Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Eigenständige Existenzsicherung von Frauen im Sozial- und Familienrecht: Rollenleitbilder von Männern und Frauen im europäischen Vergleich

Autoren
Hohnerlein, Eva Maria; Blenk-Knocke, Edda
Abteilungen
Zusammenfassung
Das traditionelle Rollenleitbild des Mannes als Alleinernährer der Familie hat sich gewandelt, und in den europäischen Ländern finden sich gegenwärtig unterschiedliche Rollenleitbilder und unterschiedliche Arrangements hinsichtlich der Arbeit von Männern und Frauen in Beruf und Familie. Je nach familien- und sozialrechtlichem Regime sind diese Geschlechterarrangements – insbesondere bei asymmetrischer Rollenverteilung – mit unterschiedlichen Chancen für eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen verknüpft.

Im Herbst 2006 übernahm das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht die Durchführung eines Forschungsprojektes über Grundfragen der eigenständigen und abgeleiteten Existenzsicherung von Frauen in Kooperation mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Im Rahmen des Projektes wurden zwei internationale, interdisziplinäre Tagungen durchgeführt: im Oktober 2007 die Tagung „Eigenverantwortung, private und öffentliche Solidarität – Rollenleitbilder im Familien- und Sozialrecht im europäischen Vergleich“ und im Oktober 2008 der Workshop „Rollenleitbilder und -realitäten in Europa: Rechtliche, ökonomische und kulturelle Dimensionen“.

Zum Konzept des Rollenleitbilds

Rolle und Rollenleitbild sind keine juristischen, sondern soziologische Konzepte. Sie stellen einen theoretischen Ansatz dar, mit dem die Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft beschrieben und verstanden werden kann. Die Ausgestaltung der Rollenerwartungen ist ein komplexer soziokultureller und institutioneller Prozess. Es können sich Rollenleitbilder in der Gesellschaft entwickeln, die den Charakter einer kulturellen Selbstverständlichkeit gewinnen und nicht mehr hinterfragt werden. Das galt zweifellos lange für die Geschlechterrollenleitbilder. Sie geben vor, welche Bereiche gesellschaftlicher Arbeit den Geschlechtern zugeschrieben werden (bezahlte Erwerbsarbeit oder unbezahlte Familienarbeit) und ob das Verhältnis von Frauen und Männern durch Autonomie oder Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Gemeinhin werden in der Forschungsliteratur zwei Rollenmodelle einander gegenübergestellt: das traditionelle Ernährermodell, das die Unterhaltsabhängigkeit – zumeist der Partnerin – impliziert (male breadwinner model) und das Zwei-Erwerbstätigen-Modell (adult worker model), für das die ökonomische Eigenverantwortung beider Partner konstitutiv ist.

Forschungsfragen

Die Systeme der sozialen Sicherheit und das Familienrecht basieren auf bestimmten Annahmen über die Arbeitsteilung von Frauen und Männern in Beruf und Familie. Diese Annahmen entsprechen bei zunehmender Arbeitsmarktintegration der Frauen vielfach nicht mehr der sozialen Realität. Das lange Zeit vorherrschende Rollenmodell des männlichen Alleinernährers hat sich im Zuge gesellschaftlicher und rechtlicher Modernisierungsprozesse verändert. Zunehmend spielt das Prinzip der ökonomischen Eigenverantwortung des Individuums eine zentrale Rolle. Welche Veränderungen in der privaten Solidarität unter Partnern und in den öffentlichen Solidargemeinschaften ergeben sich daraus? Wie kann die eigenständige Existenzsicherung von Frauen in verschiedenen Paar-Arrangements gefördert und wie können Anreize für die Fortschreibung von Unterhaltsabhängigkeit verringert werden? Inwieweit haben das Familien- und Sozialrecht kohärente Reformstrategien entwickelt, um dem legitimen Interesse der Frauen an einer eigenständigen Existenzsicherung Rechnung zu tragen? Hinter diesen Fragen steht die Erkenntnis, dass das Fortbestehen asymmetrischer Geschlechterrollenmodelle eine bislang unterschätzte Ursache für die nach wie vor fehlende Chancengleichheit von Männern und Frauen in Bezug auf eine eigenständige Existenzsicherung darstellt.

Ausgewählte Ergebnisse

Erosion des Ernährermodells und Vielfalt der Geschlechterarrangements

Das Alleinernährermodell hat als absolut dominantes Rollenmodell zwar ausgedient, bleibt allerdings in unterschiedlicher Ausprägung erhalten. Insgesamt zeigt der empirische Befund jedoch einen jeweils länderspezifisch ausgestalteten Rollenpluralismus. Das heißt, Frauen und Männer leben in unterschiedlichen Konstellationen der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. In Dänemark und Frankreich überwiegt bei Paaren das Zwei-Vollzeit-Erwerbstätigenmodell, in Großbritannien und Deutschland ist das Vollzeit-Teilzeit-Erwerbstätigenmodell (modifiziertes Ernährermodell) besonders verbreitet, und in Italien herrscht noch das traditionelle Alleinernährermodell vor.

Von einer partnerschaftlichen Neuverteilung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen kann in Europa bisher nicht die Rede sein. Insofern geht die Modernisierung der Geschlechterrollen weitgehend zulasten der Mütter. Studien verzeichnen zwar positive Einstellungsänderungen der Männer gegenüber einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung, aber es verbleibt eine Kluft zwischen Einstellung und Verhalten. Obwohl der empirische Trend auf eine Modernisierung der Rollenleitbilder hinweist, ist möglicherweise davon auszugehen, dass auf längere Sicht gleichzeitig unterschiedliche Rollenmodelle nebeneinander bestehen werden.

