Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institute für experimentelle Medizin

Der Transkriptionsfaktor SIP1: ein Schlüsselregulator in der Gehirnentwicklung der Maus

Autoren
Miquelajauregui, Amaya; Tarabykin, Victor
Abteilungen

Molekulare Biologie neuronaler Signale (Prof. Dr. Walter Stühmer)
MPI für experimentelle Medizin, Göttingen

Zusammenfassung
SIP1 ist ein Transkriptionsfaktor, der an der Entstehung des Mowat-Wilson-Syndroms beteiligt ist – einer Krankheit, bei der die normale Gehirnentwicklung des Menschen gestört ist. Um die molekularen Mechanismen der Wirkung des Sip1-Gens aufzudecken, züchteten Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen eine Mausmutante, die modellhaft für dieses Syndrom ist. In diesen Mäusen war das Sip1-Gen nur in der Großhirnrinde ausgeschaltet, während es in anderen Gewebeteilen unverändert blieb.

SIP1 ist ein Transkriptionsfaktor, der beim Menschen an der Entstehung des Mowat-Wilson-Syndroms (früher auch Hirschsprung-Krankheit oder mental retardation syndrome genannt) beteiligt ist. Patienten des Mowat-Wilson-Syndroms haben ein verkleinertes Großhirn und sind geistig stark zurückgeblieben. Die Krankheit zeigt mit 1 in 1000 bis 1500 Neugeborenen eine sehr hohe Verbreitung. Um den Patienten des Mowat-Wilson-Syndroms helfen zu können, müssen die molekularen Grundlagen der Krankheit erkannt werden. Außer der Tatsache, dass bei diesen Patienten das SIP1-Gen mutiert ist, war über den molekularen Entstehungsweg der Krankheit nichts bekannt. Um diesen Weg aufzuklären, untersuchten Victor Tarabykin und Amaya Mequelajauregui die Funktion von SIP1 im Gehirn von Mäusen.

Zuerst analysierten die Wissenschaftler die Expression von SIP1 während der embryonalen Entwicklung. Dabei fanden sie SIP1 schon vor der Gastrulation bis zum Erwachsenenstadium und vorwiegend im Gehirn, aber auch in vielen anderen Geweben. Es war deshalb nicht überraschend, dass sich das Ausschalten (knock-out) des SIP1-Gens in Mäusen, die im Labor von Prof. Danny Huylebroeck, Universität Leuven, Belgien, hergestellt wurden, schon in der Mitte des Embryonalstadiums letal auswirkt. Um dennoch Jungtiere zur Untersuchung zu erhalten, wurden – in Zusammenarbeit mit Huylebroeck – Mausmutanten mithilfe der so genannten konditionalen Knock-out-Technik hergestellt. Diese Methode ermöglicht das Ausschalten eines Genes in einem bestimmten Zielgewebe, ohne dass die Expression dieses Gens in anderen Organen beeinträchtigt wird. Dazu werden zwei heterozygote Mauslinien verwendet, wobei eine Linie versteckte Mutationen enthält, die durch eine spezifische Kreuzung aktiviert werden.

Da bei Mowat-Wilson-Patienten das Gehirn die Region ist, die am stärksten gestört ist, wurde SIP1 nur in der Großhirnrinde ausgeschaltet, andere Regionen blieben unverändert. Die bei der Kreuzung erzeugten homozygoten Mausmutanten waren kleiner als ihre heterozygoten Geschwister und überlebten nur bis zum frühen Erwachsenenalter von drei bis vier Wochen (Abb. 1).

Die Mausmutanten zeigten dramatische Veränderungen im strukturellen Aufbau des Gehirns. Es fehlte ihnen die gesamte Hippocampusformation, ein Teil des Großhirns (Cortex cerebri), der für Lernen und Gedächtnis wichtig ist (Abb. 2). Die Veränderungen waren denen ähnlich, die in Gehirnen von Mowat-Wilson-Patienten gefunden wurden. Daher können diese homozygoten Mäuse, die aus der Mauskreuzung als stabile Linie hervorgegangen sind, als Tiermodell der Krankheit beim Menschen dienen.

