Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung
Geburtenentwicklung und Familienpolitik: Ergebnisse vergleichender Studien zu den nordischen Ländern
Fertilitäts- und Familiendynamiken im heutigen Europa (Jan Hoem)
MPI für demografische Forschung, Rostock
In den vergangenen dreißig Jahren ist die Geburtenrate in allen europäischen Ländern deutlich gesunken. Seit Beginn des neuen Jahrtausends liegt sie in der gesamten Europäischen Union unter jenem Wert, der als bestandserhaltend für eine Gesellschaft erachtet wird (2,1 Kinder pro Frau). Dennoch bestehen große Unterschiede im Fertilitätsniveau der einzelnen Länder. So zählt Deutschland mit einer Gesamtfertilitätsrate von 1,31 im Jahr 2003 zu den Ländern mit der niedrigsten Fertilität in Europa, während die nordischen Länder – Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland – sowie Frankreich mit einer Rate zwischen 1,71 und 1,89 zu den Ländern mit der höchsten Fertilität in Europa gehören (Abb. 1).
Die niedrigen Geburtenziffern in Europa und die Unterschiede im Fertilitätsniveau zwischen den einzelnen Ländern haben Diskussionen über den Zusammenhang zwischen Familienpolitik und Fertilität wiederbelebt. Sowohl in einzelnen Ländern als auch auf EU-Ebene wird diskutiert, welche familienpolitischen Maßnahmen notwendig wären, um einen Anstieg der Geburten zu bewirken. Häufig werden aus einem bloßen Vergleich der Gesamtfertilitätsraten europäischer Länder und deren Familienpolitik Rückschlüsse auf den Einfluss familienpolitischer Maßnahmen auf das Geburtenverhalten gezogen. Doch aus einem bloßen Vergleich von Aggregatdaten, wie es die Gesamtfertilitätsrate ist, und den gegenwärtigen familienpolitischen Konstellationen lässt sich nicht ableiten, ob oder wie Familienpolitik das Fertilitätsverhalten verändert. Denn zum einen ist die Gesamtfertilitätsrate ein zu ungenauer Indikator. Sie wird durch mehrere, von Politik nicht unmittelbar beeinflusste Faktoren bestimmt. Wenn etwa Frauen ihre Familiengründung um ein paar Jahre aufschieben, sinkt die Gesamtfertilitätsrate in diesem Zeitraum, ohne dass dies durch Familienpolitik hervorgerufen sein muss. Zum anderen setzt sich Familienpolitik aus verschiedenen Maßnahmen zusammen, wie Mutterschutz, Elternzeit, Elterngeld, Kinderbetreuungsangeboten, Kindergeld und Steuerregelungen. Diese können unterschiedliche Zielsetzungen haben und sich an alle oder nur an bestimmte soziale Gruppen richten. Zudem ist Familienpolitik Teil der wohlfahrtsstaatlichen Politik eines Landes und steht in Wechselwirkung mit dieser. Studien über den Einfluss von familienpolitischen Maßnahmen auf das Fertilitätsverhalten müssen daher geburten- und familienspezifische Aspekte, wohlfahrtsstaatliche Konfigurationen sowie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen eines Landes berücksichtigen.
Geburtenentwicklung und Familienpolitik in den nordischen Ländern
Dieser komplexe Ansatz liegt einer Reihe von interdisziplinären Studien des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung über die Wirkungen familienpolitischer Maßnahmen auf die Fertilitätsentwicklung in Europa zugrunde. Die Untersuchungen verknüpfen Ansätze der vergleichenden Politikwissenschaft mit Methoden der demografischen Lebensverlaufsanalyse. Das erlaubt es, die Wechselwirkungen zwischen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, familienpolitischen und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen sowie deren Einfluss auf das Geburtenverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen genauer zu analysieren. Für Forschungen über die Fertilitätsentwicklung in den nordischen Ländern wurden Registerdaten dieser Länder genutzt. Diese Daten umfassen die Geburtenbiografien aller Frauen seit den 1970er- Jahren und lassen daher differenzierte Analysen über die Entwicklungen der vergangenen fünfunddreißig Jahre zu.
Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung betrachtet die nordischen Länder als universalistische Wohlfahrtsstaaten. Ihre Sozialpolitik zielt darauf ab, für alle Frauen und Männer unabhängig von ihrem Familienstatus die Erwerbstätigkeit zu gewährleisten und für alle gleiche Bedingungen zu schaffen. Es soll möglich sein, Kinder zu haben, ohne dass sich dies negativ auf Erwerbstätigkeit und Lebensstandard auswirkt. Dementsprechend wird bereits seit Ende der 1960er-Jahre die Frauenerwerbstätigkeit aktiv gefördert und die Berufstätigkeit von Müttern durch eine dienstleistungsorientierte Familienpolitik und umfassende Angebote an Kinderbetreuungseinrichtungen sichergestellt. Familienpolitische Leistungen sind weitgehend vom Familienstand abgekoppelt und an die individuelle Erwerbstätigkeit rückgebunden. Schon Mitte der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre wurde die Leistungshöhe des Elterngeldes an das vorangegangene Einkommen gebunden und auf eine Ersatzrate zwischen 65 und 100 Prozent des früheren Erwerbseinkommens angehoben. Die Elternzeit von Vätern wurde zusätzlich durch „Vaterurlaub“ gefördert.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten in der Ausrichtung der Familien- und Wohlfahrtsstaatspolitik weichen die fertilitätsbezogenen familienpolitischen Maßnahmen in den einzelnen Ländern voneinander ab. Zwei Maßnahmen seien hervorgehoben. Schweden führte in den 1980er-Jahren stufenweise eine geburtenbezogene Elterngeldregelung ein. Eltern, die ihr zweites (oder weiteres) Kind innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nach dem zuvor geborenen Kind bekommen, können Elterngeld auf der Basis jenes Einkommens erhalten, das sie vor der Geburt des zuvor geborenen Kindes hatten. Eine Verringerung des Einkommens, etwa durch Elternzeit, Teilzeitbeschäftigung oder Erwerbsunterbrechung nach der Geburt eines Kindes, wirkt sich somit nicht auf die Höhe des Elterngeldes bei einer folgenden Geburt aus. Finnland führte in den 1980er-Jahren ein Kinderbetreuungsgeld ein. Dieses erhalten Eltern bis zum dritten Geburtstag des Kindes, sofern es nicht in einer öffentlichen Kindertagesstätte betreut wird. Der Betrag entsprach Anfang der 1990er-Jahre etwa jenem, den eine Gemeinde für die institutionelle Betreuung eines Kindes hätte aufwenden müssen, und wurde unabhängig vom Bezug anderer Sozialleistungen gewährt.
Zusammenhang zwischen Familienpolitik und Geburtenverhalten
Welche Auswirkungen hatten die familienpolitischen Maßnahmen auf die Geburtenentwicklung in den nordischen Ländern? Die Antwort darauf ist viel schwieriger als die aus einem bloßen Aggregatdatenvergleich abgeleitete. Die Untersuchungen zeigen, dass die Familienpolitik zu einer Angleichung des Geburtenverhaltens in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen beigetragen hat. Anders als in Deutschland sind etwa der Anteil Kinderloser und die Gesamtkinderzahl bei Frauen mit hohem, mittlerem und niedrigem Bildungsabschluss annähernd gleich. Unterschiede bestehen lediglich nach dem Alter, da Frauen mit hoher Bildung im Allgemeinen ihre Kinder später bekommen als Frauen mit niedrigerer Bildung (Abb. 2).
Bei den Erstgeburten dokumentieren die Analysen, dass es den nordischen Ländern gelungen ist, den Geburtenrückgang bei den Frauen, die jünger als dreißig Jahre sind, durch einen Anstieg der Geburten bei den Frauen im Alter über dreißig Jahre auszugleichen. Bei den zweiten und weiteren Geburten hat die Einführung eines einkommensbezogenen Elterngeldes mit annäherndem Einkommensersatz den Rückgang an Geburten gebremst (siehe Pfeile in Abb. 3). Die Elterngeldpolitik hat zum Teil sogar eine Wende im Geburtenverhalten eingeläutet, die auch die Gesamtfertilitätsrate beeinflusste.
Zudem bewirkte die Einführung des geburtenbezogenen Elterngeldes in Schweden in den 1980er Jahren (siehe Pfeile in Abb. 3), dass Eltern ihr zweites (oder weiteres) Kind früher bekamen als vor der Einführung dieser Maßnahme. Diese Verkürzung des Geburtenabstandes trug zum deutlichen Anstieg der Zweitgeburtenrate und der Fertilitätsrate in Schweden in dieser Periode bei.
