Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik

Wo unser Gehirn das zusammenführt, was gehört und gefühlt wird

Autoren
Logothetis, Nikos
Abteilungen
Neurophysiologie kognitiver Prozesse (Prof. Dr. Nikos Logothetis)
MPI für biologische Kybernetik, Tübingen
Zusammenfassung
Neue Ergebnisse zeigen, dass jene Regionen im Gehirn, die lediglich dazu dienen, einen einzigen Sinn zu prozessieren, seltener sind als klassischerweise angenommen wird. Stattdessen beschäftigt sich ein Großteil des Gehirns damit, Informationen über die Sinne hinweg zusammenzubringen und die einheitliche Wahrnehmung eines Objekts zu schaffen.

Sinnesorgane, Gehirn und Wahrnehmung

Die Wahrnehmung unserer Umgebung hängt von den Informationen ab, die über verschiedene Sinnesorgane gewonnen werden. Um die Wahrnehmung zu verbessern und um ein einheitliches und zuverlässiges ‚Bild’ unserer sinnlichen Umgebung zu erhalten, muss das Gehirn die Informationen, die von den verschiedenen Sinnen kommen, vereinheitlichen. Dort, wo keine richtige sensorische Integration zustande kommt, erliegen wir einer illusorischen Wahrnehmung. Wenn wir z. B. einen Bauchredner hören, schreiben wir die Stimme dem sich bewegenden Mund der Puppe zu.

Die Frage, wie das Gehirn Informationen von unterschiedlichen Sinnen vereinheitlicht und wie Informationen von einem Sinn für die Analyse der sensorischen Informationen eines anderen Sinnes hilfreich sind, gehört zu den Herausforderungen, denen sich die heutige neurowissenschaftliche Forschung stellt. Ein erster Schritt besteht darin zu verstehen, zu welchem Zeitpunkt der sensorischen Prozessierung diese Integration vor sich geht. Gemäß einer Hypothese tritt diese Integration als einer der letzten Schritte auf, nämlich erst nachdem jedes sensorische System seine Informationen gründlich prozessiert hat. Einer zweiten Hypothese zufolge kommt es schon in sehr frühen Stadien der sensorischen Prozessierung zur Integration, um die Prozessierung eines jeden Sinnes übereinstimmend mit der Prozessierung der anderen Sinne zu lenken.

Mit dem Gehörsinn als Modell und unter Ausnutzung der modernsten funktionellen Magnetresonanz-Technologie wird versucht, die beiden Hypothesen zu prüfen. Funktionelle Magnetresonanz (fMRI) mit hoher Auflösung erlaubt es, das Gehirn in Aktion zu ‚sehen’ und ist, arbeitet man mit geeigneten Paradigmen, für die Lokalisierung der Areale, in denen das Gehirn Informationen von verschiedenen Sinnen vereinheitlicht, ideal geeignet (Abb. 1). Die Experimente kombinieren verschiedene Geräusche mit gleichzeitigen Berührungen und visueller Stimulierung und suchen nach Regionen im Gehirn, in denen die Kombination dieser Stimuli zu einer signifikanten Steigerung der Aktivität führt. Eine solche Reaktionssteigerung ist ein klassisches Charakteristikum der sensorischen Integration.

Neuere Resultate zeigen, dass die Integration von Aktivität, die mit Berührungen und Geräuschen in Zusammenhang steht, schon in niederen Arealen des auditiven Prozesses auftritt (Abb. 1 - blaue Schattierungen in den Tafeln A-C) [1]. Durch das Auseinanderzerren der verschiedenen funktionellen Felder im auditiven Kortex (rote Schattierung) konnte nachgewiesen werden, dass diese Vereinheitlichung von sensorischen Informationen im sekundären auditiven Kortex vor sich geht. Das heißt also, dass der Vorgang zwar nicht so früh wie möglich erfolgt, doch immer noch zu einem sehr frühen Zeitpunkt der sensorischen Prozessierung und innerhalb von Arealen, die klassischerweise als rein unisensorisch gelten. Darüber hinaus lassen die Daten den Schluss zu, dass die Informationen, die mit Berührung zusammenhängen, als Feedforward-Input zum auditiven Kortex gelangen. Sie hängen als nicht von höheren Assoziationsarealen im Gehirn ab und sind nicht Teil eines kognitiven modulatorischen Feedbacks.

