Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Kinetik der Festkörper-Phasenumwandlung

Autoren
Mittemeijer, Eric Jan; Sommer, Ferdinand
Abteilungen

Phasenumwandlungen, Thermodynamik und Kinetik (Prof. Dr. Eric Mittemeijer)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Es wurde ein modularer Ansatz für eine quantitative numerische und analytische Beschreibung von Festkörperphasenumwandlungen, die durch drei sich überlagernde Mechanismen (Keimbildung, Wachstum, Zusammenstoßen) bestimmt werden, entwickelt und erfolgreich angewendet. Zwei Formen der Umwandlungskinetik, normal und abnormal, wurden von uns erstmals für Eisen und Eisenbasis-Legierungen gefunden. Auf der Basis einer neu entwickelten atomaren Monte-Carlo-Methode kann die massive Umwandlung simuliert werden. Die messbare Gesamt-Aktivierungsenergie dieser Umwandlung wird durch eine Serie nacheinander erfolgender atomarer Sprünge von einer Gruppe von Atomen an der Grenzfläche bestimmt.

Technologisch wichtige, massive Materialien, ob ein- oder mehrphasig, bestehen in der Regel aus einer Vielzahl kleiner Kristalle, Körner genannt, die in ihren Orientierungen mehr oder weniger statistisch regellos verteilt vorliegen. Die durch die Körner festgelegte Mikrostruktur eines Werkstoffes bestimmt viele seiner technologisch wichtigen Eigenschaften. Die Mikrostruktur wird vielfach auf der Basis von Festkörperphasenumwandlungen optimiert. Das neue Gefüge entsteht bei einer Phasenumwandlung im festen Zustand über die Bildung vieler Kristallkeime der neu gebildeten Phase und deren Wachstum, bis dieses Wachstum der neuen Körner durch gegenseitige Berührung beendet wird. Keimbildung, Wachstum und Zusammenstoßen der neu gebildeten Körner (Phasen) sind die Mechanismen, die eine Phasenumwandlung im Festkörper bestimmen.

Die Kenntnis der thermodynamischen Eigenschaften eines Materials ermöglicht die Berechnung der Energiezustände, die das Material bei einer Phasenumwandlung durchläuft. Kleine Energieunterschiede bestimmen oft den stabilen Gleichgewichtszustand des Materials. Diese Energiedifferenzen müssen zusammen mit der Kinetik der Phasenumwandlung betrachtet werden, um das Temperatur-Zeit-Verhalten der Phasenumwandlung zu beschreiben. Keimbildung und Wachstum der neuen Phase setzen nicht ohne weiteres Energie frei: so genannte aktivierte Zustände müssen durchlaufen werden, wie es in Abbildung 1 für die klassische Vorstellung schematisch dargestellt ist.

Die kinetische Beschreibung einer Phasenumwandlung kann hoch komplex sein, da das Material z.B. metastabile Zustände durchlaufen kann, bei denen die Umwandlung stoppt, oder es können instabile Zustände eingefroren werden oder die Kinetik kann nicht durch eine einzelne Aktivierungsenergie beschrieben werden. Das derzeitige Verständnis der Kinetik von Festkörper-Phasenumwandlungen ist größtenteils phänomenologisch.

Wir versuchen die Dynamik der Änderungen der Mikrostruktur bei Phasenumwandlungen experimentell sowie mit modellmäßigen analytischen und numerischen Beschreibungen auf der mesoskopischen Ebene (für Korndurchmesser im Bereich von 10-6 m) zu verstehen. Für ein fundamentales Verständnis werden Vorgänge auf atomarer Ebene mit Computersimulationen untersucht, wie z. B. die atomaren Bewegungen während einer Umwandlung an der sich bewegenden Grenzfläche zwischen Ausgangsphase und Produktphase.

1. Ein neues analytisches Model zur Beschreibung isothermer und isochroner Umwandlungskinetik

Der umgewandelte Anteil einer Phase wird von uns kalorimetrisch oder dilatometrisch gemessen, da bei einer Phasenumwandlung in der Regel Wärme freigesetzt oder aus der Umgebung entzogen wird und/oder eine Änderung des Volumens erfolgt. Die verwendeten Messanordnungen können sehr kleine bis extrem kleine Änderungen der Wärme und der Länge registrieren, wobei diese Änderungen proportional zum umgewandelten Anteil sind. Die Messungen erfolgen bei konstanter Temperatur (isotherm) oder bei konstanter Aufheiz- oder Abkühlrate (isochron), d.h. bei konstanter Änderung der Temperatur mit der Zeit. Abbildung 2 zeigt schematisch den gemessenen umgewandelten Anteil sowie die daraus berechnete Umwandlungsrate bei konstanter Temperatur in Abhängigkeit von der für die Umwandlung benötigten Zeit.

