Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Die erste Begegnung mit einer neuen Sprache

The first contact with an unknown second language

Autoren
Dimroth, Christine; Gullberg, Marianne; Roberts, Leah
Abteilungen

Spracherwerb (Prof. Dr. Wolfgang Klein)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
In dieser Untersuchung geht es um die Frage, was Erwachsene beim ersten Kontakt mit einer unbekannten Zweitsprache wahrnehmen und verarbeiten können. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik prüfen insbesondere, welche Rolle die Menge des sprachlichen Inputs, die Häufigkeit, mit der bestimmte Einheiten vorkommen, sowie die Hervorhebung durch sprachbegleitende Gesten für das Erkennen von Wörtern und das lexikalische Lernen spielen.
Summary
This study focuses on the earliest perception and processing of input in an unknown second language. Scientists of the MPI for Psycholinguistics examine the effect of length of exposure, item frequency, and gestural deictic links between sound and context for word recognition and lexical learning in adults.

Wenn wir uns vorstellen, wie Erwachsene eine neue Sprache lernen, denken wir zunächst oft an den so genannten gesteuerten Spracherwerb im Klassenzimmer. Ähnlich wie Kinder sind Erwachsene jedoch auch in der Lage, eine Sprache zu erlernen, ohne dass jemand versucht, ihnen die Bedeutung der Wörter oder bestimmte grammatische Regeln zu erklären. Diese Art des (ungesteuerten) Spracherwerbs findet beispielsweise statt, wenn jemand in einer neuen sprachlichen Umgebung darauf verzichtet, an einem Sprachkurs teilzunehmen, und sich stattdessen darauf verlässt, die neue Sprache in der Interaktion mit ihren Sprechern zu erlernen. Eine solche Situation bietet nicht nur die Gelegenheit, die neue Sprache aktiv zu verwenden. In der Interaktion mit Muttersprachlern bekommt der so genannte Lerner auch Zugang zu sprachlichem Input, das heißt er hört Äußerungen im Kontext und kann zum Verständnis auch bestimmte Begleitinformationen aus der jeweiligen Situation heranziehen.

Viele Studien haben sich mit der Rolle des Inputs befasst und untersucht, welche Eigenschaften Lerner besonders leicht wahrnehmen, welche Informationen aus dem Input sie aufnehmen können und wie sich ihr vorhandenes Sprachwissen gegebenenfalls durch die Verarbeitung neuen Inputs verändert. Weil es unter diesen Umständen oft schwierig auszumachen ist, inwieweit das bereits vorhandene sprachliche Wissen die Verarbeitung neuen Inputs beeinflusst, testeten die Wissenschaftlerinnen am MPI in Nijmegen, wie viel Versuchspersonen lernen können, die zum ersten Mal mit der Zielsprache in Kontakt kommen. Der Untersuchung liegt die Frage zugrunde, welche Art von Informationen erwachsene Lerner aus dem Input extrahieren können und welche Hinweise sie bei der Analyse der unbekannten Schallwellen nutzen.

Die Teilnehmer (mit Muttersprache Niederländisch) wurden zunächst gebeten, sich einen Videofilm mit einem Wetterbericht auf Chinesisch (Mandarin) anzusehen. Weitere Instruktionen wurden nicht gegeben. Die Situation entsprach also ungefähr der eines Chinareisenden ohne Sprachkenntnisse, der sich im Hotelzimmer die lokale Nachrichtensendung ansieht. In dem Film kommentierte eine Sprecherin verschiedene Wetterkarten, auf denen die typischen Wettersymbole (Sonne, Wolken, Warm- und Kaltfronten etc.) zu sehen waren. Hin und wieder deutete sie dabei auf eines dieser Symbole (Abb. 1).

Der gesprochene Text belief sich auf sieben Minuten natürliche, zusammenhängende, komplexe Sprache. Bestimmte Eigenschaften dieses Input-Textes sowie der begleitenden Gesten wurden experimentell manipuliert. So enthielt der Text insgesamt 24 Testwörter (Nomen, Verben und Funktionswörter), die entweder häufig (achtmal) oder selten (zweimal) vorkamen. Kein anderes Wort des umgebenden Textes kam häufiger vor als die häufig auftretenden Testwörter. Darüber hinaus war ein Teil der Testwörter jeweils durch eine begleitende Geste hervorgehoben (siehe Tabelle in Abb. 2).

Der folgende Auszug illustriert die Verteilung der Testwörter (fettgedruckt) im Text. Unterstrichene Wörter waren von einer Geste begleitet.

Rang4 wo3-men2 xian1 kan4 zhe4 ge di4-qu1
,lasst uns zuerst betrachten dieses Gebiet’
Lassen Sie uns zunächst diese Gegend betrachten.

Nanhai qing2-kuang4 bu4 hui4 bian4-hua4
,Nanhai Situation nicht wird verändern’
Die Situation in Nanhai bleibt unverändert.

