Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Die Übernahme US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland

Autoren
von Hein, Jan
Abteilungen

Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht
MPI für ausländ. und internat. Privatrecht, Hamburg

Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung
MPI für ausländ. und internat. Privatrecht, Hamburg

Zusammenfassung
Warum und wie wird US-amerikanisches Gesellschaftsrecht in Deutschland übernommen? Mit dieser Frage befasste sich ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. In historischer Perspektive wurden die Bereiche analysiert, in denen sich das deutsche Recht lange von der amerikanischen Entwicklung abgekoppelt hat: das Kapitalmarkt- und Kartellrecht, Aufsichtsrecht, Mitbestimmung und das Internationale Gesellschaftsrecht. Unter Einbeziehung der europäischen Dimension wurde untersucht, wie die Regelungsebenen für das Gesellschaftsrecht in einem föderalen Modell angemessen zu verteilen sind und welche Bedeutung das amerikanische Vorbild dabei hat. Schließlich wurde geklärt, in welchem Umfang das Gesellschaftsrecht zwingende inhaltliche Vorgaben aufstellen sollte und was die notwendigen Bedingungen erfolgreicher Rezeptionen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts sind.

Der US-amerikanische Einfluss auf die aktienrechtliche Entwicklung in Deutschland war und ist erheblich. Der Gesetzgeber weist in den Materialien zu neueren Gesetzen (KonTraG, NaStraG, TransPuG, UMAG, BilReG, KapMuG) häufig auf US-amerikanische Vorbilder hin. Trotz zahlreicher Einzelstudien sind jedoch die allgemeinen Fragen, welche die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts aufwirft, bislang nicht im Gesamtzusammenhang analysiert worden.

Geschichtliche Entwicklung

In der gegenwärtigen Diskussion wird gegen einen Transfer US-amerikanischer Institutionen in das deutsche Aktienrecht eingewendet, ein solches Vorgehen vertrage sich nicht mit einer angeblichen Pfadabhängigkeit der Corporate-Governance-Entwicklung. Dieser Einwand ist insofern berechtigt, als unterschiedliche historische und ökonomische Ausgangsbedingungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu divergierenden Gestaltungen im Aktienrecht führten. Es darf aber nicht übersehen werden, dass zahlreiche Weichenstellungen nicht zwingend vorgegeben, sondern die Ergebnisse einer bewussten Auswahl waren. Dazu zählt vor allem die Entscheidung gegen die Schaffung eines modernen Börsenrechts und eines Kartellrechts nach amerikanischem Vorbild und gegen die Gründungstheorie im internationalen Privatrecht am Ende des 19. Jahrhunderts. Bei der Gründungstheorie ist der Staat, in dem die Gesellschaft mit ihrem Sitz registriert ist, maßgeblich für das auf die Gesellschaft anwendbare Recht. Im 20. Jahrhundert kamen der lang anhaltende Widerstand gegen die Einrichtung eines Aktienamtes nach dem Vorbild der Securities and Exchange Commission (SEC; US-Börsenaufsichtsbehörde) und der im internationalen Vergleich singuläre Ausbau der Mitbestimmung im Aufsichtsrat hinzu. All diese deutschen Eigenarten sind funktional eng miteinander verknüpft: Das von den Großagrariern beeinflusste Börsenrecht hat lange Zeit die Entwicklung liquider Kapitalmärkte behindert. Dadurch, dass bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kartellrecht gefehlt hat, haben sich relativ enge Produktmärkte herausgebildet. Traditionell wurde die Unternehmensleitung deshalb weniger über Märkte kontrolliert, sondern primär mit internen organisationsrechtlichen Mitteln, an die auch die Beteiligung der Arbeitnehmer geknüpft war. Diese Strategie war aber nur solange erfolgreich, wie deutsche Aktiengesellschaften ihren Kapitalbedarf im Inland decken konnten und sich wegen der Geltung der Sitztheorie den zwingenden Vorgaben des deutschen Rechts nicht durch eine Abwanderung ins Ausland entziehen konnten. Bei der Sitztheorie ist der Ort des tatsächlichen Verwaltungssitzes maßgeblich für das auf die Gesellschaft anwendbare Recht.

