Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik

Notch-Signalwege und ihre Schlüsselrolle bei der Differenzierung neuronaler Stammzellen

Autoren
Taylor, Verdon
Abteilungen

Molekulare Embryologie (Prof. Dr. Rolf Kemler)
MPI für Immunbiologie, Freiburg

Zusammenfassung
Mit dem fortschreitenden Altern der Gesellschaft treten neurodegenerative Krankheiten immer stärker in den Vordergrund und stellen die Gesellschaft vor neue und in diesem Ausmaß bisher nicht bekannte medizinische und soziale Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund ist eine der interessantesten und wichtigsten offenen Fragen der Entwicklungs- und der Regenerativen Neurobiologie, wie die Erhaltung und Differenzierung neuronaler Stammzellen im Säugerorganismus kontrolliert und reguliert werden. Der mit neurodegenerativen Krankheiten einhergehende Verlust von Nervenzellen ist bis heute nicht ausgleichbar und somit sind Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson nicht therapierbar. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Immunbiologie identifizieren neuronale Stammzellen im zentralen Nervensystem und bestimmen die molekularen, anatomischen und physiologischen Mechanismen, die deren Erhalt und Entwicklung regulieren. Ihr Ziel ist es, einen Einsatz neuronaler Stammzellen für therapeutische Zwecke zu eruieren.

Neurogenese im adulten Gehirn – eine Fortsetzung der Embryogenese?

Das zentrale Nervensystem der Säugetiere ist neuro-ektodermalen Ursprungs und entsteht aus einer Population neuronaler Stammzellen, die sich im Neuralrohr befinden. Ihr Schicksal ist abhängig von ihrer Lokalisierung im Neuralrohr, da sie hierdurch in den Einflussbereich unterschiedlicher morphogener und musterbildender Signale kommen. Ein genau reguliertes Zusammenspiel verschiedener Faktoren kontrolliert Proliferation und Differenzierung neuronaler Stammzellen im sich entwickelnden Embryo, um das komplexeste Organ des Säugerorganismus zu bilden – das Gehirn. Die Entwicklung des Nervensystems durchläuft unterschiedliche Phasen, in denen die Rolle neuronaler Stammzellen genau bestimmt ist. In der ersten frühen Phase proliferiert und expandiert das Neuralrohr und der Pool neuronaler Stammzellen wird vergrößert. In der zweiten, Neurogenese genannten Periode bilden neuronale Stammzellen Neurone, um abschließend in der dritten Phase zu Gliazellen zu differenzieren. Die Arbeitsgruppe um Verdon Taylor konnte zusammen mit anderen aufzeigen, dass Notch-Signale eine zentrale Stellung bei der Regulierung des Schicksals neuronaler Stammzellen in der Embryonalentwicklung einnehmen. Notch-Signale beeinflussen direkt die Differenzierung und das Schicksal neuronaler Stammzellen [1].

Ganz anders verhält es sich im ausgewachsenen Organismus. Im Gegensatz zum embryonalen Gehirn besitzt das adulte nur ein sehr eingeschränktes Potenzial zur Regeneration und kann den Verlust von Nervenzellen nicht ausgleichen. Dies wurde lange Zeit damit erklärt, dass das adulte Gehirn keine Stammzellen enthält, welche in vielen anderen Organen eine wichtige Rolle bei der Regeneration und Homöostase spielen. In den letzten Jahren hat sich allerdings gezeigt, dass auch im adulten Säugergehirn kontinuierlich Neurogenese stattfindet, und zwar ausgehend von einer Zellpopulation, die zumindest in vitro Stammzellcharakter aufweist. Zellen mit diesen stammzellartigen Eigenschaften lassen sich in zwei Regionen des adulten Mäusegehirns finden: So enthält die Subventrikularzone des lateralen Ventrikels eine kontinuierlich proliferierende Zellpopulation, aus der – über die gesamte Lebensspanne hinweg – Neuroblasten hervorgehen. Diese wandern in einem kontinuierlichen Strom zum olfaktorischen Bulbus, um dort letztendlich zu Interneuronen zu differenzieren. Des Weiteren befindet sich im Gyrus Dentatus, einer Struktur des Hippocampus, welcher maßgeblich an Lernprozessen beteiligt ist, eine sich fortwährend teilende Zellpopulation, aus welcher Körnerzellen (Neurone) hervorgehen. Beide Zellpopulationen befinden sich in einer räumlich und funktionell definierten Nische, die Signale und Faktoren bereitstellt, die sowohl eine kontinuierliche und kontrollierte Teilung als auch die Differenzierung in Neurone regulieren. Die Wissenschaftler in Freiburg konnten zeigen, dass in diesen beiden Hirnregionen adulter Mäuse, in denen neuronale Stammzellen vermutet werden, sowohl Notch-Rezeptoren als auch Notch-Signalkomponenten zu finden sind [2], siehe Abbildung 1.