Diese Ergebnisse zeigen, dass jene Regionen im Gehirn, die einzig dazu dienen, einen einzigen Sinn zu prozessieren, seltener sind als klassischerweise angenommen wird. Stattdessen beschäftigt sich ein Großteil des Gehirns damit, Informationen über die Sinne hinweg zusammenzubringen und eine einheitliche Wahrnehmung eines Objekts zu schaffen. In einem nächsten Schritt wird untersucht werden, wie genau Informationen von einem Sinn die Prozessierung in einem anderen Sinn modulieren oder lenken.

Neuronale Basis des Lernens

Das menschliche Gehirn weist auch im erwachsenen Alter noch ein hohes Ausmaß an Plastizität auf und ermöglicht dadurch die kontinuierliche Anpassung an eine sich stetig verändernde Umwelt. Um die mit Lernprozessen assoziierten Veränderungen in neuronalen Netzwerken in sensorischen und assoziativen Arealen der Großhirnrinde aufzuklären, werden visuelle Reize verwendet, welche wie mathematische Methoden systematisch bearbeitet werden. So werden etwa Bilder von natürlichen Szenen benutzt, welche mithilfe eines auf der Fourier-Analyse basierenden Verfahrens graduell unkenntlich gemacht werden (Abb. 2, links), oder Bilder natürlicher Szenen, in denen mithilfe psychophysikalischer Untersuchungen jene Bildregionen ermittelt wurden, die Beobachter zur Lösung von Erkennungsaufgaben heranziehen (Abb. 2, rechts: rot schattierte Bereiche).

In Primaten, die auf die Erkennung dieser visuellen Reize trainiert wurden, werden dann Ableitungen von Aktionspotenzialen einzelner Nervenzellen in bestimmten Gehirnarealen durchgeführt. Außerdem werden auch lokale Feldpotenziale aufgezeichnet, welche summierte synaptische Ströme in lokalen Netzwerken widerspiegeln. Das Hauptaugenmerk liegt zurzeit auf zwei Gebieten. Erstens wurde damit begonnen, gleichzeitig die Aktivität in mehreren voneinander entfernten Gehirnregionen zu registrieren. Das Studium der Interaktion zwischen der präfrontalen und der visuellen Großhirnrinde steht dabei im Vordergrund. Bisherige Befunde deuten darauf hin, dass gerade diese Interaktionen für die Steuerung von Lernprozessen von hoher Bedeutung sein dürften, da sie eine zentrale Rolle bei der erfahrungsabhängigen Selektion von Wahrnehmungsinhalten spielen. Zweitens werden Ableitungen in der inferior temporalen Großhirnrinde durchgeführt. Dort wird die Frage untersucht, inwiefern das neuronale Antwortverhalten für komplexe visuelle Reize aus der Zusammensetzung von Antworten auf Teile dieser Reize verstanden werden kann. Durch ein psychophysikalisches Verfahren konnten Bildbereiche in natürlichen Szenen ermittelt werden, welche Affen zu deren Identifizierung heranziehen. Dabei wurde herausgefunden, dass sowohl einzelne Neuronen als auch das lokale Feldpotential (LFP) präferenziell auf verhaltensrelevante Teile der visuellen Reize reagieren. Während Einzelneuronen, deren Aktivität stark durch Verhaltensrelevanz beeinflusst wurde, über den gesamten Ableitungsbereich gleichmäßig verteilt waren, konnte eine signifikante Häufung von LFP-Ableitungsorten im anterioren Teil des Ableitungsbereichs nachgewiesen werden. Dies stellt eine Dissoziation zwischen den beiden neuronalen Signalarten dar: Es bedeutet, dass ein Signal nicht zwangsläufig durch das andere vorhergesagt werden kann. Vielmehr ist es so, dass durch die Aufzeichnung beider Signale und der detaillierten Analyse ihrer Beziehung Rückschlüsse möglich sind, die jedes Signal für sich allein genommen nicht zulassen würde. Diese Aufklärung der Beziehung zwischen den Mustern von Aktionspotentialen einzelner Neuronen und den Massensignalen wie etwa dem LFP, und zwar sowohl innerhalb einer Gehirnregion als auch zwischen verschiedenen Arealen, wird auch weiterhin eine zentrale Rolle bei der Analyse von Lernprozessen im Gehirn spielen.

Originalveröffentlichungen

Kayser, C., C. I. Petkov, M. Augath, and N. K. Logothetis:
Integration of touch and sound in auditory cortex.
Neuron 48, 373–384 (2005).
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