Zur quantitativen Beschreibung des gemessenen Umwandlungsverhaltens verwenden wir einen modularen Ansatz, d.h., für Keimbildung, Wachstum und Zusammenstoßen der Phasen (Körner) können wir jeweils unterschiedliche Modelle verwenden [1-3] (siehe Abb. 3).

Diese Modellbeschreibungen können allgemein numerisch gelöst werden. Eine analytische Beschreibung ermöglicht dagegen eine direkte Identifizierung und Untersuchung des Einflusses einzelner Teilprozesse. Wir haben für eine Vielzahl von Keimbildungsmodellen (auch für das gleichzeitige Auftreten von zwei Keimbildungsmechanismen), in Verbindung mit unterschiedlichen Modellen für Wachstum und Zusammenstoßen der Körner sowie für nicht gleichförmiges Wachstum (bestimmte Wachstumsrichtungen sind bevorzugt), eine analytische Beschreibung des umgewandelten Anteils in Abhängigkeit von Temperatur und Zeit entwickelt. Dieses Modell wurde erfolgreich zur Beschreibung der Kinetik der Kristallisationsvorgänge in verschiedenen amorphen Legierungen angewandt und die vorliegenden Keimbildungs- und Wachstumsmodelle mit den entsprechenden Aktivierungsenergien konnten identifiziert werden [3, 4]. Diese Modellbeschreibungen ermöglichen eine gezielte Einstellung der Mikrostruktur mithilfe von Phasenumwandlungen.

2. Kinetik der Nano-Kristallisation

Eine gezielte Wärmebehandlung amorpher Legierungen kann zu einer Bildung vieler sehr kleiner kristalliner Teilchen (Durchmesser im Bereich von 10-9 m) in der amorphen Matrix führen. In aluminiumreichen amorphen Legierungen bilden sich solche kristalline Teilchen aus Aluminium mit sehr hohen Teilchendichten (1021 m-3) (siehe Abb. 4). Die Teilchendichteverteilung dieser primär umgewandelten Teilchen wurde erstmals in Abhängigkeit von Zeitdauer und Temperatur der Wärmebehandlung durch elektronenmikroskopische Durchstrahlung untersucht. Diese Ergebnisse ermöglichten eine detaillierte Untersuchung der vorliegenden Keimbildungsvorgänge und frühen Wachstumsstadien [5].

3. Austenit-Ferrit-Phasenumwandlung

Eine massive Phasenumwandlung erfolgt ohne Diffusion über große Abstände, wobei sich die Ausgangsphase in eine Produktphase mit unterschiedlicher Kristallstruktur aber mit gleicher chemischer Zusammensetzung umwandelt. Die massive Phasenumwandlung von Austenit (γ) in Ferrit (α) in Eisenbasis-Legierungen ist eine technologisch sehr wichtige Phasenumwandlung, die die einzigartigen Eigenschaften dieses Eisenbasiswerkstoffs wesentlich bestimmt. Diese Umwandlung dient auch deswegen in unseren Untersuchungen als Modell-Umwandlung.

3.1 Erscheinungsformen der massiven Austenit-Ferrit-Umwandlung

Anhand der Änderung der Umwandlungsrate konnten erstmals zwei Erscheinungsformen der Umwandlungskinetik der Austenit-Ferrit-Umwandlung, die normale und abnormale Umwandlung, für reines Eisen sowie Eisen-Kobalt-, Eisen-Mangan- und Eisen-Kohlenstoff-Legierungen ermittelt werden. Die normale γ→α Umwandlung zeigt nur ein positives Maximum in der Umwandlungsrate (wie in Abb. 2), während für die abnormale Umwandlung zusätzliche Maxima im Anfangsstadium der Umwandlung auftreten. Mit dem modular aufgebauten Umwandlungsmodell (Kapitel 1) konnten wir die Wachstumsgeschwindigkeit der γ/α-Grenzfläche während der Umwandlung aus den experimentellen Ergebnissen berechnen. Es zeigte sich, dass der Gewinn an chemischer Energie bei der Bildung der stabilen α-Phase nur wenig größer ist als die aufzubringende Verzerrungsenergie, da die α-Phase ein etwas größeres Volumen als die Ausgangsphase γ aufweist. Die Berücksichtigung zusätzlicher Keimbildungsvorgänge in der Anfangsphase der abnormalen Umwandlung führt zu einer erfolgreichen Beschreibung dieser abnormalen Umwandlungskinetik [6, 7].

