Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Rechtsprechung in der mittelalterlichen Stadt

Jurisdiction in a medieval town

Autoren
Colli, Vincenzo; Lepsius, Susanne; Wetzstein, Thomas
Abteilungen

Europäische Rechtsgeschichte (Antike und Mittelalter; Osteuropa; Gesellschafts- und Geschichtstheorie) (Prof. Dr. Thomas Duve)
MPI für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main

Zusammenfassung
Ein Projekt zur Praxis der Gerichtsbarkeit in ausgewählten europäischen Städten des Mittelalters erforschte schwerpunktmäßig die bislang fast völlig vernachlässigte Zivilrechtsprechung. Ein Vergleich der in großer Zahl erhaltenen Prozessakten förderte dabei zahlreiche europaweite Gemeinsamkeiten zutage. Sie manifestierten sich in Aktenführung und Verfahrensgang ebenso wie im hohen Pazifizierungspotenzial gerichtlicher Konfliktlösungen.
Summary
A project on the practice of adjudication in European cities of the late Middle Ages focussed on the long-neglected practice of civil adjudication. The abundantly surviving court documentation testifies many common features throughout Europe, manifest in common techniques of record-making, in the court proceedings and not to the least in the high potential to pacify conflicts through judicial conflict resolution.

Rechtsprechungspraxis – ein neues Forschungsfeld der Rechtsgeschichte des europäischen Mittelalters

Während des Mittelalters manifestierte sich der Anspruch auf Autonomie und Herrschaft bei Königen und Fürsten, Päpsten und Bischöfen, Orden und Zünften vor allem durch Rechtsprechungsakte. So konkurrierten weltliche und geistliche, städtische und fürstliche Gerichtsorgane und -instanzen miteinander, was besonders in den Städten des europäischen Spätmittelalters deutlich wird. Nach welchen Regeln der gelehrte mittelalterliche Prozess verlief, erfährt man aus zeitgenössischen Prozesshandbüchern. Diesen verfahrensrechtlichen Normen (ordines iudiciorum) hat sich die Forschung seit Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv gewidmet. Die prozessuale Praxis hingegen ist – abgesehen von der historischen Kriminalitätsforschung – bislang wenig erforscht. Weite Bereiche der Rechtsprechung in Zivilsachen im europäischen Spätmittelalter sind noch terra incognita.

Wer etwas über die Praxis der Rechtsprechung erfahren will, und dies unter den komplexen Verhältnissen konkurrierender Gerichtsbarkeiten, kommt nicht daran vorbei, die überlieferten Akten und Protokolle der Prozesse selbst zu studieren. Das Projekt „Rechtsprechung in der mittelalterlichen Stadt“ des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat dies für ausgewählte europäische Städte getan.

In allen Städten monopolisierten zunehmend die Gerichte die Streitschlichtung. Dagegen verloren außergerichtliche Konfliktlösungen – wie etwa die Fehde – an Bedeutung. Es stellte sich die Frage, ob die jeweils angewandten Verfahrensarten ein Grund für diese Entwicklung waren.

Bei der Erforschung dieser Verfahrensarten im Vergleich der ausgewählten europäischen Städte und Räume musste nicht nur die unterschiedlich früh einsetzende Überlieferung der einschlägigen Akten beachtet werden. Es galt auch, regionale Unterschiede im Verhältnis von schriftlichen zu mündlichen Verfahrensanteilen zu berücksichtigen. Mündlich vorgenommene Verfahrensschritte lassen sich naturgemäß nicht unmittelbar den Akten entnehmen. Gerade die mündlichen Verhandlungen dürften jedoch erheblich zur rituellen Einbindung der Parteien in das Verfahren beigetragen haben. Damit stellte sich die Aufgabe, das reich überlieferte und typologisch vielfältige Prozessschriftgut zu erschließen und quellenkritisch aufzuarbeiten, um so weitere und größere Studien zu ermöglichen. Nur so ließ sich eine der zentralen Fragen untersuchen, nämlich in welchem Umfang die Normen des ordo iudiciorum mit ihrem Protokollierungszwang auch praktische Beachtung fanden.

