Forschungsbericht 2009 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut

Mediterrane Kunstgeschichte – 4. bis 16. Jahrhundert

Autoren
Wolf, Gerhard
Abteilungen

Direktion Prof. Dr. Gerhard Wolf (Prof. Dr. Gerhard Wolf)
Kunsthistorisches Institut in Florenz - MPI, Florenz

Zusammenfassung
Der vormoderne Mittelmeerraum ist durch kulturelle Interaktion, den Austausch von Waren, Artefakten und von Wissen geprägt. Hafenstädte wie Genua, Venedig und Pisa schufen Netzwerke, die bis ans Schwarze Meer und nach Fernost reichten; die Höfe bildeten interkulturelle Repräsentationsformen aus. Um diese Phänomene zu erfassen, verbindet ein Forschungsprojekt am Kunsthistorischen Institut in Florenz Fallstudien mit der Untersuchung der methodologischen Grundlagen einer mediterranen Kunstgeschichte.

Der Mittelmeerraum und das Konzept der der longue durée

Der Mittelmeerraum ist ein prominentes Thema in der Geschichtsforschung im 20. Jahrhundert, vor allem aufgrund der bahnbrechenden Arbeit des Historikers Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditeranéen à l’époque de Philippe II aus dem Jahr 1949. Das Werk stellt das Konzept der longue durée (franz.: „lange Dauer“) vor, das gegenüber dem traditionellen Modell von Geschichte als Serie von Ereignissen und schnell wechselnden politischen Konstellationen von starken Kontinuitäten, zyklischen Strukturen und einem geradezu bewegungslosen Substrat mediterraner Zeit ausgeht. Die longue durée wird als eine Art Naturalisierung der Geschichte begriffen, die kulturelle Praktiken wie Transhumanz (Wanderviehwirtschaft), Techniken zur Ölgewinnung, Methoden des Wissens- und Güteraustauschs, die Verflechtung von Ökonomie und Ökologie und, am Rande, auch Urbanisierungsprozesse umfasst. In diesem Sinn wird die Mittelmeerregion als ein Raum der kulturellen Interaktion vor oder unabhängig von Nationalstaatenbildung betrachtet. Andere historische Forschungen haben die Vernetzung von multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften in einer gemeinsamen Klimazone aufgezeigt und den Mittelmeerraum zum Laboratorium der Globalisierung in einer historischen Perspektive erklärt.

Auffällig ist, dass weder bei Braudel noch bei den späteren Untersuchungen Monumente, Architektur oder Bildkünste eine Rolle spielen. Im Gegenzug ist die Rezeption von Braudel in der Kunstgeschichte gering, und in der Kunstgeschichte selbst zerfällt die Erforschung der mediterranen Bildwelten und Monumente in verschiedene Disziplinen mit jeweils eigenen historiografischen Traditionen. Zu nennen sind die Byzantinische, Westliche, Islamische und Jüdische Kunstgeschichte sowie die Archäologie. Dies hat zu einer hohen Spezialisierung in der Forschung geführt, ließ aber die mediterranen Verbindungen, Netzwerke und vergleichbare Problemlagen aus dem Blick geraten.

Das Projekt „Mediterrane Kunstgeschichte“

Das Projekt „Mediterrane Kunstgeschichte“ am Kunsthistorischen Institut in Florenz setzt hier an, wobei sich ein Schwerpunkt mit verschiedenen Antworten auf das kulturelle und künstlerische Erbe der vorklassischen und klassischen Antike beschäftigt. Im gesamten Mittelmeerraum finden sich antike Spolien (Bauelemente) von der Großen Moschee von Damaskus zu den christlichen Basiliken Roms, von der Mezquita in Córdoba zur Cappella Palatina in Palermo und den Kirchen Kontantinopels. Die Bedeutung dieser Spolien ist im Zusammennhang mit den unterschiedlichen Auftragssituationen zu sehen, die als variierende und konkurrierende Aneignungen des klassischen Erbes aufzufassen sind. Dies darf aber nicht im Sinne eines „Einflusses“ oder als exklusives Formenrepertoire verstanden werden. Ein anderes, verwandtes Argument betrifft die Weitergabe und die Konstruktion von Wissen mittels wissenschaftlicher Illustrationen, beispielsweise in den Herbarien (botanische Handbücher) oder den zoologischen Illustrationen und Anleitungen zum Bau von Maschinen oder Automaten, wie man sie aus arabischen, jüdischen und christlichen Manuskripten kennt. Die Texte sind oft griechischen Ursprungs, wurden in späteren Jahrhunderten von arabischen Wissenschaftlern (manchmal unter Mitwirkung byzantinischer Eliten) übersetzt, kommentiert und neu interpretiert und schließlich auch dem lateinischen Westen bekannt. Mit diesem Themenfeld kommen die Verbreitungswege und die vielfältigen Formen von Kontakt und Konflikt in den Blick.