Um die Ursachen für die Fehlentwicklung der Hippocampusformation aufzuklären, untersuchten die Forscher die Entwicklung des Großhirns in diesen Mausmutanten. Es zeigte sich, dass in frühen Entwicklungsstadien die Hippocampusformation nicht vollständig fehlt, jedoch ihre Größe dramatisch reduziert ist. Für das Fehlen eines ganzen Gehirnareals kann es verschiedene Ursachen geben, beispielsweise eine verminderte Zellteilung in der entsprechenden Region. In den Gehirnen der Mutanten wurde ein stark vermindertes Wachstum im Bereich der Hippocampusformation gefunden (Abb. 3).

Als zweite Ursache für einen fehlenden Hippocampus kann auch vermehrter Zelltod durch Apoptose (programmierter Zelltod) in Frage kommen. Während der Entwicklung reguliert der programmierte Zelltod die Anzahl der Zellen im Körper und die Größe von Organen. Auch in der Hippocampusformation findet Apoptose während der normalen Hirnentwicklung statt, jedoch ist die Rate relativ niedrig und auf späte Entwicklungsstadien beschränkt. Es lag nahe, diese Hirnregion auf eine vermehrte Apoptoserate zu untersuchen. Die Mutanten zeigten im Vergleich zu Kontrolltieren eine stark erhöhte Zahl von Zellen, die an Apoptose starben, außerdem setzte der programmierte Zelltod viel früher ein.

Als nächster Schritt sollten die molekularen Ursachen der verminderten Zellteilung und der erhöhten Zelltodrate identifiziert werden. Es ist bekannt, dass für die Bildung der Hippocampusformation die Wnt-Signalkaskade sehr wichtig ist. Mäuse mit Mutationen in den verschiedenen Proteinen des Wnt-Signalweges zeigen einen ähnlichen Phänotyp wie SIP1-Mutanten. Es lag daher nahe, anzunehmen, dass SIP1 in die Kontrolle des Wnt-Signalweges eingreift. Die Wnt-Signalkaskade ist für viele verschiedene Prozesse bedeutend, so für die Embryonalentwicklung, für Zellteilung, Differenzierung und Krebs.

Die Wnt-Signale können über einen kanonischen und einen nicht-kanonischen Weg weitergeleitet werden. Im ersten Fall ist das am besten beschriebene zytoplasmatische Zielprotein der Aktivierung des Wnt-Rezeptors das β-catenin. In einer nicht aktivierten Zelle wird die Phosphorylierung von β-catenin nicht aufgehoben und das phosphorylierte Protein wird abgebaut. In einer aktivierten Zelle ist diese Phosphorylierung durch Bindung des extrazellulären Wnt-Signalproteins an seinen Rezeptor Frizzled gehemmt, dies führt zur Stabilisierung von β-catenin und zu seinem Transport in den Zellkern. Dort kann es als Co-Faktor von Transkriptionsfaktoren wirken und die Transkription von nachfolgenden Genen steuern (Abb. 4.

Der Wnt-Signalweg kann durch extrazelluläre Inhibitoren wie Sfrp-Proteine (secreted frizzled related proteins) unterdrückt werden. Diese Proteine ähneln dem Rezeptorprotein Frizzled in ihrer Fähigkeit, Wnt zu binden. Sie führen jedoch zu keiner Aktivierung, sondern zu einer Hemmung des Signalwegs, da die blockierten Wnt-Moleküle von der Bindung an ihre Rezeptormoleküle abgehalten werden.