Die Rezeptoren der Notch-Genfamilie sind Schlüsselregulatoren

Als neuronale Stammzellen im postnatalen Säugergehirn nachgewiesen waren, etablierten verschiedene Gruppen, einschließlich der Arbeitsgruppe am MPI in Freiburg, Methoden zur Isolierung und Kultivierung dieser Stammzellen. Hierdurch wurde es möglich, multipotente Vorläuferzellen aus postnatalen Gehirnen zu kultivieren und in vitro deren Besonderheiten zu untersuchen. Des Weiteren konnten die Forscher nun mittels konditionaler Geninaktivierung die funktionelle Bedeutung von Notch1 in neuronalen Stammzellen in vitro bestimmen [3].

Neuronale Stammzellen können als klonale „Neurospheres“ kultiviert werden. Sie behalten hierbei ihre Fähigkeit zur Selbstreplikation und zur Differenzierung in Neurone und Gliazellen. Die genetische Inaktivierung von Notch1 in kultivierten adulten neuronalen Stammzellen führt zu einem vollständigen Verlust der Fähigkeit zur Selbstreplikation. Demnach ist Notch1 essenziell für die Aufrechterhaltung eines entscheidenden Stammzell-Charakteristikums: der Selbstreplikation.

Der Ligand Jagged1 aktiviert Notch1

Notch1 fungiert als Rezeptor für fünf klassische Liganden aus den zwei Genfamilien „Delta-like“ und „Jagged“. Wie Notch1 selbst sind auch die kanonischen Liganden Transmembranproteine und die Notch-Ligand-Interaktionen ein direkter Zell-Zell-Kommunikationsmechanismus, um Signale lokal an benachbarte Zellen zu übermitteln.

Die Bindung eines Liganden an den Notch1-Rezeptor induziert einen komplexen Aktivierungsprozess, der in der proteolytischen Abspaltung der intrazellulären Domäne von Notch1 mündet. Die Abspaltung der intrazellulären Domäne führt zum Lösen dieser vom Transmembrananteil und zur Translokalisation in den Zellkern. Im Zellkern reguliert diese intrazelluläre Domäne von Notch1 die Expression einer Vielzahl von Transkriptionsfaktoren, die wiederum selbst die Expression weiterer Gene kontrollieren. Damit steht das Notch1-Signal am Anfang einer komplexen Genregulationskaskade. Im Nervensystem führt die Aktivierung der Notch1-Signalkaskade zur Blockierung der Neurogenese.

Aufbauend auf diesen Ergebnissen, dass Notch1 die Aufrechterhaltung adulter neuronaler Stammzellen reguliert, stellen die Wissenschaftler folgende Hypothese auf: Ein Notch1-Ligand stellt eine Schlüsselkomponente dar, welche die Nische neuronaler Stammzellen definiert beziehungsweise ausmacht. Mittels immunhistochemischer Methoden konnten sie Jagged1-exprimierende Zellen in direkter Nachbarschaft zu Notch1-exprimierenden Zellen in der Subventrikularzone adulter Gehirne nachweisen und die Ausbildung von Zell-Zell-Kontakten zwischen diesen Zellen aufzeigen. Durch konditionale Geninaktivierung in vitro und kombinierte Gendeletionen in vivo konnten die Wissenschaftler belegen, dass Jagged1 als Ligand von Notch1 in der Subventrikularzone fungiert und für die Aufrechterhaltung der Selbstreplikation adulter neuronaler Stammzellen verantwortlich ist [3], Abbildung 2.

