Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Kernphysik

Atome auf die Waage gestellt – Präzisionsmassenmessungen an Radionukliden in der Penningfalle

Autoren
Blaum, Klaus; George, Sebastian; Schweikhard, Lutz (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald)
Abteilungen

Gespeicherte und gekühlte Ionen (Prof. Dr. Klaus Blaum)
MPI für Kernphysik, Heidelberg

Quantendynamik (Prof. Dr. Christoph Keitel)
MPI für Kernphysik, Heidelberg

Zusammenfassung
Wie durch einen Fingerabdruck können Atome über ihre Masse eindeutig identifiziert werden. Sogar ihre „Gemütszustände“, ob und wie weit angeregt, sind in der Masse verschlüsselt. Denn die Masse enthält – nach Albert Einsteins berühmter Formel E = mc2 – alle Bausteine und ihre gegenseitigen Wechselwirkungen. Präzise Massenmessungen von kurzlebigen Nukliden in Penningfallen, wie mit dem ISOLTRAP-Experiment am CERN, erlauben daher unter anderem detaillierte Tests von konkurrierenden Kernmodellen und des Standardmodells der Teilchenphysik und erweitern das Verständnis der Elemententstehung in Sternen.

Einleitung

Das Periodensystem ordnet die chemischen Elemente nach ihrer Kernladung, d.h. der Protonenzahl. Eine feinere Aufteilung in Isotope, d.h. Kerne unterschiedlicher Neutronenzahl, findet man in Nuklidkarten (Abb. 1). Kerne mit in etwa ausgeglichener Anzahl an Protonen und Neutronen sind stabil. Dagegen sind Kerne außerhalb des „Stabilitätstals“ radioaktiv und müssen in der Regel künstlich erzeugt werden. Durch ihren spontanen Zerfall werden Experimente stark eingeschränkt. Von den mehr als 3000 bekannten Nukliden sind nur etwa 10% stabil oder langlebig. Alle anderen „leben“ nur für kurze Zeiten.

Die Masse m eines neutralen Atoms ergibt sich aus den Massen seiner Bestandteile (Protonen mp, Neutronen mn und Elektronen me) unter Berücksichtigung der Bindungsenergien der Elektronen in der Atomhülle BHülle und des Kerns BKern:
m = N∙mn + Z∙mp + Z∙me – (BKern + BHülle)/c2
Bei Kenntnis der anderen Terme kann also aus der Atommasse auf die Kernbindungsenergie geschlossen werden. Paradoxerweise spielt die Gravitationskraft, die uns im alltäglichen Leben am ehesten bewusst wird, bei dieser Massenbetrachtung keine Rolle. Sie ist um viele Größenordnungen kleiner als die starke oder die elektromagnetische Kraft, welche sich in den Bindungsenergien widerspiegeln.
Wie Abbildung 1 verdeutlicht, ist von vielen kurzlebigen Nukliden die Masse – und damit BKern – zurzeit nur relativ ungenau bekannt [1]. Die geforderte Genauigkeit hängt von der jeweiligen Anwendung ab. Während für die Identifikation eines Atoms oft eine relative Massenungenauigkeit δm/m von 10-5 bis 10-6 genügt, erhöhen sich die Anforderungen für die nukleare Astrophysik auf 10-7 und für die Überprüfung der Stärke der einzelnen Wechselwirkungen und Symmetrien sogar auf bis zu unter 10-11 [2].

Das Penningfallen-Massenspektrometer ISOLTRAP

Wie oben erwähnt, müssen instabile Kerne, welche nicht in der freien Natur vorkommen, künstlich hergestellt werden. Am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf werden dazu an der ISOLDE-Anlage vor allem Urankerne mit schnellen Protonen beschossen. Die kurzlebigen geladenen Kernbruchstücke werden für die im Folgenden beschriebenen Untersuchungen dem Penningfallen-Massenspektrometer ISOLTRAP (Abb. 2) [3] zugeführt. ISOLTRAP erlaubt Massenmessungen mit Unsicherheiten bis 10–8 selbst dann noch, wenn die Radionuklide Halbwertszeiten von lediglich 100 ms haben und nur in geringsten Mengen von rund 100 Ionen pro Sekunde geliefert werden.

Die Massenmessungen basieren auf der Bestimmung der Zyklotronfrequenz von gespeicherten Ionen. Die Lorentz-Kraft eines Magnetfeldes, B, zwingt die Ionen (Masse m, Ladung q) auf eine kreisförmige Bahn mit der Umlauffrequenz fc = qB/(2πm). Das Magnetfeld wird mit Nukliden bekannter Masse kalibriert. Damit die Ionen nicht entlang der Magnetfeldlinien entweichen, wird dem homogenen Magnetfeld ein elektrisches Quadrupolfeld überlagert. Das gespeicherte Ion führt eine charakteristische Bewegung aus, mit zwei kreisförmigen Anteilen und einer dazu senkrechten Schwingung (Abb. 3). Die Zyklotronfrequenz fc lässt sich mittels der sog. „Flugzeit-Zyklotronresonanz-Methode“ bestimmen: Die Ionenbewegung wird bei einer Frequenz fHF in der Nähe von fc angeregt, bevor die Ionen über eine Driftstrecke einem Detektor zugeführt werden. Bei resonanter Anregung wächst die Bewegungsenergie des Ions um ein Vielfaches an, was zu einer verkürzten Flugzeit zum Detektor führt. Die maximale Energieaufnahme und damit die kürzeste Flugzeit ergeben sich für fHF = fc. Aus der Resonanzkurve (Abb. 4) lässt sich die Zyklotronfrequenz des Teilchens und damit seine Masse bestimmen.