Das an den mittelalterlichen Universitäten gelehrte Prozessrecht kannte keine Grenzen. Im Forschungsprojekt wurden zwei zentrale Aspekte der breit gefächerten Thematik im Rahmen internationaler Tagungen behandelt: die Kommunikation vor Gericht und das erhaltene Prozessschriftgut. Dabei zeigte sich zunächst, in welcher Vielfalt – bis hin zu offener Konkurrenz verschiedener Gerichtsbarkeiten – die Justiz das Leben mittelalterlicher Städte prägte und welch zentrale Bedeutung der Rechtsprechung für die Befriedung des städtischen Raumes zukam. Das Ausmaß der „Verrechtlichung“ von lokalen Streitigkeiten und die Bereitschaft, sich der Justiz zu bedienen, erwiesen sich im Vergleich zu anderen Formen der Streitbeilegung als unerwartet hoch. Trotz aller territorialen Unterschiede traten weitere gemeinsame Merkmale städtischer Rechtsprechung hervor, etwa ihre im Verlauf der Zeit voranschreitende Professionalisierung. Folgerichtig verstärkten sich auf dem Kontinent in fast allen Zweigen gerichtlicher Tätigkeit Elemente des gelehrten ordo iudiciorum.

Das Prozessschriftgut selbst bietet bei allen lokalen und regionalen Unterschieden ein erstaunlich homogenes Bild und führt auf diese Weise die Effekte einer einheitlichen Notarsausbildung in Verbindung mit einem in ganz Lateineuropa rezipierten Verfahrensrecht vor Augen, das seinen Niederschlag zum Beispiel in nahezu identischen Protokollierungs- und Verweistechniken in England, Frankreich, Italien, in Deutschland und an der römischen Kurie findet (Abb. 2 und 4).

Eine gegen Ende des Mittelalters geradezu explodierende Schriftlichkeit gerichtlicher Verfahren erscheint in der Nahbetrachtung als systemimmanenter Faktor der Assimilation streitiger Rechtsprechung in Zivilsachen. Weniger stark verschriftlicht waren dagegen Strafverfahren als von Amts wegen betriebene Verfahren. Da lediglich in Zivilverfahren die Gerichtsnotare von den Parteien nach geschriebenen Zeilen bezahlt wurden, hatten sie ein ökonomisches Interesse an einer umfassenden Verschriftlichung. Die dadurch bedingten immensen Verfahrenskosten spielten eine erhebliche Rolle bei den gerichtlichen Auseinandersetzungen. Der Protokollierungszwang hatte damit neben seinem originären Zweck – dem insbesondere bei Berufungen erforderlichen Nachweis des ordnungsgemäßen Verfahrensgangs im vorherigen Verfahren – unerwartete Auswirkungen.

Kooperation statt Konkurrenz – das geistliche Gericht im mittelalterlichen Bistum Konstanz

Am Beispiel der Diözese Konstanz wurde überprüft, in welchem Umfang die Städte der größten Diözese des mittelalterlichen Reiches ihre Rechtsprechung in scharfer Konkurrenz zu einer mächtigen geistlichen Rechtsprechung auszubauen versuchten. Zu dieser Konkurrenz kam es nach üblicher Meinung der Forschung, weil die geistlichen Gerichte aufgrund ihres schärfsten Vollstreckungsmittels – der Exkommunikation – sogar rein weltliche Streitsachen an sich zu ziehen vermochten. Es stellte sich anhand der überlieferten Akten jedoch heraus, dass die faktische Kompetenz geistlicher Richter in streitigen Verfahren weit mehr im Rahmen allseits anerkannter kirchlicher Zuständigkeiten blieb, als eine an normativ-programmatischen Quellen orientierte Geschichtsschreibung dies vermuten ließ. Streitigkeiten zwischen Laien, die nach profanem Recht zu beurteilen waren, wurden vor dem Konstanzer Offizial (dem professionellen Richter anstelle des Bischofs) nur noch selten verhandelt. Und obwohl Kleriker ein Gerichtsstandsprivileg genossen, fanden Klagen nach weltlichem Recht, bei denen eine Partei dem Klerus angehörte, kaum mehr ihren Weg vor den geistlichen Richter. Verklagten Laien oder weltliche Institutionen einen Geistlichen vor einem kirchlichen Gericht, ging es meistens um genuin geistliche Streitsachen wie die Vernachlässigung der Seelsorge. Umgekehrt standen bei Klagen von Klerikern oder geistlichen Parteien gegen Laien in der Regel Einkünfte aus kirchlichem Vermögen im Vordergrund, allem voran der Zehnt, aber auch Rechtsfragen im Bereich frommer Stiftungen.