Die hier untersuchte Ausschaltung des SIP1-Proteins, das ein bekannter Repressor der Transkription ist, führte zu starken morphologischen und Zellwachstums-Defekten, die vergleichbar sind mit denen, die durch Ausschalten der Wnt-Signalkaskaden-Komponenten verursacht werden. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, dass SIP1 – entweder direkt oder indirekt – eine negative Steuerung auf bestimmte Inhibitoren des Wnt-Signalweges ausüben kann. Um dieser Frage nachzugehen, untersuchten die Wissenschaftler die Aktivität von Sfrp-Genen, die im Großhirn exprimiert werden. Davon ist Sfrp1 nur in der Großhirnrinde und nicht im Hippocampus exprimiert. In den homozygoten Mausmutanten war dieses Genprodukt jedoch im Hippocampus in hoher Konzentration zu finden (Abb. 5).

Es wurde nun ein Versuch unternommen, den Verlust der Hippocampusformation in den SIP1-Mausmutanten mit einem genetischen Ansatz zu reparieren. Dazu verwendeten die Forscher Mäuse, bei denen eine stabile Form von β-catenin in den gleichen Zellen aktiviert werden konnte, in denen das Sip1-Gen ausgelöscht worden war. In diesen Zellen war die Stabilisierung von β-catenin nicht mehr von der Interaktion zwischen Wnt und dem Rezeptorprotein Frizzled abhängig. Die Ergebnisse zeigten, dass die Zahl der zur Hippocampusformation gehörenden Zellen deutlich erhöht werden konnte. So wurde zwar nicht der ganze Hippocampus, aber der während der Entwicklung zuletzt gebildete Teil des Hippocampus (Gyrus dentata) erhalten.

Die Daten weisen auf eine modellartige Beteiligung von SIP1 an der Bildung der Hippocampusformation hin. Normalerweise wird SIP1 im Hippocampus exprimiert und hemmt dort die Expression von Sfrp1. In den SIP1-Mausmutanten dagegen wird, durch das Fehlen von SIP1, die Expression von Sfrp1 nicht unterdrückt, aber als Folge der Wnt-Signalweg gehemmt. Dies führt dann durch verminderte Zellteilung und vermehrten Zelltod zum Verlust des gesamten Hippocampus. Die hier vorgestellten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Hochregulation von SIP1 eine Hauptursache der Degeneration des Hippocampus bei Mowat-Wilson-Patienten ist.

Zurzeit werden Experimente mit den homozygoten SIP1-Mäusen durchgeführt, die die komplette Wiederherstellung des Hippocampus durch die Inaktivierung von Sfrp1 zum Ziel haben. Falls es mit diesen Experimenten gelingen sollte, die Degeneration der Hippocampusformation zu verhindern, wäre ein neues Ziel bei der Suche nach Medikamenten für Patienten mit Mowat-Wilson-Syndrom gefunden.

Originalveröffentlichungen

K. Verschueren, J. E. Remacle, C. Collart, H. Kraft, B. S. Baker, P. Tylzanowski, L. Nelles, G. Wuytens, M. T. Su, R. Bodmer et al.:
SIP1, a novel zinc finger/homeodomain repressor, interacts with Smad proteins and binds to 5'-CACCT sequences in candidate target genes.
Journal of Biological Chemistry 274, 20489-98 (1999).
N. Wakamatsu, Y. Yamada, K. Yamada, T. Ono, N. Nomura, H. Taniguchi, H. Kitoh, N. Mutoh, T. Yamanaka, K. Mushiake et al.:
Mutations in SIP1, encoding Smad interacting protein-1, cause a form of Hirschsprung disease.
Nature Genetics 27, 369-70 (2001).
T. van de Putte, M. Maruhashi, A. Francis, L. Nelles, H. Kondoh, D. Huylebroeck and Y. Higashi:
Mice lacking ZFHX1B, the gene that codes for Smad-interacting protein-1, reveal a role for multiple neural crest cell defects in the etiology of Hirschsprung disease-mental retardation syndrome.
American Journal of Human Genetics 72, 465-70 (2003).
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