Forschungsbericht 2007 - MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht

Kartellrecht in Entwicklungsländern

Autoren
Drexl, Josef
Abteilungen

Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht (Prof. Dr. Dres. h.c. Joseph Straus)
MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München

Zusammenfassung
Viele sogenannte Entwicklungsländer entscheiden sich gegenwärtig für ein nationales Kartellrecht und eine nationale Wettbewerbsordnung. Die Orientierung an den Vorbildern in den USA und Europa liegt dabei nahe. Dagegen wird die Frage, ob Entwicklungsländer ein „anderes“ Kartellrecht brauchen, nur selten gestellt, obwohl die besonderen ökonomischen, kulturellen, politischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen für beachtliche Anpassungen sprechen könnten.

Warum entscheiden sich Entwicklungsländer für Kartellrecht?

Das Kartellrecht hat sich in den letzten Jahren weltweit durchgesetzt. Mittlerweile gibt es mehr als einhundert Länder mit Kartellrechtsordnungen, darunter auch viele Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Amerika. Diese Entwicklung überrascht, denn noch im Jahr 2003 haben sich die Entwicklungsländer gegen den Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft gestellt, kartellrechtliche Bestimmungen von der Welthandelsorganisation (WTO) durchsetzen zu lassen.

Entwicklungsländer entscheiden sich heute aus ganz unterschiedlichen Gründen für Kartellrecht. Manche haben sich in bilateralen Abkommen vor allem mit der Europäischen Gemeinschaft zu diesem Schritt verpflichtet. Aber auch eigene Interessen spielen eine Rolle. Die staatsgelenkte Planwirtschaft steht als Erfolgsrezept nicht mehr zur Verfügung. Wer sich wirtschaftlich entwickeln will, muss sich an der Globalisierung beteiligen und ein attraktives Umfeld für Investoren schaffen. Dies setzt ein marktwirtschaftliches System voraus. Manche Entwicklungsländer empfinden die notwendige Wirtschaftsliberalisierung aber als Kontrollverlust. Das Kartellrecht verspricht hier Abhilfe, indem es sie vor multinationalen Unternehmen, die den nationalen Markt zu dominieren versuchen, schützt. Jüngste Erfolge bei der Kartellbekämpfung in den entwickelten Staaten haben schließlich gezeigt, dass weltweit angelegte Kartelle natürlich auch die Entwicklungsländer ganz erheblich schädigen. Denn nationale Kartellrechtsordnungen verbieten Wettbewerbsbeschränkungen typischerweise nur, soweit sie sich auf den eigenen Markt auswirken; das sogenannte Exportkartell ist erlaubt. Wer sich also nicht selbst schützt, droht in Zeiten der Globalisierung leichtes Opfer von Wettbewerbsbeschränkern zu werden.

Jüngere Untersuchungen der Weltbank belegen, dass Entwicklungsländer durch international angelegte Wettbewerbsbeschränkungen erheblich größere ökonomische Einbußen erleiden, als durch die Entwicklungshilfe der entwickelten Staaten ausgeglichen werden könnte. Kartellrecht in Entwicklungsländern richtet sich aber nicht nur gegen Unternehmen aus dem Ausland. Länder, die eine Kartellrechtsordnung einführen, stehen zuerst vor der schwierigen Aufgabe, eine nationale „Wettbewerbskultur“ zu etablieren. Funktionsfähige Durchsetzungssysteme sind nötig, zugleich müssen die lokalen Unternehmen ein Bewusstsein für das Unrecht der Wettbewerbsbeschränkung entwickeln, und nicht zuletzt müssen die Verbraucher für sich selbst die Vorteile erkennen, die ihnen aus dem Wettbewerb erwachsen.

Welches Kartellrecht brauchen Entwicklungsländer?

Erfahrene Kartellämter aus entwickelten Staaten beraten Entwicklungsländer in Kartellrechtsfragen. In dieser Beratungspraxis ist die Versuchung groß, die eigenen Vorstellungen vom Kartellrecht in den Vordergrund zu stellen. Wer aber sagt, dass das, was für die USA oder für die Europäische Union passt, auch das Richtige für weniger entwickelte Staaten ist?

Ein im Jahr 2007 begonnenes Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum und Wettbewerbs- und Steuerrecht, das in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus den USA und Israel durchgeführt wird, geht der Frage nach dem „richtigen“ Kartellrecht für Entwicklungsländer nach. Gemeinsam mit Referenten aus den Entwicklungsländern und Vertretern internationaler Organisationen sollen in einer Workshop-Reihe die Erfahrungen diskutiert werden, die in den jungen Kartellrechtsordnungen bereits gemacht wurden, um daran anschließend verschiedene Aspekte der Thematik zu bearbeiten.

