Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie

Umweltgenomik: Schlüssel zum Verständnis mariner mikrobieller Diversität und Funktion

Autoren
Glöckner, Frank Oliver
Abteilungen

Mikrobielle Genomik (Prof. Dr. Frank Oliver Glöckner)
MPI für marine Mikrobiologie, Bremen

Zusammenfassung
Die Möglichkeit, mikrobielle Genome vollständig zu sequenzieren, hat in den letzten Jahren neue Wege zum Verständnis der Diversität und Funktion mariner Organismen eröffnet. Das Ziel der mikrobiellen Genomforschungsgruppe ist es, durch die Untersuchung des genetischen Potenzials von marinen Mikroorganismen mehr über die Mechanismen herauszufinden, die es den Organismen erlauben, sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Dabei ist vor allem die funktionelle Analyse der erhaltenen genomischen Informationen von größter Bedeutung. Eine Möglichkeit, die ökologische Relevanz der gefundenen Funktionen zu erforschen, ist die geographische Verknüpfung des genomischen Potenzials mit standortspezifischen biotischen und abiotischen Umweltparametern. Dies sollte Aufschluss über Standortanpassungen und den Einfluss der Organismen auf die globalen Nährstoffkreisläufe geben. Dieses Wissen wird zu einem besseren Verständnis der Komplexität, des Wechselspiels und der Stabilität mariner Lebensräume führen. Das langfristige Ziel ist es, abschätzen zu können, wie das Ökosystem Meer sowohl auf lokale menschliche Einflüsse als auch auf globale Klimaveränderungen, wie den Treibhauseffekt, reagieren wird.

Marine Umweltgenomforschung

Ausgelöst durch die vollständige Sequenzierung des bakteriellen Genoms von Haemophilus influenzae im Jahr 1995 [1] hat die Mikrobiologie in den letzten Jahren einen nachhaltigen Wandel durchlebt. Statt einzelner Gene oder Stoffwechselwege kann jetzt zeitgleich der gesamte Bauplan eines Bakteriums analysiert werden. Derzeit (Dezember 2005) sind mehr als 300 prokaryontische Genome vollständig sequenziert und öffentlich verfügbar. An weiteren 800 Genomen wird bereits gearbeitet (http://www.genomesonline.org/). Die Auswahl der Organismen spiegelte zu Beginn vor allem wirtschaftliche Interessen wider. Nach wie vor dominieren in den Datenbanken medizinische oder biotechnologische Projekte. Genomforschung an frei lebenden, umweltrelevanten Mikroorganismen hat dagegen erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Der Durchbruch speziell in der marinen Genomforschung wurde dabei durch die Veröffentlichung von rund 1,2 Millionen neuen Genen aus der Sargasso Sea markiert [2]. Craig Venter vom gleichnamigen Institut in Rockville, USA, hatte es geschafft, durch „shot gun“ DNA Sequenzierung von Wasserproben aus vier Probennahmestellen in der Nähe von Bermuda insgesamt rund 1 Milliarde Basen zu gewinnen und teilweise zu Genomfragmenten zusammenzusetzen. Die Ergebnisse zeigen anschaulich, welch gewaltiges genetisches Potenzial in den Ozeanen dieses Planeten schlummert. Der Vorteil der direkten Sequenzierung von DNA aus Umweltstandorten (Metagenomik) ist, dass keine vorausgehende Kultivierung der Mikroorganismen benötigt wird. Da ein großer Teil der natürlichen mikrobiellen Diversität kultivierungstechnisch kaum oder nur schwer zugänglich ist, ist dies ein unschätzbarer Gewinn.