Ursachen für die Rezeption US-amerikanischen Aktienrechts

Die Ursachen für eine Rezeption US-amerikanischen Aktienrechts sind unterschiedlicher Art. Ein Grund kann darin bestehen, dass hiesigen Aktiengesellschaften ein „Signaling“ gegenüber amerikanischen Investoren ermöglicht werden soll (Zertifizierungseffekt). Dieser Effekt betrifft nicht allein das materielle Recht, sondern auch die Schaffung entsprechender Aufsichtsinstanzen (Kapitalmarktaufsicht, Wirtschaftsprüferaufsicht). Zweitens kann die Übernahme US-amerikanischen Rechts eine Reaktion auf dessen Anwendung auf deutsche Aktiengesellschaften mit einer Zweitnotierung in den USA darstellen. Schließlich ist die Übernahme amerikanischen Rechts die Antwort auf einen ökonomischen Strukturwandel in Deutschland, der sich auf die Unternehmensorganisation, die Anteilseignerstruktur und die Rolle der Banken erstreckt. Die deutsche Unternehmenspraxis und der Gesetzgeber haben trotz des Anpassungsdrucks einen Spielraum, um differenziert auf die amerikanischen Erwartungen zu reagieren. Die Reaktionsmöglichkeiten reichen von der zumindest partiellen Rezeption US-amerikanischen Rechts (zum Beispiel Proxy-Voting) über die Nachbildung funktionaler Äquivalente (zum Beispiel im Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten, KapMuG) bis hin zur bewussten Ablehnung. Verfassungsrechtliche und methodologische Einwände gegenüber einer Rezeption US-amerikanischer Regulierungstechniken und Institute greifen nur in Ausnahmefällen durch.

Verteilung der Regelungsebenen in der EU

Das amerikanische Regelungsvorbild ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, wie die Regelungsebenen in der Europäischen Union verteilt werden. In der Realität wird die Leitung und Überwachung von Organisationen hauptsächlich durch eine erhebliche bundesrechtliche Regulierung der Corporate Governance geprägt. Das entspricht nicht der Idealvorstellung eines unverfälschten „horizontalen“ Wettbewerbs unter den amerikanischen Einzelstaaten. Die Drohung mit einer Bundesregulierung hat einen nachweisbaren Einfluss darauf, wie sich das einzelstaatliche Gesellschaftsrecht entwickelt. Auch wenn es in der Europäischen Union gelingt, einen horizontalen Wettbewerb unter den Mitgliedstaaten zu erzeugen, bestehen institutionelle Defizite in der europäischen Rechtsetzung und der Kapitalmarktaufsicht. Diese lassen eine Nachbildung des „vertikalen“ Wettbewerbs zwischen Washington D.C. und Delaware zweifelhaft erscheinen. Bei der Betrachtung des amerikanischen Vorbilds eines „Wettbewerbs der Rechtsordnungen“ geht es aus funktionaler Sicht weniger um eine räumliche Abgrenzung der Regelungskompetenzen. Angesichts der Besonderheiten der Rechtsetzung und -sprechung in Delaware ist die inhaltliche Frage wichtiger, in welchem Maße der Staat bereit ist, eine de facto selbstregulierungsähnliche Normsetzung durch die Wirtschaft und die darauf bezogenen schiedsähnlichen Vollzugsmechanismen im Gesellschaftsrecht hinzunehmen.

Der europäische Übergang zur Gründungstheorie entzieht dem bisherigen deutschen Regulierungsansatz eines zwingenden Organisationsrechts im einzelstaatlichen Rahmen den Boden. Es besteht eine enge funktionale Wechselwirkung zwischen der Präferenz des amerikanischen Rechts für die Gründungstheorie und dem materiellrechtlichen Muster eines liberalen, grundsätzlich frei aushandelbaren Gesellschaftsrechts. Dies eröffnet aus deutscher Sicht zwei Reaktionsmöglichkeiten: entweder das Organisationsrecht vollständig zu deregulieren oder zwingende organisatorische Vorgaben auf die zentrale Regelungsebene zu verlagern. Die Analyse der amerikanischen Erfahrungen mit dieser Problematik zeigt jedoch, dass sich die Idealvorstellung eines deregulierten US-amerikanischen Gesellschaftsrechts nicht mehr mit der Wirklichkeit deckt. In zahlreichen Punkten ist das amerikanische Recht nicht durch eine geringere, sondern durch eine deutlich höhere Regulierungsdichte als das deutsche Recht geprägt (zum Beispiel Bildung von Board- oder Aufsichtsratsausschüssen, Verbot der Kreditvergabe an Organmitglieder, Ausmaß und Verbindlichkeit der Offenlegung von Vorstandsvergütungen). Liberales und zwingendes Recht wird dabei nicht parallel zur Trennung von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht unterschieden. Vielmehr regelt der amerikanische Gesetzgeber auch Fragen der Organisationsverfassung zwingend, wenn sie institutionelle Voraussetzungen für die informationelle Effizienz des Kapitalmarktes schaffen. Die Krisen um Enron oder WorldCom rechtfertigen es zwar nicht, den Gedanken einer Unternehmenskontrolle durch einen effizienten Kapitalmarkt aufzugeben. Es ist aber deutlich geworden, dass der Markt allein keine hinreichende Gewähr für seine Funktionsfähigkeit bietet, insofern ist staatliche Regulierung also notwendig.