Sizilien war nach der normannischen Eroberung ab dem frühen 12. Jahrhundert ein „offener Raum“ im Zentrum der Mittelmeerregion, der griechische, römische, byzantinische und arabische Traditionen aufnahm. Unter Roger II. entstand ab circa 1130 ein monarchisches Repräsentationssystem, das auf die kunstvollen Vorbilder der Umgebung blickte: römische Säulen und lateinische Riten, byzantinische Mosaiken, arabische Zeremonielle und höfische Dekoration. Allerdings waren die künstlerischen Idiome selbst nicht „rein“, und die Künstler haben sie, wenn sie diese Vorbilder am Hof von Palermo aufgriffen, in etwas Neues und Ungesehenes umgewandelt: So kann ein christlicher Heiliger in den Feldern der „islamischen“ Decke der Palatina erscheinen, ein Paviment (Bodenpflaster) in westlicher Technik kann in arabischen Formen gestaltet werden, arabische Inschriften und Ornamente finden sich, um ein Beispiel aus einer anderen Region zu nennen, in den Synagogen Toledos. Die Decke der Palatina dient jedenfalls einer Selbstzelebration des königlichen Hofs, die einen Rahmen für komplexe und originelle künstlerische Erfindungen in einer mediterranen Sprache schafft, welche die Vielfalt der figurativen und ornamentalen Traditionen vom mittelalterlichen Iran bis hin zu den lateinischen Bestiarien (Tierlegenden) aufnimmt.

Die Bedeutung der Artefakte

Ein weiterer Aspekt betrifft die „Dinge“: Diese spielen eine privilegierte Rolle in der Geschichte des künstlerischen Austauschs im Mittelmeerraum – als Geschenk, Ware oder Beute, als etwas, was in einer Schatzkammer oder in einer Sammlung aufbewahrt oder in einem anderen Kontext als dem ursprünglich vorgesehenen wiederverwendet wird. Artefakte konnten umgebildet, in einen Schrein eingefügt oder als Fälschung oder Imitation der Objekte der „Anderen“ reproduziert, ja sogar re-exportiert werden: So lieferte etwa Venedig lokal produzierte „orientalische“ Gegenstände für die Märkte in Damaskus. In letzter Zeit befasst sich die Forschung in einer trans- und interkulturellen Perspektive intensiv mit der Rolle der Objekte für die Ausbildung der Renaissancekunst und anderer sogenannter klassischer Stile. Die neuen Ansprüche und Herausforderungen der Kunstgeschichte dürfen sich nicht in der Öffnung gegenüber der asiatischen, afrikanischen und ozeanischen Kunst erschöpfen, sondern sie sind auch eine Aufforderung, die Dynamiken ihrer vielen „traditionellen“ Gegenstände noch einmal von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten. Dieser verbindet einen kunsthistorischen Ansatz mit historisch-anthropologischen Perspektiven und untersucht sie zugleich vor dem Hintergrund von historischen Modellen der Wahrnehmung, der Vorstellung von Land und Meer, Raum und Zeit.

Wege kultureller Interaktion

In Zusammenarbeit mit Wissenschafts- und Wirtschaftshistorikern befasst sich die mediterrane Kunstgeschichte mit den Wegen und Knotenpunkten des Transfers: mit den Seerouten, den Küstenstädten und den Inseln. Auf der einen Seite gibt es den Austausch zwischen relativ getrennten Kulturen und auf der anderen die Koexistenz oder Convivencia (span.: „Zusammenleben“) in Städten wie Konstantinopel und Córdoba. Das Projekt untersucht die Kunst geteilter und umkämpfter Orte (Jerusalem ist der wichtigste) sowie die Kontakt- und Interzonen, die Stadtkulturen und die Systeme königlicher Repräsentation, die unterschiedlichen Erfahrungen und Beschreibungen der „Anderen“, die konvergierenden oder divergierenden Wissens- und Kunst-„Ordnungen“, die verschiedenen Konzepte von Bild, Ornament und sakralem Raum in Christentum, Islam und Judentum.

