Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Das Recht auf ein faires Verfahren: Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten in Afghanistan

Autoren
Hestermeyer, Holger; Moschtaghi, Ramin; Röder, Tilmann
Abteilungen
Zusammenfassung
Das Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht führt mit dem französischen Institut International de Paris La Défense (IIPLD), dem afghanischen Obersten Gerichtshof und Justizministerium Workshops für Richter, Anwälte und Staatsanwälte in Kabul durch. Mit Materialien, die am Institut entwickelt wurden, sollen die afghanischen Juristen in ihrer Landessprache Dari über das Recht auf ein faires Verfahren in der afghanischen Verfassung und im afghanischen Strafrecht geschult werden.

Afghanistans wechselhafte Geschichte beschäftigt seit dem 11. September 2001 fast täglich die Weltöffentlichkeit. Jedoch lagen schon zu diesem Zeitpunkt viele Jahre ausländischer Interventionen und innerer Konflikte hinter dem Land. Bis 1973 eine konstitutionelle Monarchie, erlebte das Land im Jahre 1978 die Machtübernahme durch die Kommunisten und ein Jahr später den Einmarsch sowjetischer Truppen. Dies war der Auslöser eines zehnjährigen Krieges, aus dem sich die Russen 1989 zurückzogen. Doch der Frieden währte nicht lang in dem zentralasiatischen Land. Verfeindete Mujahedin bekämpften sich seit 1992 gegenseitig, bis die Taliban das Land eroberten und ihm ihr striktes islamisches Regime auferlegten. Das weitere Schicksal des Landes ist bekannt.

Nachdem das Taliban-Regime Osama bin Laden Unterschlupf bot, wurde es von der so genannten „Nordallianz“ geschlagen, die von den USA gestützt und militärisch geführt wurden. Seitdem ist die Lage vor allem im Süden angespannt. Internationale Truppen, die International Security Assistance Force, beteiligen sich an der Stabilisierung und am Wiederaufbau des Landes. Die Bundesrepublik Deutschland ist an dem Einsatz maßgeblich beteiligt und stellt auch „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs), die außerhalb der Hauptstadt Kabul tätig sind und dort militärisch die Zusammenarbeit mit der Regierung sichern sowie den Wiederaufbau vorantreiben. Die deutschen Teams werden in Kunduz und Feyzabad eingesetzt.

Mehr als 22 Jahre Krieg haben das Land tief gezeichnet und stellen auch die afghanische Justiz vor schwierige Aufgaben. Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg beschäftigt sich schon seit 2003 wissenschaftlich intensiv mit dem neuen afghanischen Recht. Die am 3. Januar 2004 verabschiedete afghanische Verfassung war im Januar 2004 Gegenstand von Workshops, die das Institut in Herat und Kabul in Afghanistan veranstaltete. Die Rolle der Shari’a in der afghanischen Verfassung wurde auf einer gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg organisierten Konferenz diskutiert.

Grundlagen des Projekts

Das Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht betreibt gemeinsam mit dem Institut International de Paris de la Défense (IIPLD), dem afghanischen Obersten Gerichtshof und dem afghanischen Justizministerium ein Projekt im Bereich der juristischen Fortbildung in Afghanistan. In diesem Rahmen veranstaltete es seit 2005 vier zweiwöchige Workshops in Kabul, um Richter, Staatsanwälte und Anwälte im afghanischen Strafverfahrensrecht und seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Prinzipien eines fairen Verfahrens fortzubilden. Seit März 2006 lag der Schwerpunkt des zu der Zeit je zur Hälfte vom Auswärtigen Amt und vom französischen Außenministerium finanzierten Projekts in der Ausbildung von Kandidaten für das Richteramt. An dem Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Rüdiger Wolfrum sind in Heidelberg Dr. Tilmann Röder, Mandana Knust Rassekh Afshar, Ramin Moschtaghi, Klaus Zimmermann und Mihan Rouzbehani beteiligt.