Der Kompetenzbereich der geistlichen Gerichte war relativ gering, denn die geistliche Rechtsprechung war eng in das städtische Milieu eingebunden. Dies zeigt sich an der weit verbreiteten Tätigkeit bischöflich beauftragter Gerichtskommissare in den Städten und an intensiven Kooperationen zwischen geistlichem und weltlichem Gericht. Das Konstanzer Beispiel lässt demnach vermuten, dass die vielfach vertretene These einer ständigen und scharfen Konkurrenz der Gerichtsbarkeiten auch für andere Räume des ausgehenden Mittelalters einer Korrektur bedarf. Der Pluralismus der Gerichte führte offenbar eher zu wechselseitiger Angleichung oder „Partnerschaft“ (Abb. 3) als zu Wettbewerb und wechselseitiger Ausgrenzung im Bestreben einer Monopolisierung oder Vorherrschaft. Welches Gericht angerufen und tätig wurde, war stärker durch das soziale Phänomen „Stadt“ mit den ihr eigenen Problemen und Konflikten bestimmt als durch die traditionellen Zweige der Gerichtsbarkeit.

Viele Gerichte – ein Verfahrensrecht: Rechtsprechung im mittelalterlichen Florenz

Die Streitbeilegung in Zivilsachen in Florenz war Gegenstand einer repräsentativen Probeserie von Prozessakten. Dort konkurrierten die ordentliche Gerichtsbarkeit der Curia del podestà und die Handelsgerichtsbarkeit, die Mercanzia. Die Überlieferungslage ist günstig, weil die Notare der Richter in ihren Amtsbüchern die einzelnen Prozesshandlungen und eingereichten Schriftstücke sorgfältig protokollierten. Dies führte zu einer wesentlichen Verschriftlichung des Prozesses. Die normativen Quellen der Stadt regelten den Prozessablauf nicht im Einzelnen, sondern setzten einen allgemeinen ordo iudiciorum als bekannt voraus. Die Akten der verschiedenen Gerichte spiegeln diesen Sachverhalt wider, denn schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts ist eine grundsätzliche Vereinheitlichung des Verfahrens in Zivilsachen festzustellen – in einer Zeit, als sich die beiden untersuchten Gerichte auch in ihrer Funktion immer weniger voneinander abhoben. Begünstigt wurde diese Assimilation dadurch, dass beide Gerichte das innovative Mittel der Verfahrensverkürzung, den „summarischen Prozess“, einführten.