Zuallererst ist der Begriff „Entwicklungsland“ kritisch zu hinterfragen. In einigen Staaten, die bislang als Entwicklungsländer galten, sind führende Zentren technologischer Entwicklung entstanden. Niedrigste und höchste wirtschaftliche Entwicklung sind heute nicht selten in ein und demselben Staat in räumlich enger Nachbarschaft anzutreffen, zum Beispiel in China oder Indien. Da vor allem die industrielle Produktion durch die Globalisierung zunehmend in die ärmeren Staaten abwandert, lassen sich Entwicklungsländer nicht mehr in einem Gegensatz zu den „Industriestaaten“ definieren. Auf dieses Problem, das nicht nur terminologischer Natur ist, reagiert das Projekt mit einem „Mapping“ der Entwicklungsländer nach Kriterien, die wichtig sind, um eine Wettbewerbsordnung zu errichten. Hierzu zählt nicht nur der Grad der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch die Größe einer Volkswirtschaft und der Grad der Integration im Rahmen länderübergreifender Wirtschaftsgemeinschaften. Zu berücksichtigen ist auch, wie weit Demokratie, Rechtskultur und unabhängige Justiz entwickelt sind, ferner der spezifisch kulturelle Hintergrund oder auch die Anfälligkeit staatlicher Stellen für Korruption. Auf diese Weise soll ein Pauschalurteil über ein ideales Recht für Entwicklungsländer vermieden werden.

Das Kartellrecht muss notwendig auf ökonomische Vorstellungen vom Funktionieren der Märkte und des Wettbewerbs zurückgreifen. Wettbewerbsökonomen, die die Marktmechanismen und das Akteurhandeln durch Modelle erklären, laufen Gefahr, die konkreten Rahmenbedingungen einer Volkswirtschaft außer Acht zu lassen. Für Entwicklungsländer könnten dagegen aus ökonomischer Perspektive das Ziel der Armutsbekämpfung, die Existenz eines sehr großen informellen Sektors oder das Interesse an nachhaltiger Entwicklung (sustainable development) ein „anderes“ Kartellrecht begründen.

Die Funktion des Kartellrechts wird in den USA und Europa immer mehr allein darin gesehen, wirtschaftliche Effizienz und die Konsumentenwohlfahrt (consumer welfare) zu fördern. Für Entwicklungsländer wäre dagegen zu prüfen, ob angesichts des Armutsproblems, des Demokratiedefizits, des weitgehenden Fehlens einer Zivilgesellschaft und des Korruptionsproblems nicht auch soziale und politische Ziele mitberücksichtigt werden müssen. Diese könnten sich dann auch auf die Art und Weise, wie Kartellrecht gestaltet und angewendet wird, auswirken.

Auf Institutionenebene und der Ebene der Rechtsdurchsetzung stellen sich folgende Fragen: Unter welchen Bedingungen ist überhaupt eine unabhängige Kartellbehörde denkbar? Welche Rolle können die Gerichte bei mangelnder Rechtsstaatlichkeit übernehmen? Und welche Rechte sollen dem Einzelnen, etwa im Hinblick auf eine private Rechtsdurchsetzung, eingeräumt werden? Viele, vor allem kleinere Entwicklungsländer stehen schließlich vor der Frage, ob nicht gleich eine supranationale Lösung einer nationalen Kartellrechtsordnung vorzuziehen wäre.

Im Bereich des materiellen Kartellrechts scheinen viele Entwicklungsländer den Schwerpunkt vor allem auf die Kontrolle marktbeherrschender Stellungen legen zu wollen. Ist diese Haltung überzeugend? Wird vielleicht die Gefahr von Kartellen unterschätzt? Ist eine Fusionskontrolle sinnvoll, wenn nationale Unternehmen noch nicht die notwendige Größe erreicht haben, um überhaupt effizient zu wirtschaften? Wie wirkt es sich für das Kartellrecht aus, wenn in einem Entwicklungsland eine Kultur des Gesellschaftsrechts erst noch entstehen muss und sich kooperatives Wirtschaften vor allem im größeren Familienverbund oder engeren Bekanntenkreis organisiert? An diesen Fragen orientiert sich die Forschung im Rahmen des Projekts am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht.

Zur Redakteursansicht