstreuung, lassen sich sogar die Grenzflächen dispergierter Partikel in situ untersuchen.

Grenzflächen

Eine Grenzfläche stellt den Übergang von einem Material zu einem anderen dar. Es kann eine Zellmembran sein, die äußere Seite eines Implantats oder die Abscheidung zwischen Öl und Wasser in einer Emulsion, wie z.B. Milch. An diesen Stellen werden wichtige Entscheidungen getroffen, nämlich ob Eiweiße, Enzyme oder andere Moleküle in die Zelle hineinkommen, ob Zellen an die Prothese anhaften können, oder ob sich die Zusammenstellung von den Wassertröpfchen verändert, sodass die Milch sauer werden kann.

Grenzflächen sind asymmetrisch – oben und unten sind verschieden – sodass sie neben den wichtigen Funktionen auch interessante chemische und physikalische Eigenschaften aufweisen. Für Forscher sind Grenzflächen jedoch schwierig zu untersuchen, weil Sie eine sehr geringe Menge an Molekülen aufweisen. Zum Vergleich: Ein Wassertropfen besteht aus ungefähr 1022 Molekülen. Davon befinden sich nur 1015 Moleküle an der Grenzfläche.

Seit den ersten Entwicklungen in der wissenschaftlichen Oberflächenforschung in den 1960er Jahren sind große Fortschritte gemacht worden und heutzutage ist klar, dass Grenzflächen eine sehr wichtige Rolle in vielen Prozessen spielen. Um diese auch tatsächlich zu verstehen, ist es notwendig, die Grenzflächenforschung weiter zu entwickeln, sodass auch sehr komplexe Prozesse in situ studiert werden können.

Die Summenfrequenzerzeugung (engl. Sum Frequency Generation, SFG)

Eine Methode dafür besteht in der Nutzung von infrarotem Licht. Mit diesem können Grenzflächen beobachtet werden, ohne dass sie zum Beispiel mechanisch oder chemisch modifiziert werden müssen. Das Licht kommt von hochenergetischen Femtosekundenlaserquellen, welche einen sehr kurzen und intensiven Blitz erzeugen. Wenn man nun solche Infrarotphotonen von einer Grenzfläche reflektieren lässt und gleichzeitig mit einem anderen solch intensiven Laserstrahl kombiniert, entstehen Photonen mit einer neuen Farbe. Diese Photonen sind nur durch Interaktion mit der Grenzfläche entstanden. Dadurch vermitteln sie Informationen, die nur mit den Molekülen an der Grenzfläche zu tun haben. Alle anderen Moleküle im „Bulkmedium“ sind nicht an dieser Information beteiligt (Abb. 1).

Während für die Untersuchung der Grenzfläche zwei hochenergetische Laserpulse notwendig sind, lassen sich mithilfe des Infrarotlichts molekülspezifische Informationen erhalten. Das Infrarotlicht kann eine spezifische Interaktion mit den Molekülen eingehen, da diese immer aus ständig oszillierenden Atomen aufgebaut sind. Wenn die Energie eines infraroten Photons mit der Energie eines Vibrationsübergangs übereinstimmt, wird der Prozess der Summenfrequenzerzeugung verstärkt. Durch Messung der frequenzabhängigen Intensität solcher verstärkten Photonen erhält man ein sehr genaues Bild von den wenigen Molekülen an der Grenzfläche. Diese Methodik der Schwingungs-Summenfrequenzerzeugung wurde erstmal im Jahr 1987 demonstriert [2] und hat sich seither stark entwickelt: von einem sehr komplizierten und Zeit verschlingenden Experiment, das lediglich von ein paar Enthusiasten an sehr einfachen Modellgrenzflächen durchgeführt wurde, hin zu einer Methodik, mit der komplexe Prozesse und Moleküle beobachtet werden können.

Auch wenn die (Schwingungs-)SFG-Methodik inzwischen eine solche Entwicklung durchgemacht hat, birgt diese Technik den großen Nachteil, dass sie flache Oberflächen braucht, um ein Reflektionsexperiment durchzuführen. Das bedeutet, man kann nur Prozesse an flachen Systemen untersuchen. Jedoch kommen in der Natur größtenteils gekrümmte oder sphärische Objekte mit Mikro- und Nanostrukturen vor (zum Beispiel Emulsionen, wie Zellen und alle Teile von Zellen), die manchmal auch noch in andere Medien eingebettet sind.

SFG-Streuung

Die Lösung für diese Herausforderung liegt in der Kombination der oben genannten SFG-Methodik mit Lichtstreuung [3], illustriert in Abbildung 2.

Wenn beispielsweise ein infrarotes und ein sichtbares Photon durch eine Dispersion von Mikropartikeln geschickt werden, entsteht ein Summenfrequenzphoton an der Grenzfläche von Partikel und Medium. Die neu erzeugten Photonen werden von der Oberfläche gestreut und erzeugen ein Streumuster. Dieses Streumuster liefert Informationen über die Form der Teilchen, während die Frequenzverteilung Informationen über die molekulare Zusammensetzung an der Grenzfläche beinhaltet.

Das Potenzial dieser neuen Streuungsmethodik liegt darin, den molekularen Ablauf (Aufbau, Bewegung und Dynamik) im Detail zu untersuchen, welcher die Eigenschaften von Nanopartikeln, Emulsionen und – allgemein – Kolloiden bestimmt. Der folgende Abschnitt stellt die Wirkung des Zusammenspiels von Grenzflächenmolekülen mit den benachbarten Medien dar, verdeutlicht am Phasenverhalten einer kolloidalen Lösung.

