Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Genom-weite Screens zur systematischen Untersuchung elementarer biologischer Prozesse

Autoren
Buchholz, Frank; Kittler, Ralf; Putz, Gabriele; Pelletier, Laurence; Poser, Ina; Heninger, Anne-Kristin; Drechsel, David; Fischer, Steffi; Konstantinova, Irena; Habermann, Bianca; Grabner, Hannes; Yaspo, Marie-Laure; Himmelbauer, Heinz; Korn, Bernd; Neugebauer, Karla; Pisabarro, Maria Teresa
Abteilungen

Buchholz: Normale und gestörte Blutbildung bei Säugetieren (Dr. Frank Buchholz)
MPI für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden

Zusammenfassung
Genom-weite Screens sind für die moderne Biologie ein unerlässlicher Bestandteil einer erfolgreichen Forschungsarbeit. Mit ihnen steht der Wissenschaft ein außergewöhnliches Werkzeug zur Verfügung, um systematisch die einzelnen Gene eines Genoms auf ihre Funktion bei allen elementaren biologischen Prozessen in der Zelle zu untersuchen. Am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) wurde ein Screening-Großprojekt aufgebaut, das diese neue Technologie als europäische Plattform anbietet. Ein erster Genom-weiter esiRNA-Screen der Arbeitsgruppe von Frank Buchholz konnte in menschlichen Zellen Zellteilungs-Gene identifizieren. Die Ergebnisse sind speziell für die Krebsforschung von Bedeutung, beruht doch diese Krankheit darauf, dass der Prozess der Zellteilung außer Kontrolle gerät. Das MPI-CBG hat beim Aufbau des Screening-Großprojektes vor allem auf geeignete Partnerschaften gesetzt – Dr. Ivan Baines, der am MPI-CBG für die Technologiekoordination zuständig ist, hat exzellente Wissenschaft mit starken Partnern aus der Wirtschaft zusammengebracht und so ein neues Modell umgesetzt, das die komplexen Fragestellungen der modernen Biologie angehen kann.

Forschung im postgenomischen Zeitalter

Als Gregor Johann Mendel Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Klostergarten mit Erbsen und Bohnen experimentierte, hatte er noch keine Ahnung von der Komplexität, die die von ihm begründete Wissenschaftsdisziplin eines Tages haben würde. Heute ist das menschliche Genom sequenziert und Mendels Nachfolger stehen vor der großen Aufgabe, die Funktionen von rund 30.000 Genen zu entschlüsseln – das postgenomische Zeitalter ist angebrochen. Dabei hilft ihnen die so genannte RNA-interference-Methode (RNAi-Methode), ein raffiniertes Werkzeug, um Genfunktionen in Genom-weiten Screens herauszufinden. Sie ermöglicht das gezielte Ausschalten von Genen und ist damit ein entscheidender Schritt zum Erkennen ihrer Aufgaben.

Genom-weite Screens sind für die moderne Biologie schon jetzt unerlässlicher Bestandteil einer erfolgreichen Forschungsarbeit, und ihre Bedeutung wird sich noch weiter steigern. Mit ihnen steht der Wissenschaft ein außergewöhnliches Werkzeug zur Verfügung, um systematisch die einzelnen Gene eines Genoms auf ihre Funktion bei allen elementaren biologischen Prozessen in der Zelle zu untersuchen. Genom-weite Screens verdanken ihre heutige Signifikanz vor allem der Sequenzierung des menschlichen Genoms oder anderer Säugetiere wie der Maus, was zugleich eine ungemeine Bedeutung für die klinische Forschung mit sich bringt. Wichtig für die Forschung ist auch die Entschlüsselung der Genome anderer in der Grundlagenforschung etablierter Modellorganismen, wie dem des Fadenwurms C. elegans, der Fruchtfliege Drosophila melanogaster, des Kohlgewächses Arabidopsis oder des Zebrafisches.

