Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Biomedizin in Afrika

Autoren
Rottenburg, Richard
Abteilungen

Max Planck Fellow Gruppe "Law, Organisation, Science and Technology" (Prof. Dr. Richard Rottenburg)
MPI für ethnologische Forschung, Halle/Saale

Zusammenfassung
Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung untersucht, wie die Biomedizin durch ihre Aktivitäten in Afrika geprägt wird. Biomedizin wird als ein Ensemble von Ideen, Technologien und Praktiken verstanden, das der Krankheitsvorsorge und Heilung dient, gleichzeitig aber die menschlichen Körper an eine politische Ordnung bindet. Afrika ist mehr als jede andere Region weltwirtschaftlich marginalisiert und ist deshalb zu einem Ort der Konflikte, der Ausnahmezustände und damit auch zu einem Laboratorium für soziale, politische und juridische Lösungsmodelle geworden.

Von einem ethnologischen Forschungsprogramm zum Thema Medizin in Afrika erwartet man in der Regel, dass es sich mit Ethnomedizin als indigenem Wissen befasst: also im Wesentlichen mit Religion, Ritual und Heilung, mit Krankheit als Folge verletzter sozialer Beziehungen sowie mit Kräutermedizin. Mit solchen Fragen beschäftigt sich der gewählte Ansatz nur indirekt. Konzentriert sich ein Forschungsprogramm hingegen auf moderne Medizin – also Biomedizin – in Afrika, wird angenommen, dass es sich mit Implementierungsfragen und -problemen beschäftigt. Auch diese haben für das Projekt nur marginale Bedeutung. Im Zentrum der Forschung steht vielmehr die Frage nach der Prägung der Biomedizin durch ihr gegenwärtiges Engagement in Afrika.

Moderne Konstruktionen medizinischer Traditionen

Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung konzentriert sich auf einen Themenbereich, der sich aus der Schnittfläche von Recht, Organisation, Wissenschaft und Technik ergibt. Das Forschungsprogramm der Gruppe folgt damit einer aktuellen Hinwendung der Ethnologie zu den „härteren“ und formalisierteren Bereichen von Vergesellschaftung, welche hauptsächlich mit der letzten Globalisierungswelle zusammenhängt und von der Soziologie der Industriegesellschaften schon länger vollzogen wurde [1]. Die neue Globalisierungswelle setzte ungefähr Mitte der 1980er Jahre ein und ließ so gut wie keinen Ort dieser Welt von global zirkulierenden Ideen, Artefakten und Organisationsmodellen unbehelligt [2]. Nahezu überall finden grundlegende Wandlungsprozesse statt, deren Interpretation noch weitgehend aussteht.

Das hier vorgestellte Forschungsprogramm beschränkt sich regional auf Afrika in seinen globalen Bezügen und thematisch auf Biomedizin. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Konzepte von Körper, Gesundheit, Krankheit und Heilung einerseits historisch und kulturell verschieden, andererseits aber universell über Versuch-und-Irrtum-Verfahren mit der biologischen Realität verbunden sind. Ebenso wird gewissermaßen umgekehrt davon ausgegangen, dass das Kohärenzprinzip im Bereich der Heilungspraktiken weltweit meist mühelos verlassen wird, sodass überall plurale Herangehensweisen befolgt werden, die reibungslos nebeneinander existieren, obschon sie sich manchmal theoretisch wechselseitig ausschließen. Der weltweite Siegeszug der Biomedizin hebt diese Pluralisierung zwar nicht auf, verändert aber den Geltungsbereich anderer Heilungspraktiken und -theorien erheblich [3].

In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen zu beachten, dass „modern“ und „traditional“ eine binäre Klassifikation ist, die eben gerade nicht in der Sache gründet, sondern nur als dynamischer Prozess wechselseitiger Hervorbringung durch die Klassifikation selbst zu verstehen ist. Die Bedeutungen ändern sich mit dem Wechsel des Bezugsrahmens. So wie der Kolonialismus die meisten afrikanischen Heilpraktiken zu traditionalen Praktiken werden ließ, lässt die neue genetische Medizin einen Großteil der konventionellen modernen Biomedizin traditional erscheinen.