Entscheidend für das Verständnis des Einflusses der Organismen auf die Ökologie und Stoffflüsse des jeweiligen Standortes ist jedoch, einerseits die erhaltenen Metagenom-Fragmente zu größeren Einheiten und gut erforschten isolierten Organismen zuordnen zu können und andererseits sie räumlich und geographisch aufgelöst zu erfassen. Nur so kann eine Korrelation zwischen genetischem Potenzial, Physiologie sowie biologischen und physikalisch-chemischen Standortbedingungen erfolgen, die Aussagen über die Funktion der Gene und Mikroorganismen vor Ort erlaubt. Ein erster Ansatz, diese Informationen für die marine Umweltgenomik zusammenzuführen, ist unter www.megx.net zu finden. Zur Unterstützung der funktionellen Analyse der Metagenom-Fragmente werden nun, gefördert durch die Gordon and Betty Moore Foundation in den USA, über 100 marine und kultivierte Prokaryonten in guter Qualität sequenziert und in Kürze veröffentlicht (http://www.moore.org/microgenome/). Im Folgenden soll am Beispiel des kultivierten, marinen Bakteriums Rhodopirellula baltica SH 1T beschrieben werden, wie durch die Analyse seines vollständigen Genoms ein besseres Verständnis der Anpassungen an seinen marinen Lebensraum erreicht werden konnte.

Der Organismus Rhodopirellula baltica SH 1T

Rhodopirellula baltica SH 1T ist ein mariner, aerober, heterotropher Vertreter der in terrestrischen und marinen Lebensräumen weit verbreiteten Bakterien-Gruppe der Planktomyceten [3]. Isoliert wurde er vor ca. 25 Jahren aus der Kieler Bucht von Dr. Heinz Schlesner. Vertreter dieser Gruppe nehmen maßgeblich Einfluss auf die globalen Kohlenstoff- und Stickstoffkreisläufe, indem sie z.B. als derzeit einzig bekannte Gruppe von Organismen die anaerobe Oxidation von Ammonium katalysieren können. Des Weiteren mineralisieren die meisten bis heute isolierten Planktomyceten organisches Material, wie z.B. abgestorbene Algen, das in marinen Systemen als so genannter „marine snow“ zu Boden sinkt. Dadurch üben sie einen nachhaltigen Einfluss auf die Quantität und Qualität des im Sediment zur Verfügung stehenden Kohlenstoffes aus.

Was macht nun die Planktomyceten so besonders? Ihre Zellwand besteht nicht aus Peptidoglykan, sondern aus vernetzten Proteinen. Außergewöhnlich ist auch die Zellkompartimentierung in ein Ribosomen-freies „Paryphoplasma“ und das Riboplasma. Innerhalb des Riboplasmas befindet sich wiederum ein fibrillärer Nukleoid (quasi Zellkern), der beim Genus Gemmata von einer zusätzlichen Doppelmembran umschlossen wird. Auch wenn diese Besonderheiten eher auf einen Eukaryonten hindeuten, ordnet die vergleichende Sequenzanalyse der 16S ribosomalen RNA das Phylum Planctomycetes eindeutig dem Reich der Bacteria zu. Charakteristisch für viele Planktomyceten ist eine ausgeprägte Polarität der Zelle. Die Vermehrung erfolgt dabei nach Anheftung am vegetativen Pol mittels Knospung am gegenüberliegenden Pol. Dieser weist im Falle von R. baltica die so genannten „kraterförmigen Strukturen“ auf, deren Funktion bis heute unklar ist (Abb. 1).

Beim Wachstum auf Nährmedium zeigen viele Planktomyceten, wie auch R. baltica, eine typisch rote Farbe. Zusammen mit seiner Form und seinem Fundort hat ihm dies seinen Namen Rhodopirellula baltica = „kleines rotes Birnchen aus der Ostsee“ gegeben (Abb. 2).

Das Genom – Erbe der Evolution und Anpassung an den Lebensraum

Mit einer Genomgröße von 7,15 Millionen DNA-Basenpaaren, die für ca. 7.325 Gene kodieren, hat R. baltica eines der größten zirkulär geschlossenen Genome, die bislang sequenziert wurden [4]. Das entspricht der gängigen Vorstellung, dass Bakterien, die wechselnden Umweltbedingungen ausgesetzt sind, generell mehr Gene zur Verfügung haben, um z.B. durch schnelle Anpassung ihres Stoffwechsels ihr Überleben zu sichern. Betrachtet man das genetische Potenzial von R. baltica genauer, ergeben sich interessante und unerwartete Einblicke in das Leben eines Bakteriums in der Ostsee (Abb. 3).