ISOLTRAP wurde vor zwanzig Jahren aufgebaut und war damit weltweit die erste Penningfallen-Apparatur für Massenmessungen an kurzlebigen Nukliden. Ihr überragender Erfolg hat zu einer Reihe ähnlicher Experimente an unterschiedlichen Beschleunigeranlagen geführt [4]. Darüber hinaus wurden immer wieder technische Neuerungen zur Steigerung der Genauigkeit sowie zum Erreichen noch exotischerer Nuklide fernab der Stabilität eingeführt und so weitere Anwendungsgebiete erschlossen. Als Beispiele seien hier nur die Einführung von Kohlenstoffclustern zur Magnetfeldkalibrierung (siehe Abb. 1) und Überprüfung der systematischen Unsicherheit sowie die Anwendung der Ramsey-Methode genannt. Bei letzterer kommen zeitlich getrennte oszillierende Felder (siehe Abb. 4) bei der Anregung zum Einsatz, was zu einer drastischen Genauigkeitssteigerung führt [5]. Im Folgenden werden zwei der spannendsten Anwendungen und Ergebnisse beschrieben.

Stellare Nukleosynthese: Kernmassen für die Astrophysik

Wie entstanden die Elemente? Das ist eine fundamentale Frage der (nuklearen) Astrophysik. Bis zum Eisen werden die leichten Elemente durch exotherme Fusionsprozesse in Sternen erzeugt. Die schwereren können nur durch endotherme Neutronen- oder Protoneneinfangprozesse entstehen – in oft explosiven stellaren Umgebungen mit genügend hoher Protonen- oder Neutronendichte. Bei diesen Reaktionen entstehen kurzlebige Radionuklide, die durch Kernzerfälle die schwereren stabilen Isotope bilden – den Sternenstaub, aus dem auch wir selbst bestehen. Man unterscheidet dabei drei Prozesse:
1. langsamer Neutronen-Einfang in Sternen: s-Prozess (s für engl. slow)
2. schneller Neutronen-Einfang in Supernovae: r-Prozess (r für rapid)
3. schneller Protonen-Einfang in klassischen Novae und binären Sternsystemen: rp-Prozess (rp für rapid proton)
Dabei fangen stabile Kerne so lange Neutronen oder Protonen ein, bis aufgrund des großen Ungleichgewichts der β-Zerfall einsetzt, d.h. die Umwandlung von Neutronen in Protonen bzw. umgekehrt. Durch die wiederholten Neutronen- bzw. Protoneneinfänge und β-Zerfälle bilden sich sukzessive immer schwerere Elemente. Im s-Prozess entstehen nach den meisten (langsamen!) Neutroneneinfängen durch β-Zerfall sofort wieder stabile Kerne, d.h. der Prozess verläuft im Wesentlichen im Stabilitätstal. Beim r-Prozess dagegen, der bei Temperaturen von über einer Milliarde Grad und extrem hohen Neutronendichten abläuft, kommt es zu einer schnellen Aufnahme vieler Neutronen, so dass Kerne fernab der Stabilität entstehen. Die Neutroneneinfangprozesse produzieren bevorzugt Kerne mit geschlossenen Neutronenschalen, wie sie bei den „magischen“ Neutronenzahlen N = 82, 126 auftreten. Dies ist eine direkte Folge der nuklearen Schalenstruktur – ganz analog zu den besonders stabilen Edelgaskonfigurationen der atomaren Elektronenhüllen. Die Einfangprozesse werden an diesen Stellen gebremst, und durch den Stau des Reaktionsflusses entstehen besonders hohe Isotopenhäufigkeiten.
An welcher Stelle der Isotopenkette die Neutronenanlagerung abbricht, ist also in erster Linie von der Bindungsenergie der Neutronen abhängig und damit von den Kernmassen bestimmt. Für gegebene Neutronendichten und Temperaturen müssen die Massen mit einer relativen Genauigkeit von teilweise besser als 10–7 bekannt sein, um die entscheidenden Nuklide festzulegen. Zusammen mit den Halbwertszeiten für β-Zerfälle bestimmen die Kernmassen sowohl die Geschwindigkeit der Reaktionen als auch das am Ende erzeugte Muster der Elementhäufigkeiten. ISOLTRAP hat dazu beigetragen, diese entscheidenden Nuklide zu identifizieren und beispielsweise den r-Prozess-Pfad im Massebereich um 80 durch die Massenmessung von 80Zn und 81Zn festzulegen [6]. Auch im Pfad des rp-Prozesses konnte mit 72Kr ein solch wichtiges „Wartenuklid“ bestimmt werden [7].

