Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie

Das gelöste organische Material der Meere – eines der größten Rätsel in den Meereswissenschaften

Autoren
Dittmar, Thorsten; Schloesser, Manfred
Abteilungen
Zusammenfassung
Die Max-Planck-Forschungsgruppe für Marine Geochemie beschäftigt sich mit im Meer gelöstem organischen Material, einer bedeutenden Komponente globaler Stoffkreisläufe. Das organische Material akkumuliert im Meer seit Jahrtausenden, wobei es in erster Linie mikrobiellen Ursprungs ist. Warum eine Anreicherung dieses Materials zum größten organischen Kohlenstoffspeicher der Meere stattfindet, ist unklar. Die Arbeitsgruppe setzt unter anderem hoch auflösende Massenspektrometrie ein, um die grundlegenden Fragen zur Umsetzung des organischen Materials im Meer zu beantworten.

Eine Entdeckung vor hundert Jahren: Die Bedeutung der gelösten Organik im Meer

Anfang des letzten Jahrhunderts machte der Göttinger Wissenschaftler August Pütter eine bemerkenswerte Entdeckung, und im Jahr 1907 schrieb er in der Zeitschrift für Allgemeine Physiologie [1]: „Ein Vergleich der Stoffmengen, die im Meere gelöst sind mit jenen, die in Form von Organismen darin leben, zeigt, wie außerordentlich gering die Masse der geformten Stoffe jener der ungeformten gegenüber ist. […] Es ergibt sich, dass 23000-mal so viel Kohlenstoff in gelösten Verbindungen vorhanden ist, wie in Form von Organismen.“

Nach dieser Erkenntnis erscheint das Meer als eine nährreiche Suppe voller gelöster organischer Substanzen, in der eine vergleichsweise geringe Anzahl von Organismen lebt; es ist sozusagen eine Art Garten Eden für konsumierende Lebewesen. Folgerichtig formulierte Pütter die provokative Theorie, „[…] dass die gelösten Stoffe als Nahrung niederer Tiere im Meere eine viel größere Bedeutung haben, wie die Leiber der Organismen. […] Der gewaltige Reichtum des Meeres an gelösten Kohlenstoffverbindungen […] ist ein neues Moment für die Lebensbedingungen im Meere.“

Schon zu Lebzeiten Pütters wurden seine ersten Messungen revidiert: Die Konzentration des gelösten organischen Materials war nämlich überschätzt und die Biomasse mariner Organismen unterschätzt worden. Nach neuestem Kenntnisstand hat sich das Bild Pütters allerdings nicht grundlegend geändert: In den gelösten organischen Verbindungen sind etwa 200-mal mehr Kohlenstoff und 80-mal mehr Stickstoff gebunden als in allen marinen Organismen zusammen (Abb. 1). Inzwischen konnte aber eindeutig belegt werden, dass sich, entgegen Pütters Vermutung, die meisten mehrzelligen Lebewesen im Meer nicht von gelöstem organischen Material ernähren, und selbst Mikroorganismen finden an dem gelösten organischen Material der Tiefsee kaum Geschmack - es erreicht daher ein Radiokarbonalter von mehreren tausend Jahren. Dies ist in Hinblick auf das enorme Überangebot an gelöster Nahrung sehr erstaunlich. Besonders bizarr erscheint es in subtropischen Ozeanregionen, den „Wüsten der Meere“, in denen das Algenwachstum aufgrund Nährstoffmangels auf ein Mindestmaß reduziert ist. Dabei könnten dort durch die Umsetzung des gelösten organischen Materials ausreichend Energie und Nährstoffe gewonnen werden, um ein produktives Nahrungsnetz zu ermöglichen. Aber auch dort werden der organisch gebundene Kohlenstoff, Stickstoff und andere essenzielle Elemente kaum genutzt - wie auf einem Oktoberfest, auf dem zwar ein paar Weißwürste konsumiert, aber die großen Mengen an Bier über tausende von Jahren unangerührt bleiben.

