Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Forschungen zur Humandiversität im 20. Jahrhundert

Autoren
Lipphardt, Veronika
Abteilungen
Zusammenfassung
Wie kann man menschliche Vielfalt, „Humandiversität“, angemessen erforschen und beschreiben? Die biologischen Aspekte dieser Frage wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist mithilfe der Rassenbiologie beantwortet. Diese galt nach 1945 als völlig diskreditiert, und so schienen erst Populationsgenetik und Molekulargenetik den Biowissenschaftlern einen neuen Zugang zu diesem äußerst heiklen Problem zu öffnen. Tatsächlich war der Weg der Forschung komplexer, als es die Geschichtsschreibung mit Fokus auf die Folgen von Rassismus in Wissenschaft und Gesellschaft bisher zeigt.

Auf dem Gebiet der menschlichen Vielfalt, so der Genetiker Leslie C. Dunn im Jahr 1956, müsse man sich vorsichtig bewegen und sich auf diejenigen Fragen beschränken, die objektiv, quantitativ und gründlich bearbeitet werden könnten. Kurz zuvor hatte er das Institute for the Study of Human Variation gegründet, das sich Fragen menschlicher Vielfalt mit modernsten biowissenschaftlichen Methoden widmen sollte. Die beteiligten Forscher untersuchten das Kastenwesen in Indien oder biochemische Differenzen der Urinzusammensetzung verschiedener Ethnien. Dunn selbst nahm sich vor, im Rahmen einer Fallstudie die evolutionsbiologischen Folgen von freiwilliger sozialer Isolation zu erforschen. „Rassen“-Zugehörigkeit, so seine grundlegende These, sei nicht die Ursache für soziale Differenz, sondern deren Folge.

Humandiversität als Forschungsgegenstand seit der Frühen Neuzeit

Damit stellte Dunn sich gegen eine Grundannahme einer alten Forschungstradition, blieb aber dennoch in deren biologischem Erklärungsrahmen. Die Vielfalt der Menschheit war seit der Frühen Neuzeit ein Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Als Forschungsreisende berichteten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen über die Bewohner anderer Kontinente, wie beispielsweise über die weltweite Vielfalt an Kulturprodukten, an Sprachen, Verhaltensweisen oder an biologischen Merkmalen. Naturwissenschaftler hofften, der Natur der Humandiversität auf die Spur zu kommen, indem sie Schädel, Körpermaße, Augen-, Haut- und Haarfarbe erfassten und vergleichend gegenüberstellten.

Mit Darwins Theorien, wonach die Spezies Mensch ein Ergebnis biologischer Evolution ist, wandelte sich die biowissenschaftliche Perspektive auf das Phänomen der Humandiversität grundlegend. Intraspezifische Diversität – das heißt Variation innerhalb einer Art – wurde nun, beim Tier wie beim Menschen, als ein evolutionäres Durchgangsstadium in der Entstehung neuer Arten gesehen; Variation, Migration, Isolation und Selektion galten fortan als Begriffe, die auch auf die menschliche Geschichte angewandt werden konnten. Im beginnenden 20. Jahrhundert, nach der Wiederentdeckung der Mendel'schen Regeln, wandelte sich das biowissenschaftliche Verständnis von Vielfalt wiederum tief greifend: Diversität wurde nun unter genetischen Gesichtspunkten betrachtet und mit den aktuellsten biowissenschaftlichen Methoden erforscht. Dafür wählten die Forscher eine Vielzahl neuer empirischer Ansatzpunkte, wie etwa die Zusammensetzung von Körperflüssigkeiten, Blutgruppen, Gehirnstruktur, physiologische Leistungsspektren oder feinere anatomische Merkmale, zum Beispiel die Form des Augenlids (Abb. 1).

Bis zur Jahrhundertmitte arbeiteten Biowissenschaftler, die sich dem Phänomen der Humandiversität näherten, generell mit dem Begriff „Rasse“. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Rassenforschung sowohl von wissenschaftlicher Seite als auch in politischen und gesellschaftlichen Debatten heftiger Kritik unterzogen. Tatsächlich hatten der zeitgenössische Rassismus und die wirkungsmächtigen Rassentheorien der Zeit auch in den Wissenschaften eine unübersehbar große Rolle gespielt. Aber die damalige Diversitätsforschung lässt sich aus heutiger Sicht nicht auf diese politische Dimension reduzieren. Sie hatte vielschichtige Motivationen, Agenden und Einflussbereiche und folgte eigenen wissenschaftlichen Logiken.

Die jüdische Gemeinde Roms – eine reproduktiv isolierte Gemeinschaft?

Einige namhafte Biowissenschaftler reagierten auf das Dilemma des drohenden Rassismus-Vorwurfs mit antirassistischem Engagement, bemühten sich, den Gebrauch des Rassenbegriffs einzudämmen und konzentrierten sich, wie etwa Dunn, auf vermeintlich bescheidene, fest umrissene Projekte. Im Frühjahr 1954 untersuchte er mit einem Forscherteam die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Rom. Er ging von der Annahme aus, dass diese Gemeinde seit der Antike innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft aus religiösen Gründen isoliert gelebt hatte und so gut wie keine interkonfessionellen Ehen geschlossen worden waren. Um diese Ausgangshypothese zu verifizieren, beauftragte er einen Kulturanthropologen, die aktuelle soziale und reproduktive Isolation der Juden in Rom sozial- und kulturwissenschaftlich empirisch zu untermauern. Gleichzeitig studierte Dunn historische Literatur, um die Isolation auch für die vergangenen Jahrhunderte belegen zu können.