Neue Technologien wurden entwickelt und sind mittlerweile routiniert im Einsatz; sie ermöglichen eine weitere Auswertung der durch solche Sequenzanalysen ganzer Genome gewonnenen Informationen. Beispielsweise erlaubt es die RNA-interference (RNAi)-Methode, einzelne Gene in einem sequenzierten Genom auszuschalten (knockout) oder wahlweise auch jedes beliebige sequenzierte Gen in einem noch nicht vollständig entschlüsselten Genom eines Organismus, in dem diese Technik prinzipiell anwendbar ist. Eine weitere Technik ist das so genannte TILLING (Targeting Induced Local Lesions in Genomes), das quasi die Umkehrung der RNAi-Methode darstellt: Im Gegensatz zur Knockout-Technik werden beim TILLING nicht speziell Mutationen in einem bestimmten Gen erzeugt, sondern aus einer Anzahl mutagenisierter Organismen gezielt diejenigen gesucht, die Mutationen in einem gewünschten Gen besitzen. Ursprünglich für Arabidopsis entwickelt, ist TILLING mittlerweile auch für den Modellorganismus Zebrafisch eine etablierte Technik, und – wie neueste Ergebnisse zeigen – wohl auch in naher Zukunft für Drosophila, C. elegans und die Maus einsetzbar. Die Analyse von Genexpressionen, speziell im Zusammenhang mit DNA-Chips und Microarrays, ist ein ebenso geeignetes Werkzeug, das auch in Organismen zum Einsatz kommen kann, deren Genom noch nicht vollständig sequenziert ist, sofern eine EST-Bibliothek vorhanden ist.

Genome sind von einer ansehnlichen Größe, sie umfassen etwa 9.000 Gene in Hefe, beim Fadenwurm und der Fruchtfliege ungefähr 20.000 Gene oder bis zu 35.000 Gene im Menschen und in der Maus. Um einen Genom-weiten Screen in einer akzeptablen Zeitspanne zu vervollständigen, bedarf es deshalb einer ausreichend hohen Durchsatzleistung. Bisher waren Durchlaufleistungen nur für Pharmakonzerne vor dem Hintergrund der Medikamentenentwicklung von Interesse, während sich Wissenschaftler in der Grundlagenforschung mit solchen Fragen nicht beschäftigten. Mittlerweile wurden auch für den wissenschaftlichen Betrieb diese Techniken eingesetzt, um im postgenomischen Zeitalter die ungleich komplexeren Forschungsfragen bearbeiten und beantworten zu können. Dazu wurden Screens ebenfalls in solcher Weise automatisiert und optimiert, dass die gewünschte und benötigte Durchsatzleistung erzielt werden kann.

Dazu kommt eine weitere große Herausforderung: Solche Screens produzieren eine riesige Datenmenge, und diese Daten müssen von höchster Qualität sein und von Anfang an generiert werden, um eine hochkomplexe und detaillierte Fragestellung zu beantworten. Andernfalls würden alle Screenversuche der akademischen Forschung im Ansatz stecken bleiben. Einzelne Versuchsanordnungen sind bezüglich der Physiologie oder bestimmter biologischer Mechanismen nicht ausreichend aussagekräftig, insofern müssen ganze Sets von kombinierten Versuchsanordnungen entwickelt werden (mit einer Durchsatzleistung von Tausenden untersuchter Proben pro Tag), die dann brauchbare Daten und wahre Einblicke in biologische Abläufe geben können. Des Weiteren müssen die gewonnenen Daten auch deshalb in enormer Quantität generiert werden, um sie für weitere Tests oder andere Techniken brauchbar zu machen, speziell, wenn solche Screens mit einem vergleichenden Ansatz durchgeführt werden. Dies beispielsweise, um die biologischen Gegebenheiten in normalen und krankhaften Systemen zu vergleichen.

esiRNA-Screen in menschlichen Zellen identifiziert Zellteilungs-Gene

Am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik werden schon seit langem Genom-weite Screens durchgeführt, die nicht nur geholfen haben, die Screening-Technologie weiterzuentwickeln und zu perfektionieren, sondern die auch immens wichtige Daten für die Grundlagenforschung in der modernen Zellbiologie bereitgestellt haben. Ein Beispiel: Die Arbeitsgruppe von Frank Buchholz hat die RNAi-Methode – die bisher vor allem bei Wirbellosen gute Ergebnisse erzielte – weiterentwickelt, um den Genen der Zellteilung in Säugerzellen auf die Spur zu kommen. In mehreren aufeinanderfolgenden Screens ist es den Forschern gelungen, 37 Gene herauszufischen, die für die Zellteilung eine Rolle spielen. Sieben davon waren bisher nicht charakterisiert. Ihre Methode des esiRNA-Screens erweist sich damit als brauchbares Werkzeug beim Genom-weiten Aufspüren von Genfunktionen in Säugerzellen.

