Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institute für biophysikalische Chemie

Dietrich oder Schlüsselbund: Was ein Protein und ein Panzerknacker gemeinsam haben

Autoren
Griesinger, Christian
Abteilungen

NMR-basierte Strukturbiologie (Prof. Dr. Christian Griesinger)
MPI für biophysikalische Chemie, Göttingen

Zusammenfassung
Mittels eines neuen NMR-spektroskopischen Verfahrens gelang es, nicht nur die Durchschnittsstruktur des Proteins Ubiquitin zu bestimmen, sondern ein Strukturensemble des gelösten Proteins, das die Fluktuationen insbesondere in dem bisher unzugänglichen Zeitbereich zwischen 5 milliardstel und 50 millionstel Sekunden zugänglich macht. Dieses Ensemble erlaubt wichtige Rückschlüsse auf den Mechanismus der Protein/Protein-Erkennung mit potenziellen Konsequenzen für die Beeinflussung von Protein/Protein-Komplexen, was letztlich eine neue Dimension in der Pharmakaentwicklung bedeuten könnte.

Proteine stellen neben DNA, RNA, Zuckern und Lipiden eine große Klasse von biologisch wichtigen Molekülen dar. Es sind Makromoleküle, die aus einer begrenzten Zahl von Bausteinen, den Aminosäuren, aufgebaut sind. Wichtig für die Funktion ist ihre Struktur, die sich grob unterteilen lässt in die Primärstruktur (Sequenz der Aminosäuren, jedes Protein ist aus den 20 sogenannten proteinogenen Aminosäuren aufgebaut) und die dreidimensionale Anordnung der Atome im Raum. Während die Primärstruktur relativ leicht zu ermitteln ist, war es erst ab Mitte des letzten Jahrhunderts mittels der Röntgenkristallographie möglich, die räumlichen Proteinstrukturen zu bestimmen. In den 80er- Jahren kam die Kernresonanzspektroskopie (NMR) als weitere Methode hinzu. Heute sind etwa 15 Prozent der in der Protein-Datenbank (pdb) deponierten Strukturen mittels NMR, der Rest mittels Röntgenkristallographie bestimmt. Bei der NMR-Spektroskopie wird die notwendige Auflösung von weniger als einem hundertmillionstel Millimeter (0.1 Å) dadurch erreicht, dass die Resonanzfrequenz eines jeden Atomkerns im Molekül von seiner chemischen Umgebung beeinflusst wird und die chemische Verschiebung erzeugt. Das Ausmaß der Beeinflussung hängt vom äußeren Magnetfeld ab, sodass immer stärkere und teurere Magneten für diese Untersuchungen notwendig sind. Die mehreren tausend Atome eines Moleküls werden aufgrund der unterschiedlichen chemischen Verschiebungen unterscheidbar und aus der Messung der Distanzen zwischen diesen unterscheidbaren Atomkernen kann die dreidimensionale Anordnung aller Atome im Raum (Struktur des Proteins) abgeleitet werden. Für dieses Verfahren haben Richard R. Ernst 1991 und Kurt Wüthrich 2002 den Nobelpreis erhalten.

Die Bestimmung der Struktur von Proteinen, oder genauer gesagt, die Bestimmung einer gemittelten Struktur des Proteins lieferte wichtige Informationen über die Funktion des Proteins. Zum Beispiel bei Protein/Protein-Erkennung kann man von der dreidimensionalen Struktur ableiten, welche Aminosäurereste für die Bildung einer Oberfläche mit einer spezifischen Signatur aus positiv oder negativ geladenen und fettliebenden (lipophilen) Resten verantwortlich sind. Oder bei Enzymen, also den natürlichen Katalysatoren, welche Aminosäuren für die Katalyse verantwortlich sind.