Für das koloniale und postkoloniale subsaharische Afrika lässt sich sagen, dass das Zusammenspiel und die wechselseitige Hervorbringung translokal zirkulierender, biomedizinischer und lokal tradierter Heilungsmodelle nicht immer begrüßenswerte – im Sinne von: wirksame – Konstellationen hervorgebracht haben. Vielmehr kam und kommt es auch weiterhin zu wechselseitigen Blockierungen, wenn beispielsweise auf afrikanischen Märkten Antibiotika sortiert nach Farben als Stärkungspillen verkauft werden, und wenn umgekehrt tradierte Heilungskonzepte durch die offizielle Geltung der Biomedizin hauptsächlich in Nischen weiterentwickelt werden, die nur einer eingeschränkten öffentlichen Debatte ausgesetzt sind.

Die einfache, modernisierungstheoretisch inspirierte Antwort darauf lautet: Es handelt sich hier um ein Übergangsstadium, das durch Schulbildung, Aufklärung und wachsenden Wohlstand überwunden werden wird. Nun hält dieses vermeintliche Übergangsstadium aber schon lange an, ohne dass die Geltung tradierter Heilmethoden sinkt und ohne dass die Biomedizin einfach nur stetig wachsende Erfolge verzeichnen könnte. Vor allen Dingen aber vergrößert die moderne Biomedizin mit ihrem Siegeszug gleichzeitig ihre eigene systeminterne Skepsis und kann nicht mehr mit demselben Selbstbewusstsein auftreten, wie noch vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren.

Die Frage, was wirksam ist, unterstellt, dass ein Zweck unzweifelhaft gegeben ist und es nur noch um das geeignete Mittel geht. Doch die ohnehin problematische Auffassung der Zweck-Mittel-Relation, wie sie die säkulare Moderne hervorgebracht hat, wird insbesondere im medizinischen Bereich zunehmend fragwürdig (etwa bei der Verdopplung der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert in den industrialisierten Ländern des Nordens, wobei viele der zusätzlich gewonnen Jahre mit degenerativen Krankheiten und besonders Altersdemenz verbracht werden). Zudem wächst in den modernen Biowissenschaften das Bewusstsein darüber, dass die wissenschaftlich-analytischen Prinzipien der Zurückführung des Ganzen auf seine Teile sowie der linearen Kausalität nicht unbedingt auf das Phänomen „Leben“ anwendbar sind. In den Lebenswissenschaften wächst damit das Interesse, der geistigen Gefangenschaft in der Methodik der eigenen Disziplin zu entkommen und dabei mit den Geisteswissenschaften zusammen zu arbeiten [4].

Biomedizin und gesellschaftliche Ordnung

Die Frage nach dem biomedizinischen Engagement in Afrika scheint also vertrackter zu sein als die Frage nach den Bedingungen der Verbreitung einer bekannten Wahrheit. Die Forschergruppe untersucht, wie die moderne Biomedizin als Forschung und Heilpraxis durch ihr Engagement in Afrika geprägt wird. Damit wird auch die umgekehrte Frage gestellt, wie afrikanische Gesellschaften sich im Zuge ihrer laufenden biomedizinischen Durchdringung transformieren.

Biomedizin wird als ein Ensemble von Ideen, Technologien und Praktiken verstanden, das der Krankheitsvorsorge und Heilung dient, gleichzeitig aber die menschlichen Körper an eine politische Ordnung bindet. Diese politische Ordnung ist wiederum prägend für die Entfaltung der Biomedizin. Soziologen, Historiker und Anthropologen haben schon länger damit begonnen, die Fabrikation biomedizinischen Wissens in Laboratorien und Kliniken zu ergründen [5, 6, 7]. Es gibt jedoch nur wenige Versuche, die Fabrikation biomedizinischen Wissens in den schwierigeren Terrains nichtwestlicher Länder zu untersuchen, wo die Rahmenbedingungen oft durch humanitäre Krisen, politische Ausnahmezustände, Flucht, Krieg und Epidemien geprägt werden. Das Programm konzentriert sich auf diese Problemlagen in fünf afrikanischen Ländern: Côte d’Ivoire, Kenia, Tansania, Angola und Südafrika.

Afrika spielt eine Schlüsselrolle beim Verständnis gegenwärtiger globaler Transformationen sozialer, politischer und juridischer Formen der Gouvernementalität. Diese Transformationen gehen mit der Deregulierung von Märkten, der Rückentwicklung und Dezentralisierung des Nationalstaates, dem Subsidiaritätsprinzip und einer wachsenden Mediatisierung einher, was wiederum neue Formen der Subjektbildung zur Folge hat (wie etwa die Figur des autonomen, frei entscheidenden, selbstverantwortlichen Subjektes). Der afrikanische Kontinent ist in der globalen politischen Ökonomie mehr als jede andere Region marginalisiert und deshalb zu einem Ort der Konflikte, der Ausnahmezustände und damit auch zu einem riesigen Laboratorium für das Experimentieren mit Lösungsmodellen geworden. Aus diesem Grund lassen sich sowohl die Verwerfungen der Weltgesellschaft als auch die global zirkulierenden, zukunftsweisenden Lösungsmodelle – einschließlich des Konzeptes der universellen Menschenrechte, die notfalls gegen staatliche Souveränitätsansprüche zu verteidigen sind – hier am besten untersuchen.