Um herauszufinden, an welchen zellulären Prozessen ein bestimmtes Gen beteiligt ist, wird genau dieses Gen ausgeschaltet – gleichsam zum Schweigen gebracht – und dann der Effekt beobachtet. Dabei hilft die RNA-interference-(RNAi)-Methode, die Funktion von bestimmten Genen zu identifizieren. Die Methode nutzt einen in jeder Zelle ablaufenden Mechanismus – der ein Genregulationssystem und gleichzeitig einen Abwehrmechanismus darstellt: Die Zelle reagiert auf doppelsträngige RNA-Moleküle mit der sofortigen Zerstörung des komplementären m-RNA-Abschnitts; ein Strang des RNA-Moleküls lagert sich an die passende aktive m-RNA an und löst damit deren Abbau aus. Das Protein, für das die Nukleinsäure kodiert, kann nicht entstehen. Zielgenau kann also mit diesen RNA-Molekülen ein Gen ausgeschaltet werden.

Bei Wirbeltieren müssen für diesen Vorgang kleinere doppelsträngige RNA-Abschnitte produziert werden, so genannte short interfering RNAs (siRNAs) von etwa 21 bis 30 Nukleotiden Länge. Größere RNA-Abschnitte führen meist zu unspezifischen Reaktionen. Die Arbeitsgruppe um Buchholz hat deshalb aus 15.497 menschlichen Genen mithilfe eines Enzyms, der Endoribonuklease RNAseIII, entsprechend kleine RNA-Stücke (esiRNA) produziert und sie zu einer Bibliothek zusammengestellt. Dieser Sammlung entnahmen sie 5.305 esiRNAs und suchten damit in HeLa-Zellen, einer speziellen Linie von Krebszellen, nach denjenigen Genen, die die Zellteilung steuern oder beeinflussen (Abb. 1).

In einem ersten, robotergesteuerten Hochdurchsatz-Screen wurden 275 Kandidaten ausgewählt, die mit der Lebensfähigkeit der Zellen und so mit dem Prozess der Zellteilung in Verbindung zu bringen waren. In einem zweiten Durchlauf wurden diese Gene dann erneut und diesmal mithilfe der Videomikroskopie im Detail „durchgesiebt“ – anhand des entstehenden Erscheinungsbildes der Zellen konnten die Forscher feststellen, ob sich ein ausgeschaltetes Gen auf das Funktionieren der Zellteilung ausgewirkt hat oder nicht. Übrig blieben und identifiziert wurden nach diesem zweiten Durchlauf 37 Gene, über die man nun sagen kann: Sie sind mit verantwortlich dafür, dass sich eine Zelle teilt.

Die Funktion dieser 37 Gene wurde aber zunächst in der Forschungsliteratur und in einer Gen-Datenbank überprüft. Tatsächlich war für sieben dieser Gene noch gar keine Funktion bekannt. Mit der neuartigen Variante der esiRNA-Technologie konnten die Dresdner Forscher also sieben bisher uncharakterisierten Genen eine Funktion zuweisen – die Funktion „Zellteilung“. Unter den 37 selektierten Genen waren unter anderem Splicing-Faktoren, deren Knockdown zu Defekten der Zellteilungsspindel führten. Interessant auch die Entdeckung eines Gens, das den Prozess der Zellteilung beschleunigt und dabei auch die Morphologie der Zellteilung verändert.

All diese Ergebnisse sind für die Krebsforschung von Bedeutung, beruht doch diese Krankheit darauf, dass der Prozess der Zellteilung außer Kontrolle gerät. Zudem haben die Wissenschaftler mit ihrer Versuchsreihe bewiesen, dass ihre esiRNA-Methode ein brauchbares Werkzeug für Genom-weite Screens in Säugetierzellen darstellt: Sie ist effizient, schaltet zuverlässig und sehr zielsicher die gewünschten Gene aus und kann leicht verschiedenen Versuchsanordnungen angepasst werden.