Haarige Kugeln kleben besser

Lösungen mit Kolloidteilchen (von kólla = Leim) können verschiedene Zustände einnehmen: gasartig oder nahezu fest als gegenüberliegende Extreme; dazwischen kommen sie auch in Form von Flüssigkeiten oder Gelen vor. An Kolloiden lassen sich gut bio-molekulare Wechselwirkungen untersuchen. Das Phasenverhalten von kolloidalen Lösungen hängt von den Wechselwirkungen der Teilchen ab (welche z.B. durch Temperaturveränderungen beeinflusst werden können). Diese Wechselwirkungen stehen wiederum in engem Zusammenhang mit der Beschaffenheit / Struktur der Teilchenoberfläche (Abb. 3).

Mit einem SFG-Streuungsexperiment können die Vorgänge an der Oberfläche der Kolloidteilchen während einer temperaturbedingten Phasenänderung erforscht werden.
Anhand des kolloidalen Modellsystems von Glasteilchen, deren Oberflächen mit organischen Ketten verändert werden, diskutiert die Fachwelt die Rolle der Teilchenoberfläche auf das Phasenverhalten. Die neue Streuungsmethodik zeigt nun, dass der Übergang von einer flüssigen Lösung hin zu einem sehr zähen Gel einher geht mit der regelmäßigen Ordnung der Oberflächenketten [4, 5].

Diese regelmäßige Ordnung wiederum verstärkt die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen, so dass diese gerinnen bzw. verklumpen. Dabei geht der Ordnungsprozess in zwei Schritten vor sich: zuerst dehnen sich die Kohlenstoffketten an der Grenzfläche gerade aus, wodurch das Gel entsteht. Selbst in diesem Zustand steigt der Ordnungsgrad der Kohlenstoffketten einige Tage weiter an. Infolge dessen steigt die Dichte, was wiederum die Van-der-Waals-Kräfte zwischen den Teilchen verstärkt. Das führt dazu, dass sich der so genannte „Gel-Alterungsprozess“ verlangsamt.

Geometrie und Chiralität

Viele Grenzflächen in der Natur sind aufgebaut aus chiralen Molekülen wie etwa Proteinen oder Peptiden. Isomere eines optisch aktiven (chiralen) Moleküls haben den gleichen chemischen Aufbau, können aber nicht zusammengeführt werden: Sie sind ihr gegenseitiges Spiegelbild, wie die linke und die rechte Hand des menschlichen Körpers.

Da zwei solcher „Spiegel-Moleküle“ von den gleichen Atomen in der gleichen Ordnung aufgebaut sind, gibt es nur sehr wenige Techniken, um zwischen ihnen zu unterscheiden. Dies ist jedoch von großem Interesse, weil in der Natur sehr oft nur eines der beiden Spiegel-Moleküle die entscheidende Funktion inne hat.

Theoretische Berechnungen [6] sagen voraus, dass es mit der neuen Streuungstechnik möglich sein wird, selektiv chirale oder nicht-chirale Moleküle zu untersuchen, indem man die Geometrie der eintreffenden Strahlen verändert. Zudem haben unterschiedlich große Objekte verschiedene Streuungsmuster (Abb. 4).

Diese Ergebnisse zeigen, dass die Fortschritte in der Messtechnik es erlauben, immer komplexere Formen und Zusammensetzungen von Grenzflächen zu untersuchen. Eine mögliche, zukünftige Anwendung ist die Untersuchung verschiedener Membranen sowohl in der Zellwand als auch im Zellinneren. Die verschiedenen Membranmoleküle bewirken ihre eigene, typische Frequenzverteilung, während die verschiedenen Membranen ihre charakteristischen Streumuster erzeugen. Die erfolgreiche praktische Umsetzung dieser Messungen in situ würde es ermöglichen, enorme Informationsmengen über biologische Systeme zu gewinnen.

Originalveröffentlichungen

C. M. Johnson, A. B. Sugiharto and S. Roke:
Surface and bulk structure of poly(lactic acid) films studied by vibrational sum frequency spectroscopy.
Chemical Physics Letters 449, 191-195 (2007).
Y. R. Shen:
Surface properties probed by second-harmonic and sum-frequency generation.
Nature 337, 519-525 (1998).
S. Roke, W. G. Roeterdink, J. E. G. J. Wijnhoven, A. V. Petukhov, A. W. Kleyn and M. Bonn:
Vibrational sum frequency scattering from a sub-micron suspension.
Physical Review Letters 91, 258302-1-258302-4 (2003).
S. Roke, J. Buitenhuis, A. van Blaaderen and M. Bonn:
Molecular view of colloidal gelation.
PNAS 103, 13310-13314 (2006).
S. Roke, J. Buitenhuis, M. Bonn and A. Van Blaaderen:
Interface-solvent effects during colloidal phase transitions.
Journal of Physics: Condensed Matter 17, S3469-S3475 (2005).
A. G. F. de Beer and S. Roke:
Sum frequency generation scattering from the interface of an isotropic particle: geometrical and chiral effects.
Physical Review B 75, 245438-1 - 245438-8 (2007).
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