Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Trojanische Pferde und dynamische Nanoflöße: Lebenswichtige Zellmechanismen und lebensbedrohende Krankheitsursachen

Autoren
Simons, Kai
Abteilungen

Simons: Die Rolle von Lipid-Rafts beim Zelltransport, der Kommunikation zwischen Zellen und bei Krankheitsentstehungen (Prof. Dr. Kai Simons)
MPI für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden

Zusammenfassung
Werden Stoffe aus einer Zelle abgegeben, schüttet ein neu entdecktes Transportsystem kleine Vesikel (Exosome) in die Umgebung aus. Bei der Zell-Zell-Kommunikation oder der Lipidsortierung helfen Nanoflöße. Diese Mechanismen sind lebenswichtig für komplexe Zellen. Doch sie werden auch schnell missbraucht: Exosome stellen sich als Trojanische Pferde heraus, die die Entstehung der Alzheimerschen Krankheit fördern. Auch die Funktionsweise der Rafts wird von Viren genutzt, um von Zelle zu Zelle zu gelangen.

Der Grundbaustein des Lebens in komplexer Vielfalt

Die erstaunlichste Erkenntnis der modernen Biologie war die Entdeckung einer gemeinsamen Grundstruktur allen Lebens auf unserem Planeten. Tiere, Pflanzen, Pilze und Bakterien sind verwandte Organismen: Wale und Pilze wären beispielsweise so etwas wie Vettern. Die frühesten Hinweise gab uns das Mikroskop mit der Entdeckung, dass sogar große Tiere und Pflanzen aus Verbänden von kleinen, halbautonomen, lebenden Zellen aufgebaut sind. Aber erst die Entdeckungen auf den Gebieten der Biochemie und der Molekularbiologie erbrachten den Beweis, dass es einheitliche molekulare Grundlagen des Lebens gibt – der krönende Erfolg war die Entschlüsselung des universellen genetischen Codes in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Danach folgte die Erkenntnis, nach der Sequenzierung verschiedener Genome einschließlich dem des Menschen, dass viele Gene in allen Organismen – von Bakterien bis zum Menschen – sich sehr ähneln. Leben auf Genomebene spiegelt die Zelltheorie wider. Aber reichte es wirklich aus zu wissen, dass die Gene einen eindimensionalen Proteinkatalog verkörpern, der nach einem eingebauten Programm abgelesen werden kann? Könnte die Molekularbiologie wirklich so langweilig sein, dass sie all ihre Pläne schon beim ersten reduktionistischen Ansturm einer einzigen Generation scharfsinniger Praktiker preisgibt?

Heute ist es kaum noch zu verstehen, wie sich eine solche Sicht überhaupt durchsetzen konnte. Ein erwachsener Mensch besteht aus 10.000 Billionen (1013) Zellen, die sich als unterschiedliche Zellpopulationen – sprich als Gewebe – differenziert haben. In den Zellen eines bestimmten Gewebes wird nur ein Teil des gesamten genetischen Programms umgesetzt. Wir wissen sehr wenig über die Mechanismen, die dafür sorgen, dass jede Zelle genau das Entwicklungsprogramm durchläuft, das jeweils die ihrer Funktion angemessene Organisation vorgibt. Die Zellen der verschiedenen Gewebe sehen im Mikroskop völlig verschieden aus. Sie haben jeweils eine charakteristische Größe, Form und Architektur. Wie bei Lego-Bausteinen gibt es also nicht einen immer gleichen Grundbaustein, sondern eine unglaubliche Vielfalt an verschiedensten Varianten – und gerade deshalb kann man daraus unterschiedlichste Konstruktionen zusammensetzen. Um aber die raffinierten Wechselbeziehungen, die zur Gewebebildung beitragen, zu durchschauen, müssen wir bei diesen Problemen alle drei Raumdimensionen berücksichtigen und, um Veränderungen zu erfassen, zusätzlich die Zeit als vierte Dimension heranziehen.

