Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Nachhaltige Materialien GmbH
Vorhersage von Materialeigenschaften auf dem Computer: Jüngste Erfolge quantenmechanischer Simulationsmethoden
Computer-based prediction of materials properties: Recent achievements of quantum-mechanical simulation methods
Computergestütztes Materialdesign (Prof. Neugebauer) (Prof. Dr. Jörg Neugebauer)
MPI für Eisenforschung GmbH, Düsseldorf
Computergestütztes Materialdesign
In den vergangenen Jahren gab es bemerkenswerte Fortschritte bei der Simulation von Materialeigenschaften von Festkörpern durch vollständig parameterfreie theoretische Methoden, die auf den grundlegenden Gesetzen der Quantenmechanik beruhen. Der große Vorteil gegenüber konventionellen Simulationen ist, dass Vorhersagen allein auf dem Computer gemacht werden können – selbst für völlig neue bzw. noch nicht synthetisierte Werkstoffe werden keine experimentellen bzw. empirisch anpassbaren Eingabegrößen benötigt. Für einen solchen ab initio (lat.: aus ersten Prinzipien) Zugang hat sich insbesondere die Dichtefunktionaltheorie (DFT) bewährt. Sie erlaubt eine akkurate Berechnung der Grundzustandsenergie, E(T=0K), der vorliegenden Kristallstruktur. Jedoch ist der Grundzustand in vielen Fällen nicht identisch mit der Struktur, die bei typischen Anwendungen auftritt. Je nach chemischer Zusammensetzung und Umgebungsparametern (vor allem Temperatur, aber auch Druck, elektrische/magnetische Felder etc.) können vielmehr komplizierte Phasenumwandlungen auftreten. Ein zentrales Anliegen der modernen Materialforschung ist es, diese Umwandlungen gezielt einzustellen und für Anwendungen nutzbar zu machen. Dementsprechend muss sich ein computergestütztes Materialdesign der Aufgabe stellen, die thermodynamische Stabilität von Kristallstrukturen bei endlichen Temperaturen T>0K zu bestimmen. Für die theoretische Modellierung dieser Abhängigkeiten ist die freie Energie F(V,T) die zentrale Größe. Nicht nur kann man an deren Minima die (meta)stabilen Strukturen erkennen, sie dient darüber hinaus zur Bestimmung von experimentell messbaren thermodynamischen Größen wie Übergangstemperaturen, Expansionskoeffizienten oder Wärmekapazitäten.
Ab initio Bestimmung der freien Energie
Eine ab initio Bestimmung freier Energien stellt eine große Herausforderung dar, da eine Vielzahl thermodynamischer Anregungsprozesse (wie vibronische, elektronische und magnetische Anregungen, chemische Unordnung, Gitterfehler und deren Wechselwirkung) berücksichtigt werden müssen. Da der damit verbundene numerische Aufwand immens ist und häufig die verfügbaren Rechnerkapazitäten überschreitet, hat man sich in der Vergangenheit bei der Materialsimulation oft nur auf jeweils einen dieser Anregungsprozesse beschränkt. In der Abteilung „Computergestütztes Materialdesign“ am MPI für Eisenforschung (MPIE) werden derzeit die notwendigen Methoden entwickelt, um alle in Metallen relevanten thermodynamischen Prozesse parameterfrei und mit einer so hohen Genauigkeit zu bestimmen, dass der numerische Fehler in der Größenordnung der Fehlerbalken typischer Experimente liegt. Die Analysen anhand von ausgewählten Metallen führten zu bemerkenswerten Aussagen über den Einfluss einzelner Anregungsprozesse auf die thermodynamischen Eigenschaften dieser Materialien.
Es ist bekannt, dass in den meisten Metallen die Gitterschwingungen (Phononen) den größten Beitrag zur Entropie liefern und entscheidenden Einfluss auf die thermische Ausdehnung haben. Die Bestimmung der Phononenfrequenzen mit ab initio Methoden gelingt am elegantesten im Rahmen der quasiharmonischen Näherung [1]. Alle mit der Bewegung von Atomen verbundenen Kräfte werden dabei aus der DFT gewonnen, zur dynamischen Matrix zusammengefasst und liefern ein Eigenspektrum für die Phononen. Mithilfe der Quantenstatistik lässt sich daraus der Schwingungsbeitrag zur freien Energie F(T,V) bestimmen. Ein systematischer Test dieses Verfahrens für eine Vielzahl von Metallen [2] ergab eine sehr gute Übereinstimmung der ab initio berechneten freien Energie mit experimentellen Datenbanken: Über einen Temperaturbereich von über 1000 K betrugen die Abweichungen meist weniger als 5 % ( ≈ 20 meV/atom). Aufgrund der hohen numerischen Genauigkeit der Studie (< 1 meV/atom) kommen für diese Restabweichungen nur zwei Gründe in Frage:
1. In der DFT arbeitet man mit einem genäherten analytischen Ausdruck für die Wechselwirkung der Elektronen. Dabei stehen LDA und GGA für die bekanntesten Näherungen, die für die Vorhersage von Materialeigenschaften auch beide getestet werden sollten. Kupfer (Abb. 1) ist ein typisches Beispiel für deren Auswirkung auf die ermittelte freie Energie: Systematische Untersuchungen am MPIE zeigen, dass die Differenz der mit den beiden Näherungen erzielten Ergebnisse (farbige Linien) es erlaubt, auf die Abweichung vom Experiment (Punkte) zu schließen.