In den sauerstoffhaltigen oberen Bereichen des Meeres scheint R. baltica durch seine 110 im Genom gefundenen Sulfatasen die Möglichkeit zu besitzen, sulfatierte Zucker als Energielieferanten nutzen zu können. Gestützt wird diese Vorstellung durch die teilweise genetische Koppelung von Sulfatase- und Kohlehydrat-Stoffwechselgenen, z.B. Carragenasen und Glycosylhydrolasen. Sulfatierte Kohlenhydrate sind in marinen Systemen keine Seltenheit und können z.B. in Form von Carrageen, welches eines der Hauptzellwand-Bestandteile von Algen ist, im bereits erwähnten „marine snow“ gefunden werden. Dass R. baltica auch sonst gut auf den Abbau von Kohlenhydraten vorbereitet ist, kann durch die Gene für Glycolyse, Pentosephosphatweg, Zitronensäurezyklus und Endoxidation in seinem Genom abgelesen werden.

Um den schädlichen Einfluss von UV-Strahlung in den oberen Wasserschichten zu minimieren, besitzt R. baltica neben den typischen SOS-Genen (recA, lexA, uvrA, B, C) auch das genetische Potenzial, um Carrotinoide zu synthetisieren. Eine weitere Anpassung an das Leben in oftmals stickstofflimitierten marinen Systemen sind ein Set von Genen für den aktiven Transport von Nitrat- und für die Nitrat/Nitrit- Reduktion. Angeheftet an den nach unten sinkenden „marine snow“ könnte R. baltica - gut versorgt durch die darin vorhandenen Kohlenhydrate - das Sediment erreichen. Unten angekommen, kann es auftretenden anoxischen Bedingungen begegnen, weil der Organismus neben Cytochrom aa3 zusätzlich eine Cytochrom-d-Oxidase besitzt, die Endoxidation selbst unter extrem niedrigem Sauerstoffgehalt erlaubt.

Obwohl R. baltica in Versuchen mit Glukose kein Wachstum unter fermentativen Bedingungen zeigt, beinhaltet sein Genom alle Gene für die Milchsäuregärung. Eine Genexpression unter bestimmten Bedingungen ist wahrscheinlich, da das Schlüsselenzym, die Laktat-Dehydrogenase, sogar als hochexprimiert vorhergesagt wurde. Diese im Genom potenziell vorhandene Fähigkeit könnte das regelmäßig beobachtete Auftreten von Planktomyceten in anoxischen Sedimenten erklären.

Eine weitere Besonderheit im Genom von R. baltica ist die genetische Ausstattung zur Konvertierung von C1-Verbindungen. In Übereinstimmung mit physiologischen Untersuchungen, bei denen R. baltica weder auf Methanol, Methylamin oder Methylsulfonat wachsen konnte, fehlen dabei allerdings die Gene für die ersten Oxidationsschritte. Alle weiteren Gene für die Oxidation von Formaldehyd zu Formiat sind hingegen vorhanden. Die nötigen H4MPT-abhängigen Enzyme waren bisher nur aus anaeroben, methanogenen und sulfatreduzierenden Archaebakterien bekannt. Erst kürzlich konnte gezeigt werden, dass sie auch bei den methylotrophen Proteobakterien vorhanden sind und eine wichtige Rolle in deren Metabolismus spielen [5]. R. baltica ist derzeit der einzige Organismus außerhalb dieser beiden Gruppen, in dem diese Gene nachgewiesen wurden. Welcher evolutionäre Mechanismus sich dahinter verbirgt, ist noch unklar.

Genexpression

Über die Regulation der Genexpression in R. baltica ist noch wenig bekannt. Eine große Anzahl von im Genom gefundenen Sigma-Faktoren legt nahe, dass die Regulation unter wechselnden Umweltbedingungen bevorzugt über die Änderung der RNA-Polymerase-Spezifität erfolgt. Eine besondere Stellung nehmen dabei die ECF (extra cytoplasmatischen) Sigmafaktoren ein, die eine direkte Modulation der Genexpression in Abhängigkeit von Umweltreizen ermöglichen. Erste Ergebnisse aus der Expressionsanalyse haben gezeigt, dass die Enzyme des zentralen Kohlenhydrat-Metabolismus bei Wachstum auf verschiedenen Zuckern wie erwartet exprimiert wurden [6]. Besonders interessant war dabei, dass die Ausprägung vieler Sulfatasegene ebenfalls unter Standard-Wachstumsbedingungen wie Glukose oder Ribose sowohl mittels Mikroarrays als auch durch Proteinanalyse nachgewiesen werden konnte. Dies deutet darauf hin, dass die entsprechenden Enzyme tatsächlich eine essenzielle Rolle bei der Kohlenhydratverwertung durch R. baltica einnehmen. In Zusammenarbeit mit der Universität Graz konnte mittels Aktivitätstests festgestellt werden, dass R. baltica fähig ist, bestimmte Sulfatester enantio-selektiv zu hydrolisieren. Dies bestärkt, dass aktive Sulfatasen von R. baltica produziert werden. Das selektive Verhalten dieser Sulfatasen könnte sogar biotechnologisch bei der Umwandlung so genannter Racemat-Gemische Anwendung finden [7].