Dynamische Nanoflöße in der Zelle

Die verschiedenen Funktionen einer Zelle (Synthese von Bestandteilen, Verteilung und Transport zu Standorten, Import und Export, Energieproduktion, Müllabfuhr und Reinigung, Zellteilung und Regulation) finden an verschiedenen Orten statt – wie in einer Stadt. Diese Orte – Zellkompartimente – sind von Membranen – dünne Doppelschichten von Lipiden – umhüllt. Ungefähr 30% von allen Proteinen in den Zellen sind in den Membranen eingebettet und schwimmen in den flüssigen Doppelschichten herum. Viele andere Proteine im Zellinneren oder –äußeren binden an Membranen und üben ihre Funktionen dort teilweise aus. Man hatte lange vermutet, dass die Doppelschicht ein homogenes Lösungsmittel für die Membranproteine darstellt – wie die wässrige Lösung im Zellinneren und –äußeren. Aber die Zelle synthetisiert hunderte von verschiedenen Membranlipiden, die in drei Hauptklassen unterteilt sind: Cholesterin, Phospholipide und Sphingolipide. Und dieser Aufwand hat natürlich einen Grund: Unlängst hat man herausgefunden, dass in dieser Flüssigkeit nicht nur Proteine herumschwimmen, sondern auch dynamische Strukturen, Nanoflöße, die aus Sphingolipiden und Cholesterin zusammengesetzt sind. Und diese Flöße, auch Rafts genannt, sind nicht fest wie Holzflöße auf einem Fluss, sondern sind ebenfalls flüssig, dabei aber in zwei Lipidschichten dichter gepackt, als in der umliegenden Doppelschicht (Abb. 1).

Die Flöße sind nur für kurze Zeit stabil und extrem klein – zwischen 20 und 100 Nanometern. Das schafft den Forschern allerdings ein Problem: Rafts sind für sie quasi unsichtbar, somit ist es beinahe unmöglich, sie direkt zu beobachten. Doch inzwischen gibt es eine große Menge an Anhaltspunkten, die von Forschern in aller Welt zusammengetragen wurden und die darauf hinweisen, dass Rafts eine wichtige Rolle spielen. Genau das wiederum wird von manchen Biologen stark in Frage gestellt: Wie könnte eine so dynamische, quasi instabile Struktur wirkliche Relevanz für biologische Vorgänge haben? Andere gehen weiter und argumentieren, dass das bisher Beobachtete, etwa die Anreicherung bestimmter Lipidtypen, auch einzig von Unebenheiten des Zellskeletts hervorgerufen sein könnte. So dynamisch die Rafts selbst sind, so dynamisch ist also auch noch die Diskussion vor allem um ihre Größe, Lebensdauer und Funktion. Alle Experimente zu Rafts mit unterschiedlichsten Fragestellungen und Ansätzen haben in die gleiche Richtung gewiesen: Die Rafts-These bekommt mit diesem nicht von der Hand zu weisenden Datenmaterial eine sichere Basis.

Rafts als Basis für Kommunikation und Proteinsortierung

Rafts scheinen auch für Vorgänge – wie etwa die Kommunikation zwischen Zellen oder die Sortierung von Lipiden – unabdingbar zu sein. Beispielsweise hat man Proteine beobachtet, die sich vorzugsweise innerhalb von Rafts ansammeln und als Rezeptorprotein für die Weitergabe eines Signals in das Innere einer Zelle verantwortlich sind. Dabei, so die These mancher Forscher, bilden sie kleine dynamische Cluster – dies erleichtert den Proteinen das Zusammenspiel. Versuche haben diese Annahme untermauert: Werden einer Membran Sphingolipide und Cholesterin, die für das Funktionieren von Rafts in besonders hoher Konzentration auftreten müssen, entnommen, sind plötzlich auch ganze Signalwege der Zelle unterbrochen. Zudem – so weitere Beobachtungen – verändern die Rafts die Struktur der angesammelten Proteine. So können diese dann unterschiedliche Funktionen wahrnehmen.