Es ist eines der größten Rätsel in den Meereswissenschaften, warum eine so große Menge an gelöstem organischen Material von marinen Organismen nicht genutzt wird. Über mehrere tausend Jahre erfolgte eine beträchtliche Akkumulation in den Ozeanen. In einem Liter Meerwasser sind rund 1 Milligramm organisches Material gelöst. Im Vergleich zu den 35 Gramm gelösten Salzen erscheint das wenig, wenn man aber das Volumen der Weltmeere berücksichtigt, ergeben sich insgesamt 700 Milliarden Tonnen organischen Kohlenstoffs (Abb. 1). Dies entspricht in etwa der Menge an Kohlenstoff, die in der gesamten Biomasse im Meer und auf den Kontinenten gespeichert ist, inklusive aller Wälder. Um die Bedeutung dieser großen Menge an Kohlenstoff zu veranschaulichen, hier ein theoretisches Gedankenspiel: Würde sich die Konzentration des gelösten organischen Materials auf Kosten des atmosphärischen Kohlendioxides von 1 auf 1,5 Milligramm pro Liter erhöhen, würde der atmosphärische Kohlendioxidgehalt von gegenwärtig etwa 380 ppm bis auf das Niveau der letzten Eiszeit absinken (etwa 190 ppm) - mit den bekannten Konsequenzen für das Weltklima. Entsprechend enorm ist demnach die potenzielle Kapazität der Meere, den durch die Menschheit verursachten Anstieg des atmosphärischen Kohlendioxidgehaltes zu kompensieren. Trotz dieser Bedeutung für globale Kohlenstoffflüsse und das Weltklima sucht man im letzten IPCC-Bericht (Intergovernmental Panel on Climate Change [2]) jedoch vergeblich nach dem gelösten organischen Material der Meere. Der Grund hierfür ist ein äußerst lückenhafter Wissensstand, der es zurzeit nicht erlaubt, das gelöste organische Material sinnvoll in globale Klimamodelle zu integrieren.

Die vermutlich größte Lücke in unserem Wissensstand zum gelösten organischen Material ist dessen chemische Zusammensetzung [3]: Die Struktur von über 95% der im Meer gelösten Moleküle ist unbekannt, weniger als 5% weisen bekannte chemische Strukturen auf. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich global um einen der größten Speicher des aktiven Kohlenstoffkreislaufes handelt, ist diese Wissenslücke beunruhigend. Erst wenn grundlegende Informationen zur molekularen Struktur des gelösten Materials vorliegen, werden die großen Fragen zu dessen Bedeutung im globalen Kohlenstoffkreislauf geklärt werden können: Warum wird dieses Material von marinen Organismen nicht umgesetzt? Warum wird es nach mehreren tausend Jahren dann schlussendlich doch abgebaut? Und woher stammt es?

Zur letzten Frage hatte zwar Pütter schon 1907 eine Antwort: „[…] so können wir die Frage, woher die gelösten organischen Stoffe im Meere stammen, mit großer Wahrscheinlichkeit dahin beantworten: Die gelösten Kohlenstoffverbindungen des Meeres sind Produkte des Betriebsstoffwechsels der Meeresorganismen, speziell der Algen und Bakterien.“ Inzwischen ist der Beitrag mariner Mikroorganismen mithilfe molekularer Methoden bewiesen worden [4]. Andere Quellen, wie der Eintrag von fossilen Stoffen aus tiefen Meeressedimenten, sind aber auch wieder in den Mittelpunkt einer neuen Diskussion gerückt [3].

Warum ist selbst nach über hundert Jahren Forschung so wenig über das gelöste organische Material im Meer bekannt?

Die größte Menge des gelösten organischen Materials war umfangreichen Umsetzungsprozessen ausgeliefert, sodass nur molekulare Überreste Aussagen über die ursprüngliche Quelle des organischen Materials und seine Entstehungsgeschichte ermöglichen. Fortschritte in der organischen Geochemie und unser Kenntnisstand zur Erdgeschichte sind daher eng mit der Entwicklung neuartiger Analysentechniken verbunden. Meerwasser gehört zu den komplexesten molekularen Mischungen und ist der analytischen Chemie daher kaum zugänglich. Die molekulare Vielfalt und die starken Wechselwirkungen zwischen den Einzelkomponenten machen die molekulare Strukturaufklärung fossiler Materialen zu einer der größten Herausforderungen der analytischen Chemie.

Die neu berufene Max-Planck-Forschungsgruppe für Marine Geochemie des Max-Planck-Instituts in Bremen, angesiedelt an der Universität Oldenburg, hat sich die molekulare Strukturaufklärung komplexer organischer Mischungen zur Aufgabe gemacht. Hierdurch sollen Antworten auf die wichtigsten Fragen zum gelösten organischen Material der Meere gefunden werden. Die Analytik komplexer organischer Systeme hat sich in den letzten Jahren in außergewöhnlicher Weise fortentwickelt, insbesondere neuartige Techniken in der Massenspektrometrie sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen (Abb. 2). Das in Deutschland erste ultrahoch auflösende Massenspektrometer mit einer magnetischen Feldstärke von 15 Tesla soll im Herbst 2010 in der Max-Planck-Forschungsgruppe in Betrieb genommen werden. Somit wird eine in der Meeresforschung weltweit einzigartige Infrastruktur zur Verfügung stehen, die grundlegende neue Einblicke in die molekulare Zusammensetzung von Meerwasser und damit globale Stoffkreisläufe erlaubt.