Richter vor Gericht – schriftgestützte kommunale Selbstkontrolle in Lucca

Die frühe politische Autonomie ist ein wesentliches Merkmal der oberitalienischen Kommunen. Sie praktizierten diese nicht nur in Form einer eigenständigen Rechtsprechung, sondern schufen auch Einrichtungen und Verfahren, um die Qualität der Rechtsprechung selbst zu garantieren. So bestand auch hier in Übereinstimmung mit allgemeinen Grundsätzen gelehrter Rechtsprechung für eine Partei die Möglichkeit, ein Urteil vor einem höheren Gericht anzugreifen (Appellation). Diesem Phänomen hat sich eine Fallstudie zur italienischen Mittelstadt Lucca zugewendet, wo den ältesten Prozessakten zwei städtische Verfahrensordnungen aus dem 14. Jahrhundert gegenübergestellt werden konnten. Obwohl Lucca die Institution eines obersten Appellationsrichters bereits lange kannte, musste dessen Zuständigkeit in ausführlichen Statutenbestimmungen erst festgelegt und etabliert werden. Anderen Gerichten wurde bei Strafandrohung verboten, Appellationen zu bearbeiten. Ein klar ausgebildeter Instanzenzug ist somit noch nicht zu erkennen. Mittelalterliche Gerichte hatten offenbar das Bestreben, möglichst viele Appellationen an sich zu ziehen und damit ihre Autorität zu stärken. Unzufriedene Parteien konnten dies ausnutzen, um durch parallele Anrufung mehrerer Gerichte ein günstiges Urteil zu erlangen. Der Fall Lucca zeigt somit, dass nicht nur auf horizontaler Ebene Gerichte – etwa das des Bischofs mit dem der Kommune – konkurrieren konnten, sondern auch vertikal im Sinne niedrigerer oder höherer Autorität. Der Rechtfertigungszwang für den Ausgangsrichter konnte dabei so weit gehen, dass er seine Amtshandlungen vor dem Appellationsrichter verteidigen musste. Gerade im Appellationsverfahren ist überdies einer der Gründe für die Dichte und Art der Aufzeichnungen im Ausgangsverfahren zu sehen.

So erhöhten die städtischen Verfahrensordnungen im Verlauf des 14. Jahrhunderts die Anforderungen an die Schriftlichkeit von Prozesshandlungen: Gerichtsnotare wurden unter Androhung von Geldstrafen angehalten, alle Bann- und Schuldsprüche aufzuzeichnen und die von den Parteien eingereichten Klagen in das beständigere Gerichtsregister umzutragen (Abb. 4).

Strafurteile galten als so wichtig, dass sie auf Pergament und nicht auf Papier wie die übrigen Gerichtshandlungen verzeichnet werden sollten. Auch Zeugenaussagen waren von einem besonders qualifizierten Notar zu protokollieren. Daneben wurden den Gerichtsnotaren verschiedene Vervielfältigungs- und Auszugspflichten aus den bei Gericht entstandenen Aktenbüchern auferlegt. Einen gewissen Abschluss fand die öffentliche Kontrolle über die Prozessakten mit den Statuten aus dem Jahr 1372. Sie machten es den Gerichtsnotaren zur Pflicht – wollten diese keine Geldstrafe riskieren –, alle während ihrer Amtstätigkeit angefertigten Gerichtsbücher sowie lose Originale nach Ablauf ihrer Dienstzeit an das städtische Archiv abzuliefern.

Originalveröffentlichungen

F.-J. Arlinghaus, I. Baumgärtner, V. Colli, S. Lepsius, T. Wetzstein (Hg.):
Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters.
Klostermann, Frankfurt a.M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, 23. Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte).
S. Lepsius, T. Wetzstein (Hg.):
Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter.
Klostermann, Frankfurt a.M. 2007 (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte).
V. Colli:
Acta civilia in curia potestatis: Firenze 1344. Aspetti procedurali nel quadro di giurisdizioni concorrenti.
In: Praxis der Gerichtsbarkeit. (Hg.) Arlinghaus et al. Klostermann. Frankfurt a.M. 2006, 271–304.
S. Lepsius:
Dixit male iudicatum esse per dominos iudices. Zur Praxis der Appellationsgerichtsbarkeit im Lucca des 14. Jahrhunderts.
In: Praxis der Gerichtsbarkeit. (Hg.) Arlinghaus et al. Klostermann. Frankfurt a.M. 2006, 189–269.
T. Wetzstein:
Tam inter clericos quam laicos? Die Kompetenz des Konstanzer geistlichen Gerichts im Spiegel der archivalischen Überlieferung.
In: Praxis der Gerichtsbarkeit. (Hg.) Arlinghaus et al. Klostermann. Frankfurt a.M. 2006, 47–82.
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