Jagged1: Der Schlüsselfaktor zur Erhaltung undifferenzierter adulter neuronaler Stammzellen in vitro?

Aus postnatalen Gehirnen isolierte Stammzellen sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um die Mechanismen und Prinzipien der Neurogenese zu studieren, sondern stellen auch eine wichtige potenzielle Quelle für zukünftige Zelltransplantationstherapien dar. Unser Wissen, welche Mechanismen die Generierung spezifischer Nervenzellen aus multipotenten Vorläuferzellen regulieren, steht erst am Anfang, doch stellt die Erhaltung und Vermehrung adulter neuronaler Stammzellen in vitro einen Meilenstein im Hinblick auf zukünftige therapeutische Ansätze dar.

Wie die Experimente am MPI in Freibung zeigten, spielt die Aktivierung von Notch1 durch Jagged1 eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung neuronaler Stammzellen in ihrem undifferenzierten und selbsterneuernden Zustand. Hierauf aufbauend stellten die Wissenschaftler die weiterführende Frage, ob die Zugabe von zusätzlichem, rekombinant hergestelltem Jagged1 die Zahl neuronaler Stammzellen und deren neuronales Differenzierungspotenzial in vitro erhöhen kann? Und tatsächlich konnten sie zeigen, dass lösliches Jagged1-Protein unter genauest definierten Zellkulturbedingungen adulte neuronale Stammzellen erhalten und deren neurogenes Potenzial maßgeblich erhöhen kann [3], Abbildung 3. Weiterführende Experimente sollen klären, ob dieser Ansatz auch für adulte somatische Stammzellen, isoliert aus menschlichen Gehirnen, anwendbar ist.

Wo liegt die Zukunft neuronaler Stammzellen?

Die Zukunft für die Verwendung neuronaler Stammzellen in der Grundlagenforschung und in therapeutischen Ansätzen ist vielversprechend. Nichtsdestotrotz bleibt noch viel zu erarbeiten, um ihre Natur vollständig zu beschreiben und ihr Potenzial im Hinblick auf zukünftige Zelltransplantationstherapien einschätzen und ausnutzen zu können.

Ein wichtiger Schwerpunkt der gegenwärtigen Arbeit des Teams um Verdon Taylor ist die Transplantation von in vitro kultivierten und expandierten adulten neuronalen Stammzellen in das sich entwickelnde embryonale Nervensystem. Multipotente Zellen werden in diesem experimentellen Ansatz direkt der induktiven Umgebung des sich entwickelnden embryonalen Nervensystems ausgesetzt. Dies ermöglicht den Forschern, ihr Differenzierungspotenzial direkt in vivo zu untersuchen. Dieser experimentelle Ansatz dient nicht nur als Test für einen möglichen Therapieansatz neuronaler Stammzellen, er liefert vielmehr auch wichtige Informationen für die Forschung, im Hinblick auf das Verstehen der grundlegenden Mechanismen der Neurogenese.

Danksagung
Ich danke Drs. Dirk Junghans, Dominik Eckardt, Bettina Neumeister, Daniel Messerschmidt für die Übersetzung.

Originalveröffentlichungen

S. Lütolf, F. Radtke, M. Aquet, U. Suter and V. Taylor:
Notch1 is required for neuronal and glial differentiation in the cerebellum.
Development 129, 373-85 (2002).
G. Stump, A. Durrer, A.-L. Klein, S. Lütolf, U. Suter and V. Taylor:
Notch1 and its ligands Delta-like and Jagged are expressed and active in distinct cell populations in the postnatal mouse brain.
EMBO Journal 24, 3504-3515 (2005).
Y. Nyfeler, R. D. Kirch, N. Mantei, P. D. Leone, F. Radtke, U. Suter and V. Taylor:
Jagged1 signals in the postnatal subventricular zone are required for neural stem cell self-renewal.
Mechanisms of Development 114, 153-159 (2002).
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