Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Die Entstehung nationaler Rechtssysteme im postosmanischen Südosteuropa: Dekonstruktion, Formation und Transfer von Normativität

Autoren
Bender, Gerd; Kirov, Jani
Abteilungen
Zusammenfassung
Die historische Großregion Südosteuropa war in der postosmanischen Zeit durch eine Gemengelage aus altem und neuem Recht, aus tradierter, transformierter und transferierter Normativität gekennzeichnet. Diese normativen Schichten überlagerten sich in einer komplexen Weise. Zugleich sahen sie sich eingebettet in den Prozess der Nationalstaatsbildung und deren Legitimitätsprobleme. Das Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte rekonstruiert diese unübersichtliche rechtshistorische Welt des Wandels.

Normative Ordnung und Geschichte

Das postosmanische Südosteuropa birgt für die dem Thema Normativitätsgenese verpflichteten Wissenschaften besondere Herausforderungen. Dies gilt bereits für die Aufgabe, die immense Komplexität der historischen Situation angemessen zu beschreiben, genauso aber auch für die „qualitativen“ Kernfragen des Projekts, das am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in enger Partnerschaft mit südosteuropäischen Wissenschaftlern und mit Unterstützung durch den Frankfurter Exzellenz-Cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ durchgeführt wird: Was war die Rolle des westlichen Rechts und der Muster der okzidentalen Modernität, auf die Südosteuropa im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts schaute? Was waren die Bedingungen der intendierten Rechtstransfers, und wie wurde das neue Recht implementiert und legitimiert? Welchen Beschränkungen unterlagen die nationalen Neustarts, und wie präsent blieb das osmanische Erbe in einer postosmanischen Normenordnung, die sich wohl kaum als die große Stunde Null Südosteuropas verstehen lässt?

Normative Ordnungen sind historische Gebilde. Sie entstehen nicht am Reißbrett, sondern stellen eine neue Ebene der sozialen Organisation dar, die Altes und Neues miteinander vermischt. Dieser Entstehungsprozess kann sowohl extern, über politische Programme und Instrumente, als auch intern, über rechtsspezifische Mechanismen beeinflusst werden. Rechtstransfer ist dabei ein erprobtes, nahezu universelles Mittel, welches die Normgenese zwar beschleunigen, zugleich aber die betroffene Gesellschaft in einer kaum geahnten Weise irritieren kann. Ein lehrreiches Beispiel aus der europäischen Geschichte bietet die Region Südosteuropa. Es drängen sich dabei nicht nur konkrete Bezüge zur Situation des heutigen Südosteuropa und zu seiner Integration in die Europäische Union auf. Das postosmanische Südosteuropa kommt darüber hinaus auch als ein Modell für die heutige Welt sich wandelnder Ordnungen überhaupt in Betracht.

Die osmanische Vergangenheit Südosteuropas

Die Länder Südosteuropas formierten sich als unabhängige Nationalstaaten im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts während des Zerfalls des Osmanischen Reiches, dem sie im Zuge der osmanischen Expansion auf dem Kontinent im 14. Jahrhundert zugefallen waren (Abb. 1). In diesem Formierungsprozess diente ihnen – ähnlich wie der heutigen europäischen Großregion – das moderne Westeuropa als Vorbild, welches die Verwirklichung der eigenen nationalen Ideale und Hoffnungen versprach. Dazu gehörten vor allem Modernisierung, nationale Einheit und Autonomie: alles Leitmotive einer verspäteten Staatsbildung, einer Geschichte der verschiedenen Geschwindigkeiten, der vielen Diskrepanzen und Dissonanzen.

Trotz der Unterschiede, die zwischen den Gesellschaften Südosteuropas bestanden, lassen sich auch strukturelle Gemeinsamkeiten nicht übersehen. Als Teile des komplexen historisch gewachsenen Gefüges des Osmanischen Reiches waren sie nicht als Nationen oder selbstständige politische Einheiten integriert, sondern nach einem religiösen Prinzip. Religion war der gesellschaftliche Fluchtpunkt, das Zentrum, von dem aus die einzelnen Gruppen – soweit überhaupt – erfasst und im Ganzen repräsentiert wurden. Dafür gab es konkrete historische Gründe: Die orthodoxe Kirche behielt in den von den Osmanen eroberten Gebieten, mit Ausnahme der rumänischen Fürstentümer Walachei und Moldawien, die Stellung eines Substituts für die erloschenen Herrschaftsstrukturen. Dem christlich-orthodoxen Klerus, der ursprünglich von einer griechischen Spitze in Istanbul dominiert wurde, fielen innerhalb des Osmanischen Reiches jene Funktionen zu, die ehemals ein wie auch immer beschaffener Herrschaftsapparat wahrgenommen hatte. Zugleich entsprach dies dem osmanischen Herrschaftsverständnis selbst, das sich wesentlich vom religiösen Dogma des Islams her definierte.