Test der schwachen Wechselwirkung im Standardmodell

Hochpräzise Massenmessungen haben Bedeutung über die Kernphysik hinaus. So können sie auch zu Tests des Standardmodells der Teilchenphysik beitragen. Dieses beschreibt beispielsweise die schwache Wechselwirkung, die unter anderem für den β-Zerfall verantwortlich ist, durch „Ströme“ analog zum elektrischen Strom. Im Standardmodell hat die starke Kernkraft, die die Anziehung zwischen den Protonen und Neutronen bewirkt, keinen Einfluss auf die schwache Wechselwirkung. Als Konsequenz ist ein Anteil der schwachen Wechselwirkung, der sogenannte „Vektorstrom“ eine Erhaltungsgröße (Conserved Vector Current, CVC), ähnlich wie die Gesamtenergie oder die elektrische Ladung. Daraus ergibt sich, dass alle Zerfälle, die ausschließlich über die Vektorkopplung der schwachen Wechselwirkung stattfinden („übererlaubte β-Zerfälle“) identische Ft-Werte besitzen. In diese „vergleichbaren Halbwertszeiten“ Ft gehen neben den beobachteten Zerfallszeiten weitere Messwerte ein, insbesondere auch die beteiligten Kernmassen. Aus dem Ft-Wert kann umgekehrt die Vektorkopplungskonstante bestimmt werden.
Zusammen mit zusätzlichen experimentellen Werten (z.B. aus dem Myon-Zerfall) erhält man das erste Element der „Cabibbo-Kobayashi-Maskawa-Matrix“, die die Beziehung der Masseneigenzustände der Quarks zu ihren Eigenzuständen unter der schwachen Wechselwirkung beschreibt. Das Standardmodell sagt voraus, dass die CKM-Matrix „unitär“ ist. Für die erste Zeile gab es bis vor kurzem eine Abweichung, was als Fehler im Standardmodell interpretiert werden konnte. Zur Überprüfung der Ft-Werte wurde eine Reihe von hochpräzisen Massenmessungen mit ISOLTRAP an kurzlebigen Radionukliden wie 22Mg [8], 26mAl [9] (das m deutet einen angeregten Zustand an), 38Ca [5, 9] und 74Rb [10] durchgeführt. Zusammen mit weiteren Massen- und Halbwertszeit-Messungen konnte jüngst ein neuer präziser Wert für das erste Element Vud der CKM-Matrix bestimmt werden. Dies ermöglichte den genauesten Test der Unitarität der CKM-Matrix und lieferte für die erste Zeile Vud2 + Vus2 + Vub2 = 0,9998(10) – in exzellenter Übereinstimmung mit der Vorhersage des Standardmodells von exakt 1.

Mit diesen beiden Beispielen aus Astro- und Teilchenphysik wurden zwei Felder angedeutet, in die die Präzisionsmassenspektrometrie ausstrahlt. Darüber hinaus konnte kürzlich an ISOLTRAP erstmals mittels Pennigfallen-Massenspektrometrie ein neues Nuklid beobachtet werden. Damit knüpft die nukleare Massenspektrometrie auch wieder an ihre Frühzeit an, wo sie maßgeblich an der Entdeckung der Isotope beteiligt war.

Originalveröffentlichungen

A. H. Wapstra, G. Audi, C. Thibault:
The AME2003 atomic mass evaluation.
Nuclear Physics A 729, 129-336 (2003).
K. Blaum:
High-accuracy mass spectrometry with stored ions.
Physics Reports 425, 1-78 (2006).
M. Mukherjee et al.:
Mass measurements and evaluation around A=22.
European Physical Journal A 35, 31-37 (2008).
L. Schweikhard, G. Bollen (Eds.):
Special Issue on Ultra-Accurate Mass Spectrometry and Related Topics.
International Journal of Mass Spectrometry 251, (2–3) (2006).
S. George et al.:
Ramsey Method of Separated Oscillatory Fields for High-Precision Penning Trap Mass Spectrometry.
Physical Review Letters 98, 162501 (2007).
S. Baruah et al.:
Mass Measurements beyond the Major r-Process Waiting Point 80Zn.
Physical Review Letters 101, 262501 (2008).
D. Rodríguez et al.:
Mass Measurement on the rp-Process Waiting Point 72Kr.
Physical Review Letters 93, 161104 (2004).
M. Mukherjee et al.:
The Mass of 22Mg.
Physical Review Letters 93, 150801 (2004).
S. George et al.:
Time-separated oscillatory fields for high-precision mass measurements on short-lived Al and Ca nuclides.
Europhysics Letters 82, 50005 (2008).
A. Kellerbauer et al.:
Direct Mass Measurements on the Superallowed Emitter 74Rb and Its Daughter 74Kr: Isospin-Symmetry-Breaking Correction for Standard-Model Tests.
Physical Review Letters 93, 072502 (2004).
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