In den 1990er-Jahren fiel die Fertilität in Schweden drastisch. Dieser Rückgang ist nicht auf eine grundlegende Änderung im Geburtenverhalten zurückzuführen. Auch in dieser Zeit bekamen Frauen ihr zweites (oder weiteres) Kind deutlich früher als vor Einführung der Maßnahme. Doch die ökonomische Krise der frühen 1990er-Jahre und der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit führte vor allem in der Gruppe nicht erwerbstätiger Frauen zu einem Geburtenrückgang. Dies war nicht zuletzt eine Folge des einkommensabhängigen Elterngeldes, da Frauen in Zeiten, in denen sie kein oder nur ein geringes Einkommen haben, weniger dazu neigen, ein Kind zu bekommen. Die Elterngeldregelungen in Bezug auf die zeitliche Planung von zweiten und weiteren Geburten vermochten somit das konjunkturabhängige Geburtenverhalten der schwedischen Frauen nicht zu mindern (Abb. 3).
Eine gänzlich andere Wirkung entfaltete das Kinderbetreuungsgeld in Finnland. Wie in Schweden gab es hier Anfang der 1990er-Jahre eine ökonomische Krise mit einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Geburtenrate fiel jedoch nicht ab. Untersuchungen zeigen, dass das Kinderbetreuungsgeld zwar keinen Anstieg der Geburten bewirkte; es ermöglichte aber insbesondere arbeitslosen Frauen, die Zeit der ökonomischen Krise und der eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten zu überbrücken. Allerdings verringerten das Kinderbetreuungsgeld und die damit verbundene längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit die Wiedereinstiegschancen von Frauen und führten zu einem Rückgang der Frauenerwerbstätigkeit. Dies könnte in der Folge den leichten Rückgang an zweiten und weiteren Geburten in Finnland gegen Ende der 1990er-Jahre ausgelöst haben.
Diese Studien haben neue Einsichten in die Wirkungen familienpolitischer Maßnahmen auf Geburtenverhalten und Fertilitätsentwicklung eröffnet. Sie verdeutlichen, wie vielschichtig der Einfluss von Familienpolitik auf Geburtenverhalten ist. Familienpolitik kann dazu beitragen, die sozialen Unterschiede im Fertilitätsverhalten zu verringern (oder zu vergrößern). Und sie kann die zeitliche Planung von Geburten beeinflussen. Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass dies einen nachhaltigen Einfluss auf die Geburtendynamik hat. Die Wirkungen von familienpolitischen Maßnahmen auf die Fertilität hängen jedoch auch von ihrer Ausgestaltung und den Rahmenbedingungen ab. Sie können dadurch zeitlichen Schwankungen unterliegen. Die Kopplung des Elterngeldes an ein vorangegangenes Einkommen verstärkt die Bindung zwischen Arbeitsmarktentwicklung, Frauenerwerbstätigkeit und Fertilität und macht Geburtenverhalten von der Arbeitsmarktsituation und der Erwerbsbeteiligung abhängig. Ein einkommensunabhängiges Elterngeld, das den Lebensstandard sichert, kann dagegen Unterschiede im Geburtenverhalten und in der Erwerbstätigkeit zwischen verschiedenen Gruppen verstärken; dies kann sich wiederum auf die Fertilitätsentwicklung auswirken.
Forschungsausblick
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass man individuelle Lebensverläufe analysieren muss, um die Einflüsse von institutionellen Entwicklungen und politischen Maßnahmen auf Fertilitäts- und Familienentwicklung besser zu verstehen. Für solche Forschungsansätze sind jedoch sowohl individuelle Verlaufsdaten als auch Zeitreihen kontextueller Daten notwendig. Kontextuelle Daten spiegeln soziale, rechtliche und wirtschaftliche Entwicklungen wider, etwa auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich gesetzlicher Regelungen oder politischer und institutioneller Rahmenbedingungen. Mit dem „Generations and Gender Program“, das Panel-Erhebungen (bei denen dieselben Personen über einen längeren Zeitraum hinweg mehrmals befragt werden) in europäischen und einigen außereuropäischen Ländern sowie den Aufbau einer begleitenden kontextuellen Datenbank umfasst, hat der Arbeitsbereich des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in den vergangenen Jahren zur Erhebung solcher Daten beigetragen. Erstmals verfügt die demografische Forschung damit über Datenquellen, die eine Reihe von theoretisch und empirisch innovativen Studien zu Bevölkerungsentwicklungen in Europa ermöglichen. Sie eröffnen zugleich neue Forschungsperspektiven zum Wandel des Fertilitäts- und Familienverhaltens in West- und Osteuropa und ihres Zusammenhangs mit den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.