Es stellte sich allerdings heraus, dass häufig die für die Katalyse verantwortlichen Aminosäurereste in der einen Struktur nicht an Positionen saßen, die die Katalyse erklären würde. Also war Proteinbeweglichkeit für die Katalyse unverzichtbar. Auch bei der Bildung von Komplexen zwischen zwei Proteinen zeigte sich, dass ein Protein je nach Bindungspartner im Komplex unterschiedliche Konformationen annahm. Nach dem alten Emil-Fischer’schen Modell von dem Schlüssel und dem Schloss, in dem das betrachtete Protein der Schlüssel, der Bindungspartner das Schloss darstellt, passte sich der Schlüssel offenbar dem Schloss an. Wenn ein Protein eine Vielzahl von Bindungspartnern erkennen muss, und derartige Proteine findet man in großer Zahl, so sollte es sich entweder wie ein Dietrich (passt sich also dem Schloss an) verhalten oder das Protein sollte eher einem Schlüsselbund vergleichbar sein, wählt also für jedes Schloss den passenden Schlüssel aus.

Der erste Fall eines adaptiven Schlüssels für alle denkbaren Schlösser wurde von Koshland [1] 1958 als induced fit (Abb. 1) bezeichnet, während der Schlüsselbund und die Auswahl des passenden Schlüssels für das Knacken eines Schlosses 1965 von Monod [2] als conformational selection (Abb. 2) bezeichnet wurde.

Diese Frage war für viele Jahrzehnte sehr schwer zu untersuchen, da es nicht möglich war, neben der gemittelten Struktur, die über Röntgenkristallographie oder NMR bestimmt werden konnte, auch ein getreues Abbild der Fluktuationen der Strukturen zu gewinnen. Hier haben zwei neue, in den letzten zehn Jahren entwickelte Messverfahren Abhilfe geschaffen, die beide die kernmagnetische Resonanzspektroskopie (NMR) nutzen. Im ersten Verfahren, das Fluktuationen auf einer im Folgenden als langsam bezeichneten Zeitskala von etwa 50 millionstel (50 µs) bis ein hundertstel Sekunden (10 ms) misst, nutzt man die Tatsache aus, dass sich die chemische Umgebung und damit die Resonanzfrequenz des mit dem Atomkern verknüpften Spins ändert. Diese Änderung schlägt sich als Linienverbreiterung nieder, ist aber strukturell schwer zu interpretieren. Man erfährt, dass sich etwas tut, aber man kann nicht auf das Ausmaß der Bewegung schließen [3].

Ein zweites Verfahren, das die Gruppe um Christian Griesinger in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, beruht auf der Präzisionsmessung der scheinbaren Länge und Richtung von internuklearen Vektoren in Bezug auf das Molekül. Internukleare Vektoren verbinden zwei Atomkerne, bei den Messungen bevorzugt das Stickstoffatom (N) der Aminogruppe der Aminosäure und das daran gebundene Wasserstoffatom (H), also die NH-Vektoren. Die scheinbare Länge und Richtung wird über sogenannte dipolare Kopplungen gemessen, die durch flüssigkristalline Medien, Alignmentmedien, erzeugt werden und letztlich eine Projektion des Vektors auf eine bestimmte Raumrichtung vorgeben. Für eine Messung der scheinbaren Länge eines Vektors reichen n Messungen aus, wobei n die Dimension des Vektors ist. Nun zeigt sich, dass die aus den Projektionen zusammengesetzte Richtung dem Mittelwert der von diesem Vektor eingenommenen Orientierungen entspricht. Die scheinbare Länge dagegen ist bei Fluktuationen des Vektors erhöht. Das Ausmaß der Erhöhung ist ein Maß für die Amplitude der Fluktuationen des Vektors, die auf allen Zeitskalen von etwas einer billionstel Sekunde bis etwa einer hundertstel Sekunde auftreten. Die Forscher um Christian Griesinger unterwarfen Ubiquitin, dessen biologische Funktion übrigens ist, sich an andere Proteine anzuheften wie eine Briefmarke an einen Brief und dadurch das Schicksal des Proteins in der Zelle zu bestimmen, diesen Messungen und fanden erhebliche Fluktuationen, die nicht durch die oben erwähnten langsamen Fluktuationen zu erklären sind, aber auch nicht durch sehr schnelle. Diese sehr schnellen Fluktuationen passieren in einem Zeitfenster zwischen einer billionstel Sekunde (1ps) und etwa fünf milliardstel Sekunden (5 ns) und können ebenfalls mit einem nochmals anderen NMR-spektroskopischen Messverfahren eruiert werden.