Das Ergebnis der Studie lautete, dass in die jüdischen Familien, die auf dem ehemaligen Ghettogebiet lebten, keine Christen eingeheiratet hätten. Juden, die Christen geheiratet hatten, seien in andere Stadtteile gezogen und könnten nicht zur Kerngemeinschaft gerechnet werden. Nun galt es, die auf dem Ghettogebiet lebenden jüdischen Familien für die Untersuchung zu gewinnen. Dunn wandte sich an die dortigen medizinischen Institutionen der jüdischen Gemeinde (Abb. 2). Diese gewährten ihnen Zugang zu den Patientenakten, stellten Räume zur Verfügung und verteilten Lebensmittelpakete oder Medikamente an die Familien und Personen, die an der Studie teilnahmen. Da diese laut eigenen Angaben schon immer auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos gewohnt und nur untereinander geheiratet hatten, sahen sich die Forscher einmal mehr in ihrer Isolations-Vermutung bestätigt. An mehreren Hundert Mitgliedern der jüdischen Gemeinde führte Dunn anschließend genetische Blutgruppenuntersuchungen durch. Sie ergaben, dass die Mitglieder der Kerngemeinschaft prozentual gesehen deutlich häufiger die Blutgruppe B aufwiesen als die christliche Mehrheitsbevölkerung. Nach einem Abgleich mit älteren Daten aus anderen europäischen Ländern und mit neueren aus Israel zog Dunn den – wie sich zeigen lässt: unberechtigten – Schluss, dass die Juden diese genetische Eigenschaft schon zu antiken Zeiten nach Europa mitgebracht und durch reproduktive Isolation beibehalten hatten.

Probleme der Diversitätsforschung

Dunns Studie verdeutlicht die Komplexität, aber auch die Dilemmata der biowissenschaftlichen Diversitätsforschung im 20. Jahrhundert. Es galt einerseits, Diversität als globales Phänomen zu beschreiben und eine schlüssige Klassifikation für die gesamte Menschheit zu erstellen, die eine ebenso schlüssige Erzählung der Evolution des Menschen erlaubte. Andererseits musste empirische Forschung zu Diversitätsphänomenen stets auf der Mikroebene ansetzen, die Grenzen zwischen zwei vermuteten Klassifikationseinheiten und damit deren soziale Beziehungen zueinander in den Blick nehmen. Diversitätsforschung fand kaum im Labor, sondern inmitten der Gesellschaft statt. Ohne das Einverständnis der Untersuchten war – zumindest in nicht totalitären Gesellschaften – eine Datenerhebung so gut wie unmöglich. Man erreichte sie durch materielle Transferleistungen, medizinische Dienstleistungen oder Angebote zur Identitätsstiftung, und damit brachten Probanden und Probandinnen wie auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen „Präideen“ [1] über die menschliche Vielfalt in die Untersuchung mit ein. Es gelang kaum, einen klaren Schnitt zwischen der älteren „Rassenforschung“ und dem neuen evolutionsbiologisch-humangenetischen Ansatz zu machen: Obwohl Dunn essenzialistische Zuschreibungen im Stil der früheren Rassenforschung hatte vermeiden wollen, gingen ältere, ausgesprochen biologistische Wissensbestände sowie weitverbreitete biohistorische Narrative über die sogenannte „jüdische Rasse“ in seine Forschung ein.

Die Historiografie ließ bislang die Geschichte der Rassenforschung im Jahr 1945 enden. Dagegen geht das Projekt des MPI für Wissenschaftsgeschichte davon aus, dass nach dem Zweiten Weltkrieg allenfalls die Rassenforschung zum Ende kam, nicht aber die Diversitätsforschung. Gerade in den letzten Jahren ist, veranlasst durch molekulargenetische, pharmakogenetische und genealogische Großprojekte, die Diskussion über die genetische Diversität der Menschheit auch wieder öffentlich entflammt. Nachdem bestimmte nationale Problematiken mit guten Gründen bisher im Mittelpunkt der Historiografie zur Rassenforschung standen – in Deutschland die NS-Zeit, in den USA die Diskriminierung der Schwarzen – richtet eine neue MPG-Forschungsgruppe am MPI für Wissenschaftsgeschichte, die im Rahmen der Berliner Kooperation des MPI für Wissenschaftsgeschichte und der Berliner Universitäten entstanden ist, den Fokus auf die transnationale Dimension der Diversitätsforschungen, insbesondere in kolonialen und postkolonialen Kontexten. Sie beschäftigt sich zudem nicht nur mit der Geschichte der Erforschung von „Rassen“, vielmehr nahmen Biowissenschaftler im gesamten 20. Jahrhundert eine Fülle von Formen biologischer Diversität wahr, sei es auf der Ebene größerer oder kleinerer „Populationen“, „Gemeinden“, „Bevölkerungsgruppen“ oder winziger „Isolate“. Die Projekte der Forschergruppe lokalisieren Wissen über Humandiversität in kolonialen Bevölkerungsdiskursen auf den Neuhebriden in den 1920er- und 1930er-Jahren, in humangenetischen Forschungsprojekten westlicher Genetiker in nicht westlichen Gesellschaften in den 1950er- und 1960er-Jahren sowie in biomedizinischen Forschungen und Bevölkerungsstudien in der UdSSR/Russische Föderation seit den 1970er-Jahren. Die vielfältigen Interessen an – und Anwendungskontexte von – Diversitätswissen stehen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses.

Originalveröffentlichungen

L. Fleck:
Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv.
Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1980 (Erstausgabe: Basel 1935).
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