Screening als europäische Plattform

Das MPI-CBG hat sich beim Aufbau des Screening-Großprojektes vor allem von der Erkenntnis leiten lassen, dass moderne akademische Forschung bei solch komplexen Fragestellungen nicht mehr isoliert arbeiten kann, sondern nur geeignete Partnerschaften zum Erfolg führen können: „Es bedarf nicht nur exzellenter Wissenschaft, sondern auch starker Partner aus der Industrie und innovativer, kreativer Finanzierungsmodelle für eine solche Aufgabe, die nicht nur eine große wissenschaftliche, sondern auch eine finanzielle Herausforderung ist“, so Ivan Baines, der als „Director of Services and Facilities“ am MPI-CBG für die Technologiekoordination zuständig ist. Mit seinen früheren Erfahrungen als Berater bei Lizenzvergaben und als Entwickler neuer Geschäftsmodelle hat er dazu den nötigen Background: „Die derzeitigen Forschungsaufgaben in der Zellbiologie sind vor allem unglaublich teuer – sie übersteigen das Budget einer akademischen Forschungsinstitution. Für die neuen Technologien und neuartigen Aufgaben brauchten wir also auch neue Modelle der Umsetzung“, so Baines. Die derzeitigen Forschungserfolge wurden also auch und gerade durch eine gut funktionierende Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirtschaft erzielt. Spezielles Know-how zur RNAi-Technik beispielsweise wurde von der Cenix BioScience GmbH beigesteuert, einem Start-Up-Unternehmen, das aus dem MPI-CBG hervorgegangen ist (sowie dem European Molecular Biology Laboratory, Sanger und BCCA). In einer weiteren interdisziplinären Projektkooperation wurde beispielsweise eine in der Entwicklung befindliche Bildanalyse-Software der Definiens AG im wissenschaftlichen Betrieb des MPI-CBG von den Forschern evaluiert. Auch mit der Evotec Technologies GmbH, die führend auf dem Gebiet des Ultra-Hochdurchsatz-Screenings und der Zellanalysatoren-Technologie ist, besteht eine solche Kooperation. Mit diesem Modell, das Wirtschaft und Wissenschaft als starken Verbund nutzt, kann garantiert werden, dass die Screening-Einheit des MPI-CBG stets auf dem neuesten Stand der Technik ist und auch im Bereich der Technologieentwicklung der Input aus der angewandten Forschung in die Industrie gegeben werden kann.

Das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik hat in den durchgeführten biologischen Screens eine Vielzahl an technologischen Unterbereichen ausgebaut und in ihrer Exzellenz verfeinert. Die Einrichtung des Screening-Großprojektes stand von Anfang an unter den folgenden Zielsetzungen: Ausweitung des technischen Know-hows für die Planung und Durchführung von automatisierten Workflows für Hochdurchsatz-Screens, Anreicherung der fachlichen Kompetenz für das Entwickeln grundlegender Versuchsanordnungen und deren Optimierung für den Hochdurchsatz, Aufbau einer Datenbank für Assays, die grundlegende Mechanismen der Biologie und Krankheitsbilder simulieren („Total Mechanism in Biology Simulation” TMBS und „Total Disease Indication Simulation” TDIS), Pilot-Screens, basierend auf Techniken wie RNAi, Expressionanalyse oder TILLING. Zudem ist es erklärtes Ziel, das Screening-Projekt zu einem europäischem Screening-Center, einer Plattform von europäischer Bedeutung für Genom-weite und zellbasierte Screens, auszubauen, und den Technologietransfer voranzutreiben, um erlangtes Wissen und Ergebnisse der Grundlagenforschung in Anwendungen, Produkte und Start-Ups im kommerziellen Biotech-Bereich zu überführen.

Das MPI-CBG hat mit seinen 24 Forschungsgruppen und rund 400 Mitarbeitern im täglichen Forschungsbetrieb einen großen Bedarf an Genom-weiten Screens, um systematisch die einzelnen Gene eines Genoms auf ihre Funktion bei allen elementaren biologischen Prozessen in der Zelle zu untersuchen. Die bereits durchgeführten Pilotprojekte im Bereich des Genomic Screenings haben gezeigt, dass mit solch einem Modell eine Plattform von europäischer Ausstrahlung geschaffen werden konnte, die der Grundlagenforschung die nötigen Arbeitsmittel an die Hand gibt und zugleich beim Generieren dieser eminent wichtigen Daten und Erkenntnisse auch den Grundstock für weitere Technologieentwicklungen bietet.

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