Da, wie erwähnt, erhebliche Fluktuationen übrigblieben, die weder sehr schnell noch langsam waren, mussten sie in einem Zeitfenster zwischen etwa fünf milliardstel (5 ns) und 50 millionstel Sekunden (50 µs) stattfinden. Dieses Zeitfenster war in physiologischer Umgebung bisher messtechnisch nicht zugänglich.

In einer Kooperation mit Oliver Lange, Helmut Grubmüller und Bert de Groot von der Nachbar-Abteilung für Theoretische und Computergestützte Biophysik gelang es dann, die experimentell bestimmten Fluktuationen durch ein Ensemble von Strukturen des Ubiquitins in Abwesenheit irgendeines Bindungspartners darzustellen und damit zwischen den beiden von Monod und Koshland skizzierten Extremsituationen zu unterscheiden. In der Tat deckt das freie Lösungs-Ensemble alle 46 bekannten Strukturen ab, die Ubiquitin im Komplex mit Bindungspartnern einnimmt. Diese Komplexe fanden sich in der Protein-Datenbank. In der oben eingeführten Schlüssel-Schloss-Analogie wird Ubiquitin daher nicht durch einen Dietrich, sondern durch einen Schlüsselbund repräsentiert. Ein Bindungspartner findet so immer schon die richtige Struktur in Lösung vor und muss aus dem Schlüsselbund nur den richtigen Schlüssel auswählen. In diesem Sinn kommt der Panzerknacker (Ubiquitin) mit dem Schlüsselbund, um das Safeschloss zu knacken, und nicht mit dem adaptiven Dietrich.

Interessant ist es jetzt herauszufinden, mit welcher Geschwindigkeit die verschiedenen Konformationen ineinander übergehen, da diese Umwandlung die Geschwindigkeit der Bindungsbildung nach oben hin limitieren sollte.

Dass Moleküle sich eher wie ein Schlüsselbund als wie ein Dietrich verhalten, wenn sie Bindungspartner erkennen, dafür gibt es ein weiteres, ähnlich gelagertes Beispiel. So fanden Hashim al Hashimi und Kollegen für die Ribonukleinsäure TAR-RNA, die bei der Infektion durch den HI-Virus eine entscheidende Rolle spielt, heraus, dass sie eine Bewegung um ein Scharnier herum ausübt, vergleichbar mit dem Knie eines Beins. Diese Beweglichkeit ist in physiologischer Umgebung voll ausgeprägt. Bindet die RNA allerdings kleine Moleküle, die man für die Abwehr von HIV-Infektionen verwenden könnte, so nimmt sie eine Konformation an, die je nach Bindungspartner gestreckt oder leicht oder stärker gewinkelt ist.

Sollte sich die Erwartung bestätigen, dass es sich hier um ein allgemeines Phänomen handelt, so kann man langfristig neben dem Erkenntnisgewinn über grundlegende biophysikalische Eigenschaften von Proteinen erhoffen, Interaktionen zwischen Proteinen besser zu modulieren, was neue Perspektiven bei der Entwicklung von Medikamenten eröffnen würde.

Originalveröffentlichungen

D. E. Koshland Jr.:
Application of a theory of enzyme specificity to protein synthesis:
Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 44, 98-104 (1958).
J. Monod, J. Wyman and J.-P. Changeux:
On the nature of allosteric transitions: A plausible model.
Journal of Molecular Biology 12, 88-118 (1965).
L. C. Wang, Y. X. Pang, T. Holder, J. R: Brender, A. V. Kurochkin, E. R. P. Zuiderweg:
Functional dynamics in the active site of the ribonuclease binase.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 98, 7684-7689 (2001).
O. Lange, N. A. Lakomek, C. Farès, G. Schröder, S. Becker, J. Meiler, H. Grubmüller, C. Griesinger, B. de Groot:
Recognition dynamics up to microseconds revealed from an RDC-derived ubiquitin ensemble in solution.
Science 320, 1471-1475 (2008).
Q. Zhang, A. C. Stelzer, C. K. Fisher, H. M. Al-Hashimi:
Visualizing spatially correlated dynamics that directs RNA conformational transitions.
Nature 450, 1263-1267 (2007).
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