Gleichberechtigung und Ausgestaltung des Familien- und Sozialrechts

Ein Familien- und Sozialrecht, das nach Geschlechtern unterscheidet, ist in den letzten Jahrzehnten in Europa durch ein auf Gleichheit und Gleichbehandlung der Geschlechter gründendes Recht weitgehend überwunden worden. Die Gleichheit von Rechten und Pflichten für Männer und Frauen ist als Verfassungsprinzip fest verankert und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen der nationalen Rechtsordnungen. Formale Gleichstellung und geschlechtsneutrale Ausgestaltung der Rechtsnormen allein reichen aber nicht aus, um angesichts unterschiedlicher Lebensverhältnisse auch zu einer tatsächlichen Gleichstellung im Sinne gleicher ökonomischer Chancen für Frauen und Männer oder zu einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung zwischen Ehegatten (und anderen Paarbeziehungen) zu gelangen.

Rollenleitbilder im Sozialrecht

Zwar überlässt der Staat den Paaren die Entscheidung über die Arbeitsteilung selbst, doch viele Anreize werden in Deutschland nach wie vor für eine asymmetrische Rollenteilung gesetzt, etwa im Bereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse durch Verweis auf die soziale Absicherung über den Ehemann. Außerdem lassen sich implizite Rollenmodelle nachweisen, die die traditionellen Geschlechterrollen verfestigen, wie beispielsweise das Leitmodell der nicht erwerbstätigen Mutter mit Kindern unter drei Jahren im Erziehungsurlaubsrecht. Auch das Sozialrecht gründet sich vielfach noch auf dem mit dem Familienernährer verknüpften Modell des Normalarbeitnehmers in einer lebenslangen Vollzeitbeschäftigung mit einer durchgängigen Erwerbs- und Versichertenbiografie, das niemals der Lebensrealität der meisten Frauen entsprochen hat.

Rollenleitbilder im Familienrecht

In allen Vergleichsländern bleibt es den Ehegatten selbst überlassen, wie sie ihre Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung und ihre Unterhaltspflicht – auch hinsichtlich des Kindesunterhalts – erfüllen. Die Vereinbarung unter Ehegatten über die gewählte Arbeitsteilung ist nicht beschränkt. Daher kann ein Ehegatte sich in die vollständige Unterhaltsabhängigkeit von seinem Partner begeben. Nach einer Scheidung tendieren die Rechtsordnungen allerdings dazu, geschiedene Partner auf ihre wirtschaftliche Eigenversorgung zu verweisen und nachehelichen Unterhalt nur noch befristet zu gewähren. Die Rollenanforderungen während und nach der Ehe sind insoweit widersprüchlich.

Besonders interessant ist, wie in unterschiedlichen europäischen Ländern das Ehegüterrecht hinsichtlich der Verfügungsbefugnisse und der Eigentümerstellung des Partners gestaltet ist, der nicht voll in das Erwerbsleben integriert ist. Welche Form des Ehegüterrechts die Idee einer partnerschaftlichen Teilhabe am ehesten unterstützt, ist nicht einfach zu entscheiden. In rechtstatsächlicher Hinsicht geht die Tendenz bei zunehmender Erwerbsbeteiligung beider Ehepartner dahin, Arbeitseinkommen und daran geknüpfte Vorsorgeanwartschaften während einer bestehenden Ehe nicht einer Gütergemeinschaft zu unterwerfen, sondern ungleiche Erwerbschancen erst bei einer Beendigung der Ehe auszugleichen.

Geschlechterrollen, Eigenverantwortung und Solidarität

Das Verhältnis von Eigenverantwortung, privater Solidarität (zwischen Partnern) und öffentlicher Solidarverantwortung unterliegt einem grundlegenden Wandel, der in allen untersuchten europäischen Staaten sichtbar ist. Durch familien- wie sozialrechtliche Reformen erhöhen sich die Anforderungen an die Eigensorge und die Eigenvorsorge arbeitsfähiger Menschen. Auch im Bereich der Alterssicherung lässt sich in allen europäischen Ländern ein deutlicher Trend hin zu mehr Eigenverantwortung und zur Betonung eigenständiger Absicherung feststellen. Beispiel hierfür sind die erweiterten Möglichkeiten zur rentenrechtlichen Anrechnung von Kindererziehungszeiten.

Die Ehe ist nach wie vor als familienrechtlich begründete Einstandsgemeinschaft anerkannt. Sie ist in unterschiedlichem Ausmaß Anknüpfungspunkt für private, aber auch für kollektive Solidarleistungen. Zugleich spielen andere Formen des Zusammenlebens eine wachsende Rolle als Verantwortungsgemeinschaft.

Wechselwirkungen zwischen Recht und Gesellschaft

Die Frage nach dem Einfluss der Sozialpolitik und der Gestaltungskraft von Sozial- und Familienrecht als Steuerungsinstrument sozialer Beziehungen ist äußerst komplex. Denn das Sozial- und Familienrecht muss sich den Herausforderungen einer sozialpolitischen Realität stellen, die durch massive Widersprüche und Interessenkonflikte gekennzeichnet ist. Das Recht selbst kann die sozialpolitische Realität nur bedingt beeinflussen. So kann das nationale Recht die sogenannten neuen „sozialen Risiken“, die aus dem Prozess der Globalisierung herrühren (Anstieg der atypischen Arbeitsverhältnisse und der Arbeitslosigkeit), die Vielfalt an Familienformen und die abnehmende Stabilität von Familienstrukturen (hohe Scheidungsraten) kaum beeinflussen, obwohl die Leitbilder (Normalarbeitnehmer, dauerhafte Ehe) dieser Rechtsmaterien davon erheblich betroffen sind.

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