Rafts als Schlüssel zu neuen Medikamenten und Therapien

Bei der gesamten Diskussion um Rafts geht es um wesentliche Fragen: Inwiefern spielen Rafts eine Rolle bei Erkrankungen und wie können wir ihr Funktionieren besser verstehen, um so etwa neue Therapiemöglichkeiten zu entwickeln? Dass die Zellmembran ein wichtiges Studienobjekt gerade für die Virologie ist, liegt auf der Hand; inzwischen gibt es auch klare Hinweise darauf, dass viele Viren die Rafts für das Eindringen in Zellen – oder das Austreten – nutzen. Genau diese Ein- und Austrittspforten wären für die Behandlung von Viruskrankheiten ein vielversprechender Ansatzpunkt. Beim Infektionsvorgang durch Influenza-, Ebola-, Masern- und auch HI-Viren gibt es erste Ansätze der Erkenntnis: Vergleicht man die Lipidstruktur der Viren mit der ihrer Wirtszellen, legt die Beobachtung von sehr ungewöhnlichen Sphingolipiden in der Wirtsmembran nahe, dass Viren in der Tat Rafts nutzen, um aus der Zelle auszutreten – denn ganau die Sphingolipide sind Bestandteile der Rafts. Auf diese Weise ließe sich sogar der genaue Austrittsort identifizieren – und hier liegt der Ansatzpunkt für Medikamente der Zukunft. An solchen Rafts, mit deren Hilfe Viren in andere Zellen übersetzen, könnte man idealerweise ansetzen.

Neue Therapiemöglichkeiten erhofft man sich auch für die Alzheimersche Krankheit. Charakteristisch für diese Demenzerkrankung sind Amyloid-Ablagerungen im Gehirn. Sie entstehen aus einem Membranprotein, dem so genannten APP (beta-Amyloid-Precursor-Protein). Dieses in der Membran der Nervenzellen verankerte Eiweiß kann von verschiedenen Enzymen gespalten werden; eines davon, die erst kürzlich identifizierte β-Sekretase, zerschneidet das Protein so, dass sich Amyloid-Ablagerungen bilden können (Abb. 2). Es scheint, dass dieses Enzym seine verheerende Wirkung vor allem in Rafts entfaltet und diese damit ein weiterer Ansatzpunkt sein könnten, um den Ausbruch der Krankheit zu verzögern.

Der Endozytose-Apparat wurde mit dem Schnitt der β- und γ-Sekretasen und der daraus resultierenden Anhäufung von β-Amyloid (Aβ) in Verbindung gebracht. Jedoch ist es bisher noch keineswegs gelungen, das intrazelluläre Kompartiment, in welchem die Sekretasen schneiden, zu identifizieren, oder die Mechanismen zu verstehen, mithilfe derer das in der Zelle produzierte Aβ in das extrazelluläre Milieu freigegeben wird. Wissenschaftler der Arbeitsgruppe von Kai Simons am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden konnten nun in HeLa-Zellen, menschlichen Krebszellen, zeigen, dass der Schnitt durch die β-Sekretase in frühen Endosomen, also Vesikeln an der Zellperipherie, stattfindet und daraufhin das Aβ zu so genannten „Multivesicular Bodies“ (MVBs) hingesteuert wird. Anschließend können winzig kleine Mengen Aβ-Peptide von der Zelle abgesondert werden, dies in Verbindung mit Exosomen, also von Vesikeln, die innerhalb des Lumens der MVBs entstehen. Diese Exosomen werden in das Zelläußere entlassen, indem die MVBs mit der Plasmamembran verschmelzen. Die Forscher konnten beobachten, dass sich exosomale Proteine in der Plaque der Groß- und Kleinhirnrinde von Alzheimer-Patienten ansammeln – diese Beobachtung legt nahe, dass sie eine Rolle bei der Entstehung der Alzheimerschen Krankheit spielen.