Lanzhou ming2-mei4 yang2-guang1 bao3-chi2 zhi4 xing1-qi1-wu3
,Lanzhou strahlend Sonnenschein bleibt bis Freitag’
In Lanzhou ist bis Freitag strahlender Sonnenschein zu erwarten.

Einzelne Wörter erkennen

In einem ersten Experiment wurde untersucht, wie gut die Versuchspersonen den Schallstrom in der neuen Sprache segmentieren und einzelne Wörter erkennen können. Das Finden von Wortgrenzen in einer unbekannten Sprache ist keine triviale Aufgabe, da Wörter in der gesprochenen Sprache meist nicht durch Pausen voneinander abgegrenzt werden. Das Erkennen von Wörtern ist jedoch Voraussetzung für das Lernen von Wortbedeutungen, das in einem Folgeexperiment untersucht wurde.

In dem ersten Experiment sahen die Teilnehmer zunächst den Wetterbericht und hörten dann die 24 Testwörter (gemischt mit 72 Füllwörtern) in Isolation, wobei sie jeweils per Knopfdruck entscheiden sollten, ob sie das entsprechende Wort schon einmal gehört hatten oder nicht. Dabei stellte sich heraus, dass solche Testwörter zuverlässig erkannt wurden, die im Wetterbericht sowohl häufig vorgekommen waren als auch durch eine Geste hervorgehoben wurden. Die begleitenden Gesten sind demnach nicht nur eine potenzielle Informationsquelle beim Erlernen von Wortbedeutungen (um die es ja in diesem Experiment nicht ging). Sie spielen auch eine Rolle beim Hervorheben bestimmter Segmente im Input, die Lerner beim Erkennen von Wortgrenzen nutzen können.

Ohne Hervorhebung durch eine Geste konnten die Teilnehmer besonders die einsilbigen Testwörter nicht wiedererkennen, die offensichtlich besonders schwer abzugrenzen sind. Betrachtet man hingegen nur die zweisilbigen Testwörter, so zeigt sich, dass die Teilnehmer diese auch dann erkennen konnten, wenn sie nicht durch eine Geste begleitet wurden.

Die Bedeutung von Wörtern erlernen

Angesichts der Tatsache, dass die Versuchspersonen besonders die zweisilbigen Testwörter zuverlässig wiedererkennen konnten, wurde in einem zweiten Experiment überprüft, ob sie durch das bloße Ansehen des Wetterberichts auch deren Bedeutung erlernen konnten. In diesem Experiment wurden nur die Nomen als Zielwörter genutzt. Den Teilnehmern wurde jeweils eines der Wettersymbole (,Wolke’, ,Sonne’ etc.) gezeigt. Dazu hörten sie die korrekte chinesische Bezeichnung (d.h. eines der Zielnomen) oder ein anderes Wort und mussten per Knopfdruck entscheiden, ob Wort und Bild zusammenpassten. Die nicht passenden Wörter waren auch dem Wetterbericht entnommen und kamen dort genauso häufig (mit oder ohne Geste) vor wie die getesteten Nomen.

Nachdem sie den sieben Minuten langen Wetterbericht gesehen hatten, waren die Teilnehmer nicht in der Lage, die zu den Bildern passenden Nomen auszuwählen. Einer weiteren Gruppe von Teilnehmern wurde der Film deshalb zweimal direkt hintereinander gezeigt (vierzehn Minuten Input). Diese Gruppe konnte im Test solche zweisilbigen Nomen korrekt angeben, die häufig im Text vorkamen (dann insgesamt 16-mal) und durch eine Geste hervorgehoben waren.

Während man ein in fortlaufenden Text eingebettetes Wort in einer unbekannten Sprache also nur achtmal hören muss, um es wiederzuerkennen, scheint dies nicht genug zu sein, um ihm eine Bedeutung zuzuweisen, auch wenn eine Zeigegeste dabei hilft. Kommt das entsprechend hervorgehobene Wort jedoch 16-mal im Text vor, so können erwachsene Lerner ohne jegliche Vorkenntnisse auch die Bedeutung erlernen. Dabei nutzen die Lerner eine Kombination aus Hinweisen im Input. Eine Rolle spielen die Länge des Wortes (zwei Silben), die Häufigkeit, mit der die Lerner dem neuen Wort begegnen, sowie die Hervorhebung durch eine Geste.

In dieser Untersuchung konnten die Wissenschaftler zeigen, dass erwachsene Lerner über einen effizienten Lernmechanismus verfügen: Er ermöglicht es ihnen, schon beim ersten Kontakt mit einer unbekannten Sprache Wörter im Schallstrom zu erkennen und – wenn die entsprechenden Hinweise in ausreichender Zahl vorhanden sind – auch herauszufinden, auf welchen Teil des außersprachlichen Kontexts sich die Wörter beziehen.

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