Grundlage der Ausbildung ist das am Institut entwickelte „Max Planck Manual on Fair Trial Standards“, das im Oktober 2006 in seiner 3. Auflage erschienen ist [1]. Es wurde sowohl auf Englisch als auch auf Dari, eine der Amtssprachen Afghanistans, veröffentlicht. Zwar wird Dari, das dem iranischen Farsi ähnlich ist, nur von etwa fünfzig Prozent der Afghanen als Muttersprache gesprochen, doch sind afghanische Juristen im Allgemeinen gewohnt, Rechtsprobleme auf Dari zu diskutieren. Das Handbuch findet in Afghanistan großen Anklang und wird auch außerhalb der Workshops angefragt, da es eines der wenigen Ausbildungswerke zum aktuellen afghanischen Recht ist. Etwa 1.500 Handbücher wurden bisher in dem Land verteilt. Die englische Ausgabe ermöglicht einen über die Kurse hinausgehenden internationalen wissenschaftlichen Dialog über afghanisches Recht.

Die Dozenten

Die Dozenten der Workshops in Kabul werden vom Max-Planck-Institut und dem Institut International de Paris La Défense ausgewählt und an den Instituten vorbereitet. Sie sind zum großen Teil afghanischer Abstammung, sprechen muttersprachlich Dari oder Farsi und haben in Afghanistan, aber auch zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich Jura studiert. Für sie bietet das Projekt die einmalige Gelegenheit, einen Beitrag zum Aufbau ihres Vaterlandes zu leisten, das sie in der Regel während des Bürgerkriegs verlassen mussten. Für die Teilnehmer an den Kursen wiederum stellt die Auswahl der Dozenten sicher, dass eine Kommunikation ohne sprachliche Schranken und ohne den mit Dolmetschern verbundenen Bedeutungsverlust und Verlust an Unmittelbarkeit ermöglicht wird. Zu den Dozenten gehören auch die am Heidelberger Institut arbeitende und dort zu dem Thema „Fair-trial-Recht in islamischen Ländern“ forschende Mandana Knust Rassekh Afshar und der am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht über „Basic jurisprudential Foundations of Iranian and German Criminal Law“ forschende Mohammad Sadr Touhid-Khaneh.

Die Dozenten unterrichten in Kleingruppen von 15 bis 20 Teilnehmern. Der Workshop im Februar 2006 hatte insgesamt 140 Teilnehmer und setzte sich aus Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten sowie einigen Studenten zusammen. Der Workshop im Oktober/November 2006 bildete 170 Richteranwärter ebenfalls in Kleingruppen aus. Schon die Zahlen zeigen den Erfolg und die Breite des Projekts: In einem Land, in dem 1.600 Richter arbeiten, nahmen bisher 500 Juristinnen und Juristen an den Workshops teil.

Die Infrastruktur

Die Ausbildung in einem vom Bürgerkrieg zerrissenen und zerstörten Land stellt an die Dozenten, aber auch an die Teilnehmer der Kurse große Anforderungen. Dies betrifft zunächst einmal die Infrastruktur: Die Kurse finden in angemieteten Räumen an der Universität Kabul und der Polytechnischen Universität Kabul statt. Die Ausstattung ist karg: Stühle sind vorhanden, Tische nur mit Glück. Tafeln werden vorher gekauft und zum Abschluss des Kurses der Universität überlassen. Zum Teil muss das Institut die Räume vor den Kursen renovieren lassen; sie werden dann – als Gegenleistung für die Überlassung der Räume – renoviert den Universitäten übergeben. Selbst eine Heizung ist in der Regel nicht vorhanden. Bei einer durchschnittlichen maximalen Temperatur von nur wenig über 0° C im Winter und Minima bis zu –50° C ist ein Unterricht nur mit Gasheizungen möglich, die vor Ort erworben werden.

Die Teilnehmer

Die Teilnehmer werden in Zusammenarbeit mit afghanischen Institutionen, insbesondere dem obersten Gerichtshof, ausgewählt. Dabei legt das Max-Planck-Institut Wert auf eine größere Beteiligung von Frauen. Die ganz unterschiedliche Vorbildung und Herkunft der Teilnehmer stellen große Herausforderungen dar. Auch verfügt keiner der Teilnehmer und Teilnehmerinnen über Auslandserfahrung. Ein Blick auf die Richterschaft zeigt die ungleiche Vorbildung: 43 Prozent der Richter wurden an der Shari’a Fakultät ausgebildet, 16 Prozent an religiösen Schulen, 12 Prozent an der juristischen Fakultät, 6 Prozent an einem College, 14 Prozent an der High School und 1 Prozent gar nur an einer Grundschule. Das Auseinanderfallen in religiöse und juristische Vorbildung reflektiert die verschiedenen Rechtsquellen Afghanistans. Shari’a (religiöses Recht), staatliche Gesetze, aber auch regional divergierendes Gewohnheitsrecht (zum Beispiel Paschtun Wali) greifen zwar ineinander, weisen aber in der täglichen Praxis nur schwer überbrückbare Inkoheränzen auf. Selbst die Institution moderner Gerichte an sich bleibt nicht ohne Konkurrenz und die Streitschlichtung im Stamm durch Shura- oder Jirga-Gerichte ist in einigen Regionen von ganz erheblicher Bedeutung.