Auch auf europäischer und deutscher Ebene sind in dogmatischer Hinsicht Fragen der Organisationsverfassung stärker auf die informationelle Effizienz des Kapitalmarkts auszurichten. Einrichtungen wie das Audit Committee sollten nicht den Emittenten übertragen werden, weil die Erstellung korrekter Bilanzen kein unternehmensspezifisches Anliegen, sondern ein Allgemeininteresse betrifft. Auch bei Offenlegungspflichten muss stärker danach unterschieden werden, ob sie lediglich die Informationsversorgung der Marktteilnehmer im Allgemeinen verbessern oder ob sie gleichzeitig dazu dienen, Bilanzmanipulationen zu verhindern. Insgesamt hat sich die Grenzziehung zwischen nachgiebigem und zwingendem Recht nicht an der Rechtsnatur der Regeln (Organisations- oder Marktrecht) zu orientieren, sondern an dem auf die informationelle Effizienz des Kapitalmarkts bezogenen Schutzzweck.

Bedingungen erfolgreicher Rezeptionen

Soll die Übernahme eines US-amerikanischen Rechtsinstituts erfolgreich sein, so muss es reibungslos in das deutsche Regelungsumfeld eingegliedert werden, ohne dabei derart abgeschwächt zu werden, dass es in den USA nicht mehr nicht mehr als dem dortigen Recht äquivalent gilt. Rezeptionshürden können sich aus rechtskultureller, politischer oder institutionenökonomischer Sicht ergeben. Die rechtskulturellen Hindernisse haben wegen der Annäherung der Rechtskreise des Common und Civil Law stark an Bedeutung eingebüßt. Schwerer wiegen unterschiedliche politische Grundorientierungen, die aber nicht unabänderlich sind. Anpassungsprobleme entstehen außerdem dadurch, dass im deutschen Aktienrecht immer noch starke Vorbehalte gegenüber einer aufsichtsrechtlichen Einbettung aktienrechtlicher Institute (Proxy-Regulation) bestehen. Die Gegensätze zwischen einem Outsider- und einem Insider- beziehungsweise Blockholder-System der Corporate Governance haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verringert (etwa im Insiderrecht). Sie sind aber nicht gänzlich beseitigt, sodass eine Rezeption angloamerikanischer Standards weiterhin auf Schwierigkeiten stößt (beispielsweise in der Frage der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder). Schließlich hat sich das deutsche Recht im Bereich der Vorstandsvergütung von einer substanziellen in Richtung auf eine prozedurale und transparenzorientierte Kontrolle bewegt (Business Judgment Rule, VorStOG). Aufgrund der unscharfen Konturierung des „Unternehmensinteresses“ können deutsche Richter ihren Spielraum für eine Nachprüfung unternehmerischer Entscheidungen auf diesem Gebiet aber erheblich weiter fassen, als dies amerikanische Richter tun.

Auslegung und Anwendung rezipierten Gesellschaftsrechts

Bei der Auslegung und Anwendung rezipierten Gesellschaftsrechts ist der Einfluss der Mutterrechtsordnung differenziert zu betrachten. Entscheidend ist der objektivierte Wille der Rezipienten. Bewusst geschaffene Divergenzen gegenüber dem US-amerikanischen Regelungsvorbild dürfen nicht durch eine rechtsvergleichende Auslegung nachträglich nivelliert werden. Die vergleichende Auslegung kann verschiedene Funktionen erfüllen: Konkretisierung, Lückenfüllung, Aktualisierung oder Vermeidung von Pflichtenkollisionen. Außerdem kann das rezipierte Recht eine Ausstrahlungswirkung auf das formal unveränderte nationale Regelungsumfeld entfalten. Wichtig ist darauf zu achten, dass Rezeptionen im Rahmen einer Vorschrift nicht in einem anderen normativen Kontext zu Wertungswidersprüchen führen.

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