Ausblick

Zahlreiche Publikationen in der letzten Zeit haben gezeigt, dass die mikrobielle Umweltgenomik einen essenziellen Beitrag zum Verständnis mariner Ökosysteme liefern kann [8]. Neue Erkenntnisse, die von der Adaptation von Cyanobakterien an spezifische Lichtverhältnisse [9] bis hin zur Entdeckung von Genen für eine neue Art der lichtgetriebenen Energiegewinnung bei heterotrophen Proteobakterien reichen [10], sind aus der Umweltgenomforschung hervorgegangen. Der nächste Schritt ist nun, durch standortbezogene, vergleichende Genomanalyse von kultivierten und unkultivierten Mikroorganismen nach Habitat-spezifischen Genen zu suchen. Diese sollten - wenn vorhanden und auffindbar - für die Adaptation an die verschiedenen Lebensräume in marinen Systemen entscheidend sein. Damit hätten mikrobielle Ökologen zum ersten Mal auch die Möglichkeit, einen genetischen Schlüssel zur Diversität und Verbreitung von Mikroorganismen und deren Einfluss auf die globalen Nährstoffkreisläufe in der Hand zu haben. Dies wiederum sollte ein besseres Verständnis für das komplexe molekulare Zusammenspiel von mikrobiellen Populationen in marinen Ökosystemen erlauben.

Originalveröffentlichungen

Fleischmann, R. D., et mult. al.:
Whole-genome random sequencing and assembly of Haemophilus influenzae.
Science 269, 496-512 (1995).
Venter, J. C., et mult. al.:
Environmental genome shotgun sequencing of the Sargasso Sea.
Science 304, 66-74 (2004).
Schlesner, H., C. Rensmann, B. J. Tindall, D. Gade, R. Rabus, S. Pfeiffer, and P. Hirsch:
Taxonomic heterogeneity within the Planctomycetales as derived by DNA-DNA hybridization, description of Rhodopirellula baltica gen. nov., sp. nov., transfer of Pirellula marina to the genus Blastopirellula gen. nov. as ...
International Journal of Systematic and Evolutionary Microbiology 54, 1567-1580 (2004).
Glöckner, F.O., et mult. al.:
Complete genome sequence of the marine planctomycete Pirellula sp. strain 1.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 100, 8298-8303 (2003).
Chistoserdova, L., J. A. Vorholt, R. K. Thauer, and M. E. Lidstrom:
C-1 transfer enzymes and coenzymes linking methylotrophic bacteria and methanogenic Archaea.
Science 281, 99-102 (1998).
Gade, D., et mult. al.:
Towards the proteome of the marine bacterium Rhodopirellula baltica: Mapping the soluble proteins.
Proteomics 5, 3654-3671 (2005).
Wallner, S.R., M. Bauer, C. Würdemann, P. Wecker, F. O. Glöckner, and K. Faber:
Highly enantioselective sec-Alkylsulfatase activity of the marine Planctomycete Rhodopirellula baltica shows retention of configuration.
Angewandte Chemie - Internationale Edition 44, 2-4 (2005).
DeLong, E. F. and D. M. Karl:
Genomic perspectives in microbial oceaonography.
Nature Insight 437, 04157 (2005).
Dufresne, A., et mult. al.:
Genome sequence of the cyanobacterium Prochlorococcus marinus SS120, a nearly minimal oxyphototrophic genome.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 100, 10020-10025 (2003).
Beja, O., et mult. al.:
Bacterial rhodopsin: evidence for a new type of phototrophy in the sea.
Science 289, 1902-1906 (2000).
Zur Redakteursansicht