Im Folgenden soll an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, wie mithilfe dieser neuartigen Analysenmethode konkrete Fortschritte in der Meeresforschung erzielt werden konnten. Über ultrahoch auflösende Massenspektrometrie (Fourier-Transformations-Ionen-Zyklotronresonanz-Massenspektrometrie oder FT-ICR-MS) war es zum ersten Mal gelungen, exakte Massen einzelner Moleküle auch in der komplexen Mischung von Meerwasser zu bestimmen [3, 5]. Die Massengenauigkeit dieser Technik hat ein Maß erreicht, mit dem der sogenannte Massendefekt einzelner Moleküle, das heißt die leichte Abweichung von der nominellen (ganzzahligen) Masse, bestimmbar ist (Abb. 2). Der Massendefekt basiert auf der Tatsache, dass Protonen und Neutronen etwas von der Masse 1 Dalton abweichen und auch Elektronen noch zusätzlich eine geringe Masse aufweisen. Das höchst auflösende Massenspektrometer kann zum Beispiel die Masse eines Moleküls von 500 Dalton auf weniger als 0,2 Millidalton genau bestimmen, was in etwa der Hälfte der Masse eines Elektrons entspricht. Um diese Massengenauigkeit zu erreichen, sind magnetische Feldstärken von bis zu 15 Tesla nötig. Über die genaue Masse eines Moleküls kann dann die Anzahl von Protonen, Neutronen und Elektronen in diesem Molekül bestimmt werden. Mit einfachen Rechenroutinen und stöchiometrischen Regeln werden dann schließlich Summenformeln aus den genauen Massen berechnet.

Erst durch die Anwendung der hoch auflösenden Massenspektrometrie wurde vor wenigen Jahren die extreme molekulare Vielfalt im Meer erkennbar. Inzwischen konnten zehntausende von Summenformeln im Meerwasser bestimmt werden [3]. Für jede Summenformel gibt es naturgemäß eine Vielzahl von Strukturisomeren. Die Identifizierung dieser Strukturisomere wird weiterhin eine der größten analytischen Herausforderungen bleiben. Die ultrahoch auflösende Massenspektrometrie ist bisher die einzige Technik, die Untersuchungen an noch unbekannten individuellen Molekülen im Meerwasser ermöglicht. Somit wird man auch bei dem Versuch, weitere Molekülstrukturen im Meerwasser zu identifizieren, auf diese neuartige Technologie angewiesen sein.

Der Nachweis einer erstaunlichen Substanzklasse in der Tiefsee

Bei ersten Untersuchungen mit der neuartigen Massenspektrometrie wurde im tiefen Ozean eine Substanzklasse nachgewiesen, deren Existenz in der Tiefsee zunächst erstaunt: funktionalisierte polyzyklische Aromaten mit sechs und mehr kondensierten Ringen [6]. Dies ist erstaunlich, da kein Organismus bekannt ist, der diese Komponenten synthetisieren kann. Diese Verbindungen können nur bei starker Erhitzung (Thermogenese) organischer Substanz entstehen, entweder bei Verbrennungsprozessen an Land oder durch Erdwärme in tiefen Sedimentschichten. Die in der Tiefsee nachgewiesenen Polyaromaten sind daher ein Indiz für vorangegangene thermische Überarbeitung des organischen Materials. In jüngsten Untersuchungen konnte außerdem die weite Verbreitung dieser Substanzen in der Tiefsee nachgewiesen werden [3]. Insbesondere ältere Wassermassen der Tiefsee, die noch nicht mit industriellen Produkten (zum Beispiel Fluorchlorkohlenwasserstoffen, FCKW) kontaminiert sind, weisen erhöhte Konzentrationen der thermogenen Komponenten auf. Dies ist überraschend, da anthropogene Prozesse heutzutage die größte Quelle von Verbrennungsprodukten darstellen und daher erhöhte Konzentrationen in jüngeren Wassermassen zu erwarten gewesen wären. Eine natürliche Quelle des thermogenen Materials und dessen Freisetzung aus tiefen Sedimenten ist daher eher wahrscheinlich.