Insofern lässt sich auch nicht sinnvoll von einer „osmanischen Gesellschaft“ sprechen, sondern eher von einzelnen Gesellschaften oder Gruppen, die primär religiös, ethnisch und sozial verfasst waren. Kleinere Integrationskreise wie Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft mit ihrem je spezifischen Rollen- und Normenrepertoire – verstärkt und differenziert durch Religion, ethnische und sprachliche Zusammengehörigkeit – wirkten der Herausbildung einer abstrakten Einheit auf der Basis politischer Gemeinsamkeit entgegen. Sie bestimmten in hohem Maß auch die gesellschaftliche Positionierung des Individuums, das hauptsächlich durch Geburt und Familienzugehörigkeit, nicht durch Beruf und Karriere, sozial integriert wurde. Solchen Charakteristika, die vormoderne Gesellschaften auszeichnen, entsprach auf einer anderen Ebene die Tendenz zum Partikularismus – besonders deutlich im griechischen Reichsteil – und zur lokalen Segmentierung bis hin zu einer faktischen Autonomie einzelner Gemeinschaften oder Regionen, welche die osmanische Verwaltung teils respektierte, teils hinnehmen musste. Außerdem war dies der Boden, auf dem mannigfaltige Unterschiede – ethnischer, religiöser, sozialer Art – in einer eigenartigen Symbiose gedeihen und zusammenwachsen konnten. Die Konstruktion der eigenen Identität, die seit dem späten 18. Jahrhundert von der Idee der Nation vorangetrieben wurde, vollzog sich demzufolge in stetiger, nicht immer friedlicher Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden in einer Welt vielfältiger Unterschiede (Abb. 2).

Die Entstehung nationaler Rechtssysteme

Nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, die für die einzelnen Länder Südosteuropas im Laufe des 19. Jahrhunderts zu verschiedenen Zeitpunkten zustande kam, mussten sich diese Länder als politische Einheit definieren und organisieren. Zugleich galt es, die Neuanfänge nach innen und nach außen zu legitimieren. Dies geschah überall durch Verfassung, durch ein Rechtsgesetz also, welches das politische Verfahren, sein Instrumentarium und seine Regeln im Geiste westlicher Ideen und Ideale formulierte. Insofern besaß die Verfassung einen sehr wesentlichen ideellen, symbolischen Mehrwert, da sie mit dem Beginn von Politik und Recht in einem neu gegründeten Staat zusammenfiel. Sie reflektierte im südosteuropäischen Fall also nicht Formen und Modalitäten einer bereits etablierten politischen und rechtlichen Ordnung, die es zu korrigieren galt, sondern sollte eine solche erst ermöglichen, sie installieren und legitimieren helfen. Sie stellte gleichsam das Rezept für den Staat dar: einen Staat, wie es ihn damals in Westeuropa gab. Damit kehrte man die Geschichte, das Verhältnis von Ursache und Wirkung gewissermaßen um: Was vorher in Westeuropa den Bedarf an Verfassung hervorgebracht hatte – Positivität des Rechts, Ausdifferenzierung von Politik und Recht und die damit verbundenen Probleme der Rechtssetzung und der Beschränkung und Legitimierung politischer Macht –, wurde hier der Verfassung im Nachhinein als Effekt zugeschrieben und von ihr auch erwartet. Daraus ergaben sich verschiedene Funktionen, verschiedener Gebrauch und Sinn der Verfassung – trotz einer auf den ersten Blick gleichen Form, Sprache und Semantik.

Neben Verfassungsrecht bilden die Basismaterien des Zivil- und Strafrechts einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt. Mit der Verfassung wird – zumindest aus westlicher Perspektive und Erfahrung – ein reflexiver Mechanismus in das Recht eingebaut, der Recht und Politik strukturell aneinander bindet. Er erlaubt der Politik, über Entstehungs- und Geltungsbedingungen des Rechts zu entscheiden. Zugleich wird Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Politik der Boden bereitet. Demgegenüber stehen diese beiden Felder für die operative Seite der Entstehung und Geltung von Recht. Dabei geht es nicht zuletzt um die Relevanz von Rechtstraditionen, die als historisches Erbe in die Zeit der „Modernisierung“ eingegangen sind. Traditionelles Gewohnheitsrecht war bis dahin in den christlichen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches tief verankert und durch Geistliche, Honoratioren oder Zünfte angewandt worden. Auch während der Modernisierung blieb es unterschwellig neben dem offiziellen, nach westlichen Vorbildern geschaffenen und allgemein geltenden „osmanischen“ Recht weiterhin bestehen. Zwar wurde das westliche Recht in den entstehenden südosteuropäischen Staaten durch die offizielle Rechtspolitik und deren Gesetzgebung zuungunsten des bestehenden, meist nicht verschriftlichten und lokal oft divergierenden Gewohnheitsrechts forciert. Zunächst blieb die neue Rechtlichkeit aber auf überkommene Verfahrensformen und Personal angewiesen, die nur langsam ersetzt wurden (Abb. 3).

Diese Kontinuitäten verstärkten den Trend zu einer normativen Gemengelage, die zum Beispiel in einem eigenwilligen, durch die Traditionen geprägten Urteilsstil einen beredten Ausdruck gefunden hat. Die Analyse dieser Gemengelage gibt Antworten auf die Fragen nach der Herkunft des neuen Rechts, nach den Wegen und Formen seines Imports und seiner Implementierung sowie nach den Reaktionen und Nicht-Reaktionen der betroffenen Gesellschaften. Damit erlaubt sie auch einen Einblick in die langwierige Genese einer modernen Rechtsordnung unter den Bedingungen einer beschleunigten Geschichte.

Originalveröffentlichungen

J. Kirov:
Foreign Law Between „Grand Hazard“ and „Great Irritation“: The Bulgarian Experience After 1878.
Theoretical Inquiries in Law, 10 (2), 699–722 (2009).
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