Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Sind die emotionalen Gesichtsausdrücke des Menschen in allen Kulturen gleich?

Autoren
Senft, Gunter
Abteilungen

Sprache und Kognition (Prof. Dr. Stephen Levinson)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Bislang geht man davon aus, dass sich die Gefühle des Menschen, unabhängig von Kultur und Sprache, in gleicher Weise im Gesichtsausdruck widerspiegeln. Dieser Beitrag skizziert nun ein Forschungsprojekt am MPI für Psycholinguistik, in dem diese Hypothese von der Universalität des mimischen Ausdrucks von Emotionen im Sprach- und im Kulturvergleich untersucht wird. Präsentiert werden erste Forschungsergebnisse, die der Hypothese widersprechen.

In den meisten Kriminalfilmen wird bei der Suche nach dem Täter mehr oder weniger ausführlich illustriert, wie schwer sich Zeugen eines Verbrechens dabei tun, das Gesicht des Täters so zu beschreiben, dass es für andere eindeutig identifizierbar wird. Dies gilt auch für eine Reihe anderer Domänen der menschlichen Wahrnehmung wie zum Beispiel für Geschmacks- und Geruchsempfindungen. Wir stoßen offenbar bei der Kategorisierung solcher Domänen an die Grenzen der Beschreibungskapazität von natürlichen Sprachen. Warum das so ist, ist nicht klar.

Die Erforschung des Ausdrucks der Gemütsbewegungen beim Menschen hat eine lange Tradition, auf die schon Darwin 1872 in der Einleitung zu seinem berühmten Beitrag zum Thema hinweist [1]. Darwin war davon überzeugt, dass universelle Emotionen und auf stammesgeschichtlichen Anpassungen basierende Gesichtsausdrücke, die diese Emotionen widerspiegeln, universale Kategorien bilden. Diese Kategorien seien so eindeutig, dass sie in allen Kulturen leicht erkannt und mit im Sprachvergleich übereinstimmenden Termini bezeichnet werden könnten. Zu den gegenwärtig wohl einflussreichsten Vertretern dieser Anschauung gehören Paul Ekman und seine Mitarbeiter. Ekman schreibt: „Regardless of the language, of whether the culture is Western or Eastern, industrialized or preliterate, facial expressions are labeled with the same emotion terms: happiness, sadness, fear, disgust and surprise“ [2]. Dieser Auffassung widersprechen aber eine Reihe von detaillierten psychologischen [3] und völkerkundlichen [4] Untersuchungen. Sie haben kulturspezifische Konzepte von Emotionen beschrieben, die in lokalen „Ethnopsychologien“ eingebettet sind.

Ansatz und Fragestellungen

Die Mitarbeiter im Projekt „Kategorien für Emotionen in Sprache und Kognition“ gehen davon aus, dass es zwei grundlegende Möglichkeiten gibt, wie ein Kind, das seine Muttersprache lernt, die Bedeutung von Ausdrücken wie „Ärger“ oder „Trauer“ in konkreten Situationen extrapolieren könnte. Zum einen könnte das Kind das zum Ausdruck der Emotion führende kausale Ereignis zur Kenntnis nehmen und sich vorstellen, wie es sich selbst in einer solchen Situation fühlen würde. Zum anderen könnte das Kind aber auch direkt das Verhalten und besonders den Gesichtsausdruck der betreffenden Person beobachten und sich dann entweder aufgrund eines Instinkts im Darwin'schen Sinne oder durch Identifikation die emotionale Befindlichkeit dieser Person erschließen.

Ausgehend von diesen beiden Aspekten – dem der Emotion vorausgehenden kausalen Ereignis und dem Gesichtsausdruck, der mit dieser Emotion verbunden ist – werden in diesem Projekt die folgenden Fragen gestellt und im Sprach- und Kulturvergleich untersucht:

  • Lässt sich im Sprachvergleich tatsächlich ein vergleichbares Inventar von Bezeichnungen für universelle grundlegende Emotionen nachweisen?
  • Wie wird auf diese Emotionen sprachlich verwiesen und inwieweit stimmen Sprecher einer Sprache innerhalb einer Kulturgemeinschaft bei der Bezeichnung dieser Emotionen miteinander überein?
  • Lassen sich diese Emotionen besser aufgrund von Gesichtsausdrücken oder vor dem Hintergrund von bestimmten Situationen benennen?

Experimente, Datenerhebung und erste Ergebnisse

Um diese Fragen zu beantworten, wurden drei Feldexperimente entwickelt: Im ersten Experiment geht es darum, Gesichtsausdrücke zu benennen. Dabei werden jeweils sechs Photos von einer Frau und zwei Männern benutzt, deren jeweiliger Gesichtsausdruck sechs von Ekman als universell postulierte Emotionen widerspiegelt und die Ekman und seine Mitarbeiter entwickelt und in eigenen Untersuchungen benutzt haben. Im zweiten Experiment werden den Informanten 20 jeweils in ihre Sprache übersetzte kurze Szenarien vorgelesen. Sie werden dann gebeten, die aufgrund dieser Szenarien in dem jeweiligen Protagonisten hervorgerufenen Emotionen zu benennen. Und im letzten Experiment geht es darum, die im ersten Experiment benutzten Photos von Ekman den vorgelesenen Szenarien zuzuordnen. Darüber hinaus haben einige Mitarbeiter in diesem Projekt in Pilotuntersuchungen Beschreibungen von kurzen, als Filmszenen vorliegenden Darstellungen von Emotionen von ihren Informanten geben lassen. Diese Szenen, die teilweise in einen bestimmten kausalen Kontext eingebettet sind, wurden für ein Forschungsprojekt von Baron-Cohen [5] entwickelt und von professionellen Schauspielern dargestellt.