2. Alle darüber hinausgehenden Abweichungen sind physikalischen Effekten zuzuschreiben, die mit der quasiharmonischen Näherung nicht abgedeckt werden. Dabei sind kleine Abweichungen in der freien Energie (wenige %) in abgeleiteten thermodynamischen Größen meist deutlich klarer sichtbar (Abweichungen von 10% und mehr). Diese Effekte sollen im Folgenden diskutiert werden.
Vielfalt der Anregungsprozesse in Festkörpern
In Abbildung 2 ist die Wärmekapazität von Rhodium aufgetragen. Die gestrichelten Linien geben das Ergebnis der quasiharmonischen Näherung an, wobei LDA und GGA sich nur unwesentlich unterscheiden. Die Abweichung zum Experiment (Punkte) ist vielmehr auf elektronische Anregungen zurückzuführen, die aufgrund von dessen elektronischer Struktur in Rhodium besonders stark ausgeprägt sind. Die korrekte Hinzunahme dieses Effekts in die ab initio Theorie [3] (durchgezogene Linien) liefert eine hervorragende Übereinstimmung mit dem Experiment [2].
In Abbildung 3 ist der thermische Ausdehnungskoeffizient von Aluminium zu sehen. Erneut kann die Tatsache, dass der von den quasiharmonischen Anregungen resultierende Beitrag (gestrichelte Linien) systematisch neben dem Experiment (Punkte) liegt, nicht durch Näherungen in der Elektronen-Wechselwirkung (nur GGA gezeigt) erklärt werden. In der Fachliteratur gibt es seit einigen Jahrzehnten eine Debatte darüber, ob explizite Anharmonizitäten oder die Bildung von Gitterleerstellen bei hohen Temperaturen verantwortlich sind [4]. Um beide Effekte im Rahmen der DFT mit der notwendigen Genauigkeit und Effizienz berücksichtigen zu können (durchgezogene Linie), mussten zunächst neue Methoden entwickelt werden. Darauf aufbauend hat die Forschung am MPIE jetzt ergeben, dass nur die Gitterleerstellen die Trends richtig beschreiben können.
In Abbildung 4 kann man an den experimentellen Daten erkennen, dass die Wärmekapazität von Eisen bei ca. 1000 K einen starken Anstieg aufweist. Dieser magnetische Effekt (unterhalb von TC = 1041 K ist Eisen ferromagnetisch geordnet) wird durch die quasiharmonische Näherung (gestrichelte Linie) nicht erfasst. Am MPIE wurde daher eine neue Theorie entwickelt, die basierend auf DFT und Modellüberlegungen die Bestimmung des Anteils magnetischer Anregungen an der freien Energie erlaubt [5]. Wird dieser Effekt berücksichtigt (durchgezogene Linie), liegt die theoretische Kurve unterhalb von TC nahezu perfekt auf dem Experiment.
Die gezeigten Beispiele verdeutlichen, dass nach aufwendigen Entwicklungen jetzt die Methoden vorliegen, um alle relevanten temperaturabhängigen Anregungsprozesse in Metallen parameterfrei und akkurat zu berechnen. Aufgrund der hohen numerischen Genauigkeit dieser Methoden ist es nun möglich, den Einfluss jedes einzelnen physikalischen Effekts auf die Temperaturabhängigkeit experimentell messbarer Größen zu ermitteln.
Phasenübergänge in der Formgedächtnislegierung Ni2MnGa
Damit sind jetzt die Voraussetzungen geschaffen, um die eingangs erwähnte Stabilität von Kristallstrukturen bei endlichen Temperaturen zu bestimmen. Dies sei abschließend am Beispiel der metallischen Legierung Ni2MnGa demonstriert. Für diese ist bekannt, dass sie in einer austenitischen, einer pre-martensitischen oder einer martensitischen Kristallstruktur auftreten kann. Vor einigen Jahren hat man die faszinierende Entdeckung gemacht, dass ein Werkstück aus Ni2MnGa ein Gedächtnis für seine Form besitzt: Befindet sich das Werkstück in der martensitischen Struktur kann es nach Belieben verbogen werden – sobald es durch Wärmebehandlung wieder die austenitische Kristallstruktur annimmt, wird es immer so aussehen, als wäre es nie verformt worden! Um diesen Effekt gezielt beeinflussen zu können, ist eine Vorhersage, bei welchen Temperaturen welche der drei Kristallstrukturen thermodynamisch stabil ist, wichtig. Dazu ist für jede Struktur die freie Energie F(V,T) zu bestimmen. Das Ergebnis der Analyse ist in Abbildung 5 zu sehen: Die freie Energie des Martensiten ist unterhalb von TM = 150 K am niedrigsten und die freie Energie des Austeniten ist oberhalb von TA = 240 K am niedrigsten. Ein solches, mit experimentellen Daten sehr gut übereinstimmendes Ergebnis konnte nur durch eine Kombination der Effekte von quasiharmonischen, elektronischen und magnetischen Anregungen erzielt werden [6].