Die Freisetzung gelöster organischer Substanzen aus tiefen Sedimenten ist ein natürlicher Prozess, der fossile Ablagerungen wieder in aktive Kreisläufe überführt (Abb. 1). Wahrscheinlich wird die natürliche Mobilisierung fossiler Kohlenstoffspeicher unterschätzt, da der Weg über das gelöste organische Material bisher nicht bekannt war. Die Gesamtmenge des thermogenen Materials in der Tiefsee wird auf mindestens 17 Milliarden Tonnen Kohlenstoff geschätzt [3], die jährliche Umsatzrate auf etwa 0,02 Milliarden Tonnen. Zum Vergleich: Die Verbrennung fossiler Energieträger durch den Menschen setzt rund das Doppelte dieser Menge an Kohlendioxid pro Tag frei. Auch wenn alle bekannten natürlichen Prozesse (inklusive Vulkanismus und Verwitterung) zusammengerechnet werden, übertreffen die anthropogenen Freisetzungsraten von fossilem Kohlenstoff die natürlichen um mindestens zwei Größenordnungen. Die gegenwärtige Freisetzung fossilen Kohlenstoffs übertrifft somit alle bekannten natürlichen Prozesse und Ereignisse. Doch wird dieser anthropogene Eingriff nur ein kurzes Intermezzo in der Erdgeschichte sein, denn die gegenwärtige Nutzung fossiler Energieträger wird auch nach großzügigsten Schätzungen nur noch wenige hundert Jahre anhalten, dann werden die kommerziell nutzbaren Vorräte erschöpft sein. Über geologische Zeiträume werden die Umsetzung des gelösten organischen Materials und andere natürliche Prozesse dann wieder den Kohlenstoffkreislauf dominieren.

Abschlussgedanken

Obwohl Pütter in seiner Kernhypothese, dass sich Meerestiere in erster Linie von gelöstem organischen Material ernähren, falsch lag, ist die Diskussion, die mit seinen Arbeiten 1907 begann, von höchster Aktualität. Es ist heute nicht mehr die Frage, ob sich Meeresorganismen von dem gelösten organischen Material der Tiefsee ernähren, sondern warum sie es nicht tun. Massenspektrometrische Analysen haben gezeigt, dass die meisten gelösten Moleküle im Meer von kleiner Molekülgröße sind (kleiner als 700 Dalton); klein genug, um von Mikroorganismen direkt aufgenommen werden zu können. Sauerstoff ist in der Tiefsee zur Oxidation des organischen Materials in ausreichendem Maße vorhanden, dennoch wird dieses enorme Reservoir an Energie und Materie nur sehr zögerlich von Mikroorganismen genutzt. Es bleibt also die Frage, warum eine so große Menge organischen Materials der schnellen Umsetzung durch Mikroorganismen entzogen ist. Die Klärung dieser Frage ist von grundlegender Bedeutung für unser Verständnis mikrobieller Vorgänge im Meer und globaler Stoffkreisläufe. Erste Arbeiten mit hoch auflösender Massenspektrometrie haben gezeigt, dass mit dieser neuartigen Analysetechnik in Kombination mit mikrobiologischen Ansätzen nach über hundert Jahren Forschungsgeschichte endlich Antworten auf viele der grundlegenden Fragen gefunden werden können.

Originalveröffentlichungen

A Pütter:
Der Stoffhaushalt des Meeres.
Zeitschrift für Allgemeine Physiologie 7, 321-368 (1907).
Intergovernmental Panel on Climate Change:
Climate Change 2007 - The physical science basis.
Cambridge University Press, Cambridge (2007).
T. Dittmar, J. Paeng:
A heat-induced molecular signature in marine dissolved organic matter.
Nature Geoscience 2, 175-179 (2009).
T. Dittmar, H.-P. Fitznar, G. Kattner:
Origin and biogeochemical cycling of organic nitrogen in the eastern Arctic Ocean as evident from D- and L-amino acids.
Geochimica et Cosmochimica Acta 65, 4103-4114 (2001).
B. P. Koch, M. Witt, R. Engbrodt, T. Dittmar, G. Kattner:
Molecular formulae of marine and terrigenous dissolved organic matter detected by electrospray ionisation Fourier transform ion cyclotron resonance mass spectrometry.
Geochimica et Cosmochimica Acta 69, 3299–3308 (2005).
T. Dittmar, B. P. Koch:
Thermogenic organic matter dissolved in the abyssal ocean.
Marine Chemistry 102, 208–217 (2006).
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