Der Zeitpunkt der Ernennung der Richter verdeutlicht, dass auch unterschiedlichste politische Perspektiven aufeinanderprallen: Zwar wurde ein großer Teil der Richter nach dem Sturz der Taliban ernannt, aber 16 Prozent erlangten ihr Amt während der Talibanzeit, 7 Prozent während der Monarchie, 12 Prozent während der Herrschaft der Kommunisten, 12 Prozent während der Mujahedin und 5 Prozent unter Präsident Daud. Die Teilnehmer stammen aus allen Provinzen und kehren nach den Kursen als Multiplikatoren zurück.

Trotz der unterschiedlichen Lebensläufe und Ausbildungswege sind alle Teilnehmer vom Unterricht begeistert. Manche reisen an, obwohl sie nicht als Teilnehmer benannt wurden. Die meisten kannten die neuen afghanischen Gesetze bis zu ihrer Teilnahme am Workshop nicht. Gesetzbücher in bei uns üblicher Form existieren nicht. Die zu Beginn des Kurses ausgeteilten und bei den Teilnehmern verbleibenden Gesetzessammlungen ermöglichen so für Viele zum ersten Mal den Einblick in die Gesetzestexte. Befürchtete Konflikte zwischen Teilnehmergruppen blieben aus und selbst bekennende Anhänger der Taliban zeigten während der Kurse ein genuines Interesse an den vermittelten Inhalten. Das Beispiel dieser Teilnehmer macht deutlich, woraus die Taliban zumindest einen Teil ihrer Sympathien bezieht: Aus der großen Menge derjenigen, die des Krieges überdrüssig sind und die sich für ihr Land zunächst Frieden und Ordnung wünschen. Häufiger als sachliche Konflikte wegen des nicht immer einfachen Verhältnisses zwischen Shari’a und staatlichen Gesetzen finden Teilnehmer im Koran eine Bestätigung der in der Verfassung und den Gesetzen normierten Rechte hinsichtlich eines fairen Verfahrens.

Die bisherigen Erfahrungen belegen, dass alle Beteiligten erheblich von dem Projekt profitieren. Die Teilnehmer schätzen die erworbenen neuen Kenntnisse – auch wenn oder gerade weil sie um die Herausforderungen ihrer Arbeit wissen. In dem Konflikt mit lokalen Machthabern und bei einer Entlohnung für Richter, die auch unter einfachsten Möglichkeiten nicht zum Lebensunterhalt reicht, sehen sie vor allem die Gefahr der Korrumpierbarkeit. Für die teilnehmenden Dozenten und Wissenschaftler bieten die Workshops die Möglichkeit, in dem Land selbst die Realität des Rechts zu erfassen. Nur so lässt sich bei einem Land ohne weit verbreitete juristische Publikationen eine Forschung auf angemessenem Niveau über das Recht des Landes sicherstellen.

Perspektiven für die Zukunft

Angesichts der positiven Erfahrungen ist eine Ausweitung des Projekts in Planung. In Kabul selbst wurde bereits ein ständiger Mitarbeiter in einem Projektbüro eingestellt. Thematisch soll eine breitere Ausbildung von Richteranwärtern angeboten werden. Die Kurse sollen demnächst auch in Mazar-e Sharif, dem Hauptquartier des nördlichen Regionalkommandos der ISAF, und in Kundus, dem Einsatzort eines deutschen Provincial Reconstruction Team, stattfinden.

Originalveröffentlichungen

A. Guhr, R. Moshtaghi, M. Knust Rassekh Afshar:
Max Planck Manual on fair Trial Standards.
3rd ed., Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law, Heidelberg 2006.
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