3.2 Atomare Simulation der massiven Phasenumwandlung

Eine umfassende Kenntnis atomarer Vorgänge bei der massiven Phasenumwandlung liegt nicht vor. Experimentell ist es äußerst schwierig, die atomare Struktur einer sich bewegenden Phasengrenzfläche zu untersuchen. Gegen diesen Hintergrund wurde eine neue kinetische Monte-Carlo-Methode entwickelt, die gleichzeitig mit mehreren Gitterstrukturen arbeitet. Mit dieser Methode ist zum ersten Mal die Simulation einer massiven Phasenumwandlung innerhalb tragbarer Rechenzeiten möglich. In dieser Methode werden unterschiedliche Kristallgitter als mögliche Plätze für die Atome zur Verfügung gestellt. Neben den Gitterplätzen der Ausgangs- und Produktphase der Phasenumwandlung werden zusätzlich zufällig angeordnete Plätze für die Atome zur Verfügung gestellt. Diese zufällig verteilten Plätze ermöglichen es den Atomen kurzzeitig Positionen zwischen den Gitterplätzen an der Phasengrenzfläche einzunehmen, um Unregelmäßigkeiten in der Struktur an der Grenzfläche berücksichtigen zu können.

Das Wachstum kann auf verschiedene Weise erfolgen. Für große Energiedifferenzen zwischen Austenit und Ferrit wurde kontinuierliches Wachstum mit einer atomar rauen Umwandlungsfront gefunden (siehe Abb. 5). Für kleine Energiedifferenzen wurde dagegen ein Wachstum von Gitterebene zu Gitterebene mit einer zweidimensionalen Keimbildung gefunden.

Eine Analyse der Aktivierungsenergie der Umwandlung kombiniert mit direkter Beobachtung der atomaren Umordnungsvorgänge an der Grenzfläche (in der Simulation) haben zum bis jetzt wichtigsten Ergebnis dieser Untersuchung geführt: Ein neues Verständnis der Aktivierungsenergie für die Grenzflächenbeweglichkeit wurde erzielt. Bisher wurde angenommen, dass diese Aktivierungsenergie durch einzelne atomare Sprungprozesse an der Grenzfläche bestimmt ist. Die neuen Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Aktivierungsenergie durch eine Serie von Sprüngen von einer Gruppe von Atomen bestimmt wird. In Abbildung 6 ist beispielhaft zu sehen, dass einige im kubisch flächenzentrierten Gitter (Austenit) angeordnete Atome nicht direkt auf die Gitterplätze des energetisch günstigeren raumzentrierten Gitters (Ferrit) springen können. Um die Umwandlung fortzusetzen zu können, müssen sich mehrere Atome nacheinander bewegen um das vorhandene freie Volumen an der Grenzfläche so umzuverteilen, dass ein Sprung zu einem Gitterplatz im raumzentrierten Gitter ermöglicht wird. Diese Serie von Sprüngen besteht häufig aus energetisch ungünstigen Sprüngen. Die Gesamt-Aktivierungsenergie für die Grenzflächenbeweglichkeit setzt sich damit aus den Energieänderungen und Aktivierungsenergien der jeweiligen Serie von Sprüngen zusammen, wie das in Abbilung 7 schematisch gezeigt ist [8, 9].

Originalveröffentlichungen

E. J. Mittemeijer and F. Sommer:
Solid state phase transformation kinetics: a modular transformation model.
Zeitschrift für Metallkunde 93 (5), 352-361 (2002).
F. Liu, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
An analytical model for isothermal and isochronal transformation kinetics.
Journal of Materials Science 39, 1621-1634 (2004).
F. Liu, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
Parameter determination of an analytical model for phase transformation kinetics: application to crystallization of amorphous Mg-Ni alloys.
Journal of Materials Research 19 (9), 2586-2596 (2004).
F. Liu, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
Determination of Nucleation and Growth Mechanisms of the Crystallization of amorphous Alloys; Application to Calorimetric Data.
Acta Materialia 52, 3207-3216 (2004).
H. Nitsche, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
The Al nano-crystallization process in amorphous (Al85Ni8Y5Co2).
Journal of Non-Crystalline Solids 351, 3760-3771 (2005).
Y. C. Liu, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
Abnormal austenite-ferrite transformation behaviour in substitutional Fe-based alloys.
Acta Materialia 51, 507-519 (2003).
Y. C. Liu, F. Sommer, and E. J. Mittemeijer:
Abnormal Austenite-Ferrite Transformation Behaviour of Pure Iron.
Philosophical Magazine 84, 1853-1876 (2004).
C. Bos, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
A Kinetic Monte Carlo Method for the Simulation of Massive Phase Transformations.
Acta Materialia 52, 3545-3554 (2004).
C. Bos, F. Sommer and E. J. Mittemeijer:
An atomistic analysis of the interface mobility in a massive transformation.
Acta Materialia 53, 5333-5341 (2005).
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