Dies führt unter anderem zur Frage, ob der Mittelmeerraum im Untersuchungszeitraum als kohärenter Raum betrachtet wurde, und wenn ja, wie und von wem. Auch die (im doppelten Sinne) fließenden Grenzen des Mittelmeerraums müssen betrachtet werden: die Säulen des Gibraltar nach Westen, die bis ins 15. Jahrhundert unbezwingbar schienen, und nach Osten der Bosporus und die Küsten des Schwarzen Meeres, an denen die Handelsrouten nach Zentralasien und China beginnen.

Ein hochaktuelles Forschungsfeld, das in der Kunstgeschichte noch am Anfang steht, ist der kulturelle und künstlerische Austausch zwischen Asien, der Mittelmeerregion und Europa von der Antike bis zur Moderne. In all dem sollte man die Künstler selbst nicht vergessen – in und zwischen diesen Welten. Erwähnt sei nur Guillaume Boucher, ein französischer Hofkünstler, der in die neu erbaute Hauptstadt Karakorum in der mongolischen Steppe verschleppt wurde, wo er am Hof der Khane arbeitete.

Die Problematik der Terminologien

Das Projekt befasst sich auch mit der Problematik der Terminologien, etwa mit dem Konzept der Hybridisierung. Dieses geht von einem Repertoire genuiner Formen aus, die durch den Kontakt mit einem „Anderen“ hybridisiert sind. Der aus der Biologie stammende Begriff „naturalisiert“ die künstlerischen und kulturellen Prozesse. Wenn man die Potenziale einer interkulturellen Agenda des Produzierens und Transformierens eines Kunstwerks als etwas weit Verbreitetes akzeptiert, benötigt man zwar eine genaue Beschreibung und Interpretation des Werks in seinen „Mutationen“ in verschiedenen Kontexten, aber man braucht nicht immer einen übergreifenden Begriff dafür, der es von einem vermeintlichen Normalfall abgrenzt. Keine Terminologie kann jemals vollkommen konsistent und „unkontaminiert“‘ sein, es kommt vielmehr auf einen kritischen Umgang mit den verwendeten und wiederverwendeten Konzepten an. Aus diesem Grund wendet sich das Projekt auch den Historiografien der einzelnen kunsthistorischen Teildisziplinen wie der historischen Mittelmeerraumforschung selbst zu. Braudel und seine Epigonen sind der wichtigste Ausgangspunkt.

Wissenschaftliche Kooperation

Das Projekt zum Mittelmeerraum am Kunsthistorischen Institut in Florenz plant eine enge Kooperation mit der CSIC-MPG Forschergruppe „Convivencia“ in Madrid, die vom Kunsthistorischen Institut gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte konzipiert wurde und sich mit der Interaktion von Kunst, Wissenschaft und Recht in Judentum, Christentum und Islam von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit befasst.

Originalveröffentlichungen

F. Braudel:
La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II.
Armand Colin, Paris 1949.
W. Tronzo:
The Cultures of his Kingdom. Roger II and the Cappella Palatina in Palermo.
Princeton University Press, Princeton 1997.
P. Horden/N. Purcell:
The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History.
Blackwell, Oxford 2000.
J. Johns:
Arabic Administration in Norman Sicily. The Royal Diwan.
Cambridge University Press, Cambridge 2002.
A. Shalem:
Islam Christianized. Islamic Portable Objects in the Medieval Church Treasuries of the Latin West.
Lang, Frankfurt 1996, 110–113.
T. Dittelbach:
Rex Imago Christi. Der Dom von Monreale. Bildsprache und Zeremoniell in Mosaikkunst und Architektur.
Reichert, Wiesbaden 2003.
G. Wolf:
Fluid Borders, Hybrid Objects: Mediterranean Art Histories 500–1500, Questions of Method and Terminology. In: Crossing Cultures: Conflict, Migration and Convergence. (Ed.) J. Anderson.
The Miegunyah Press, Carlton 2009, 134–137.
G. Wolf:
Alexandria aus Athen zurückerobern? Perspektiven einer mediterranen Kunstgeschichte mit einem Seitenblick auf das mittelalterliche Sizilien. In: Lateinisch-griechisch-arabische Begegnungen. (Hg.) M. Mersch, U. Ritzerfeld.
Oldenbourg, Berlin 2009, 39–62.
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