Die aktuellen Forschungsergebnisse aus dem Simons-Labor am MPI-CBG haben den Verdacht erhärtet, dass der so genannte Endocytic Pathway der vorwiegende Raum ist, in dem Aβ entsteht. Der Schnitt durch die β-Sekretase findet, so die weiteren Beobachtungen, in frühen Endosomen, also Vesikeln an der Zellperipherie statt, auch die γ-Sekretasen können hier wirksam werden. Wie gewisse Mengen von Aβ aber von ihrem in der Membran verankerten Zustand in die extrazelluläre Sphäre überführt werden, ist gegenwärtig noch nicht erforscht. Die Wissenschaftler des MPI-CBG konnten zeigen, dass sehr geringe Anteile von Aβ, nämlich weniger als 1 Prozent, an Exosomen binden und so in das Zelläußere abgegeben werden. Da aber nur ein kleiner Bruchteil des Aβ mit den Exosomen verknüpft ist, stellt sich durchaus die Frage, ob es sich wirklich an die Exosomen „klebt“ oder ob kleine Bruchteile von Aβ-Peptiden tatsächlich mithilfe von Exosomen aus der Zelle hinaustransportiert werden. Letztere Annahme wird durch mehrere Tatsachen untermauert: Erstens sind Aβ-Peptide in den so genannten „Multivesicular Bodies“ (MVBs) zu entdecken, welche mit der Plasmamembran verschmelzen, dann kleine Vesikel abgeben, die ebenfalls Aβ aufweisen. Desweiteren konnte Aβ auch nach mehrmaligem Waschen bei der Vorbereitung der Proben für die Kryoelektronen-Mikroskopie weiterhin auf exosomalen Vesikeln gefunden werden – das legt ebenfalls nahe, dass Aβ in die Membran hineingegeben wird. Inwiefern an exosomale Proteine gebundenes Aβ bei der Entstehung der Alzheimerschen Krankheit eine Rolle spielt, muss nun weiter erforscht werden. Die Tatsache, dass genau solche exosomale Proteine, wie beispielsweise Alix oder Proteine der Flotillin-Familie, vermehrt in den Amyloid-Ablagerungen auftreten, lässt vermuten, dass mit Exosomen verbundenes Aβ in die Entstehung der Plaques verwickelt ist. Da die Alzheimersche Krankheit sich sehr langsam entwickelt, könnte die Abgabe von Aβ mithilfe von Exosomen, wenn auch in sehr geringer Konzentration, dennoch zum Fortschreiten der Krankheit beitragen. Es wäre auch denkbar, dass sich Aβ an Exosome als Transportmittel ankuppelt, um so von einer Zelle zur anderen zu gelangen. Der HI-Virus nutzt den Pfad über Exosome, um sich aufzustellen und dann freizusetzen, ebenso nutzen Prionen-Proteine – bei Infektionen aus infiziertem Gewebe isolierte Proteine – Exosome als Transportweg von Zelle zu Zelle. Exosome stellen sich also mehr und mehr als Trojanische Pferde bei der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten dar.

Wird es bald möglich sein, mit bestimmten Substanzen die Bildung von Rafts zu unterdrücken und so Viren an ihrer Vermehrung zu hindern oder Alzheimer besser therapieren zu können? Viele Forscher sehen die Arbeit an diesen biologischen Schlüsselprozessen als den richtigen Weg.

Originalveröffentlichungen

Rajendran, L.; Honsho, M.; Zahn, T. R.; Keller, P.; Geiger, K.D.; Verkade, P.; Simons, K.:
Alzheimer’s disease beta-amyloid peptides are released in association with exosomes.
Proceedings of National Academy of Sciences of the USA 103, 11172-11177 (2006).
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