Am Beispiel des Kilivila, der austronesischen Sprache der Trobriand-Insulaner von Papua-Neuguinea, werden im Folgenden erste Ergebnisse der Datenanalysen illustriert. Erste Pilotuntersuchungen hatten ergeben, dass das Kilivila über ein reiches Vokabular zum Beschreiben von Emotionen verfügt. Außerdem reagierten die Trobriander auf die filmischen Darstellungen von Emotionen in der vorhergesagten Weise und benannten die gezeigten Emotionen wie erwartet und in fast vollkommener Übereinstimmung.

Im ersten Experiment wurden den Informanten Photos vorgelegt, die nach Ekman die universellen Emotionen „Freude, Angst, Erstaunen, Ärger, Trauer"“ und „Ekel“ widerspiegeln. Von diesen Emotionen wurde bei den vorgelegten Bildern nur der Gesichtsausdruck für „Freude“ von allen zehn beteiligten Informanten erkannt. Außerdem wurden die Gesichtsausdrücke für „Ärger“ von der überwiegenden Mehrheit der Informanten eindeutig erkannt und übereinstimmend benannt. Für alle anderen Emotionen variieren die Aussagen der Informanten untereinander stark und stimmen nicht oder nur bei wenigen Informanten mit den erwarteten und von Ekman vorhergesagten Reaktionen überein.

Im zweiten Experiment benannten die Informanten die mithilfe der Szenarien elizitierten Emotionen des jeweiligen Protagonisten in 16 der 20 Fälle in der erwarteten Art und Weise, und zwar mit großer, in manchen Fällen sogar mit vollkommener Übereinstimmung.

Bei der im dritten Experiment gefragten Zuordnung der Bilder hatten die Informanten allerdings wieder einige Schwierigkeiten, vor allem bei den Szenarien, die die Emotionen „Überraschung/Schock, Ärger, Langeweile“ und„Zurückhaltung“ illustrieren sollten; außerdem war die Variation bei der Zuordnung der Bilder zu den Szenarien innerhalb der Informanten größer als beim Erkennen der in den vorgelesenen Situationen erwarteten Emotionen des Protagonisten.

Dass die Trobriander zwar ohne Probleme die in den Filmszenen dargestellten Emotionen wie vorhergesagt erkennen konnten, aber große Probleme bei der Zuordnung von Emotionen zu den auf den Photos dargestellten Gesichtsausdrücken hatten, mag daran liegen, dass Emotionen eben nicht nur statisch mimisch ausgedrückt werden. Das das Ausdrücken von Emotionen geschieht vielmehr in komplexen dynamischen Handlungsabläufen.

In anderen Sprachen wie etwa dem Yélî Dnye, eine von den Rossel-Insulanern in Papua-Neuguinea gesprochene Papua-Sprache, gibt es überhaupt kein kohärentes Inventar von sprachlichen Ausdrücken zum Benennen von Emotionen. Hier wurden keinerlei Übereinstimmungen festgestellt, weder mit den in den Baron-Cohen-Filmen noch mit den auf den Ekman-Photographien gezeigten Emotionen. Das mag daran liegen, dass in dieser Kultur bestimmte Gesichtsausdrücke konventionalisiert sind und in der alltäglichen Interaktion als Signale mit bestimmter Bedeutung interpretiert werden. Ein „Nase-Rümpfen“ gilt so als Ausdruck von „Erstaunen“. Am Beispiel dieser Ethnie wird deutlich, dass Ekmans Theorie die kulturspezifische Kontrolle des Gesichts als Kommunikationssystem vollkommen unterschätzt.

Diese ersten Befunde sprechen also klar gegen die von Darwin, Ekman und anderen postulierte Universalität des Ausdrucks der Emotionen beim Menschen. In weiteren Untersuchungen sollen Daten mithilfe von Photographien und Filmszenen erhoben werden, in denen Angehörige der von Mitarbeitern des Projekts untersuchten Ethnien selbst Emotionen darstellen (vgl. Abb. 1).

Literaturhinweise

Ch. Darwin:
The expression of emotion in man and animals.
London: Murray (1872).
P. Ekman:
Cross-cultural studies in facial expressions.
P. Ekman (Hg.): Darwin and facial expression – a century of research in review, 169-222. New York: Academic Press (1973).
J. A. Russell:
Is there universal recognition of emotion from facial expression? A review of cross-cultural studies.
Psychological Bulletin 115, 102-141 (1994).
R. I. Levy, M. Z. Rosaldo (Hg.):
Self and emotion.
Special issue of Ethos 11(3), 127-209 (1983).
S. Baron-Cohen et al.:
Mind reading, the interactive guide to emotions.
Cambridge University Press/Jessica Kingsley Publishers (2003).
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