In diesem Zusammenhang, vermuten die Forscher, spielt die Biomedizin eine Schlüsselrolle bei den sich neu herausbildenden Formen der Gouvernementalität, der Subjektbildung und der humanitären Intervention [8]. Die laufenden Entwicklungen bewirken eine weitgehende Rekonfiguration des Verhältnisses von Staat, Souveränität, zivilgesellschaftlicher Ordnung, Gesundheitsversorgung, Individuum und Körper.

Die Legitimation externer Interventionen in afrikanische Verhältnisse hat sich in den letzten zwanzig Jahren nach und nach vom Konzept der „nachholenden Entwicklung“ zum Konzept der „humanitären Intervention“ in Ausnahmezustände verschoben. Je extremer der Ausnahmezustand, je legitimer erscheint eine Intervention, die eine Störung zu „heilen“ sucht. Es zeichnet sich eine neue Herrschaftsform ab, deren Legitimation in ihrer therapeutischen Wirksamkeit liegt. Hier fungiert das Attribut therapeutisch sowohl als Metapher für die Behebung einer politischen Anomalie als auch im Wortsinn als medizinisch-therapeutische Bemühung, bedrohte Körper zu retten, sofern dies stets das unmittelbare Anliegen ist, das die Intervention im Fall von Krieg, Vertreibung und Naturkatastrophe auslöst.

Während Afrika medial vor allem in Ausnahmezuständen in Erscheinung tritt, gibt es sehr wohl auch ein alltägliches Afrika ohne Katastrophen, wenn auch mit viel Armut. Hier finden weniger auffällige aber nicht weniger wichtige Bestrebungen statt, biomedizinische Gesundheitsversorgung und Forschung unter den Bedingungen problematischer staatlicher Strukturen und neoliberaler Reformen zu gestalten. Zu dem gegenwärtig in diesem Kontext bevorzugten Privatisierungs- und Subsidiaritätsprinzip gehört auch die verstärkte Einbeziehung lokaler Wissensformen. Es kommt hier zu neuen Anerkennungsprozessen traditionaler Heilpraktiken, die von afrikanischer Identitätspolitik, aber auch den Marktinteressen internationaler Pharmakonzerne sowie der allseits geforderten Etablierung intellektueller Eigentumsrechte verstärkt werden. Diese Anerkennungsprozesse führen zur Standardisierung und Universalisierung traditionaler Heilpraktiken, sofern sie mit biomedizinischen Methoden auf ihre Wirksamkeit untersucht werden.

Umgekehrt, so die wichtigste Hypothese der Forscher, bleiben aber auch die biomedizinischen Methoden durch ihre Anwendungen in afrikanischen Kontexten nicht unberührt. Es sind vor allen Dingen diese Prozesse, die das Forschungsprogramm genauer untersucht – an den Schnittstellen zwischen Biomedizin und traditionaler Medizin, im Rahmen des biomedizinischen Engagements in krisenhaften Situationen und bei der Einrichtung neuer Formen des Regierens.

Originalveröffentlichungen

S. Jasanoff:
Designs on nature: science and democracy in Europe and the United States.
Princeton University Press, Princeton 2005.
R. Rottenburg:
Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe.
Lucius, Stuttgart 2002.
S. R. Whyte, S. van der Geest, A. Hardon:
Social lives of medicines.
Cambridge University Press, New York 2002.
H.-J. Rheinberger:
Historische Epistemologie zur Einführung.
Junius, Hamburg 2007.
H. Collins, T. Pinch:
Dr. Golem: how to think about medicine.
University of Chicago Press, Chicago 2005.
M. Lock, A. Young, A. Cambrosio:
Living and working with the new medical technologies: intersections of inquiry.
Cambridge University Press, Cambridge 2000.
S. Timmermans, M. Berg:
The gold standard: the challenge of evidence-based medicine and standardization in health care.
Temple University Press, Philadelphia 2003.
N. S. Rose:
The politics of life itself: biomedicine, power and subjectivity in the twenty-first century.
Princeton University Press, Princeton 2007.
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