Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Neutronenforschung an niederdimensionalen Materialien

Autoren
Rühm, Adrian; Major, János; Dosch, Helmut
Abteilungen

Niederdimensionale und metastabile Materialien (Prof. Dr. Manfred Rühle)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Im Rahmen der institutsübergreifenden Initiative Material- und Festkörperforschung mit Neutronen der Max-Planck-Gesellschaft betreibt das Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart an der neuen Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) in Garching bei München ein neuartiges Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer, N-REX+. Dieses Instrument bietet weltweit einzigartige Forschungsmöglichkeiten für die Untersuchung von Oberflächen, vergrabenen Grenzflächen, dünnen Filmen und komplexen Vielfach-Schichtsystemen auf der Nanoskala. Insbesondere zählen hierzu die -Kombination von Röntgen- und Neutronen-Reflektometrie sowie die neuartige SERGIS-Technik (spin-echo resolved grazing incidence scattering). Erste Experimente zur Charakterisierung von Entnetzungsmorphologien an Polymerfilmen werden in der kommenden Jahren systematisch fortgeführt. Ab Ende 2006 soll das Instrument N-REX+ auch externen Nutzergruppen zur Verfügung stehen.

Die institutsübergreifende Forschungsinitiative „Material- und Festkörperforschung mit Neutronen“ der Max-Planck-Gesellschaft

Die Abteilung Niederdimensionale und metastabile Materialien am Max-Planck-Institut für Metallforschung beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Weiterentwicklung unseres mikroskopischen Verständnisses von Materie und Materialien in eingeschränkten Geometrien, in reduzierter Dimension und in metastabilen Zuständen. Wir nutzen moderne Synchrotronstrahlungsquellen und Neutronen-Technologien sowie eine Vielfalt von Oberflächen-Charakterisierungsmethoden, um die Natur von Phasenübergängen und Fluktuationen in Materie sowie die Strukturbildung und Selbstorganisation an Oberflächen, Grenzflächen und in dünnen Filmen aufzuklären.

Einen der methodischen Schwerpunkte bei diesen Forschungsaktivitäten bildet die institutsübergreifende Forschungsinitiative Material- und Festkörperforschung mit Neutronen, welche die Max-Planck-Gesellschaft unter der Federführung der Abteilung Dosch des Max-Planck-Instituts für Metallforschung ins Leben gerufen hat. Im Rahmen dieser Forschungsinitiative wurden an der neuen Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II), welche von der Technischen Universität München in Garching bei München seit April 2005 routinemäßig betrieben wird, zwei neuartige Neutronen-Instrumente mit weltweit einzigartigen Eigenschaften und Forschungsmöglichkeiten konzipiert und aufgebaut: das Neutronen-Spin-Echo-Dreiachsenspektrometer TRISP (betrieben vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung) und das materialwissenschaftliche Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer N-REX+ (betrieben vom Max-Planck-Institut für Metallforschung).

Die zwei Instrumente decken sehr breite Energie-, Zeit- und Längenbereiche bei der Materialcharakterisierung ab. Die Betreibergruppen arbeiten in enger Kooperation zusammen, wodurch die vorhandenen Ressourcen optimal genutzt werden und durch Ideenaustausch im technischen wie auch im wissenschaftlichen Bereich die Effektivität der Arbeit maximiert wird. Weitere Max-Planck-Institute arbeiten mit den Instrumentbetreibern Hand in Hand, um die schwierigen Probleme bei den geplanten Experimenten effizient zu lösen: das Max-Planck-Institut für Polymerforschung (Mainz), das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung (Golm), das Max-Planck-Institut für Plasmaforschung (Garching), das Max-Planck-Institut für chemische Physik fester Stoffe (Dresden), sowie das Max-Planck-Institut für Eisenforschung GmbH (Düsseldorf).

Nach der Inbetriebnahme der beiden Instrumente im Jahr 2005 sollen in den nächsten fünf Jahren die ersten entscheidenden Experimente in Garching durchgeführt werden. Unter anderem werden von den beiden High-Tech-Messgeräten neue Erkenntnisse über Nanomaterialien erwartet, insbesondere über den mikroskopischen Mechanismus der Hochtemperatur-Supraleitung sowie über atomare Prozesse an Oberflächen, dünnen Filmen und inneren Grenzflächen von künstlichen Vielfach-Schichtsystemen.

Neutronen als Spione in der Nanowelt

Die an den oben genannten Max-Planck-Instrumenten genutzten Neutronen sind Grundbausteine von Atomen, genauer gesagt Atomkernen. Sie werden im Garchinger Forschungsreaktor durch die Spaltung von Uran-235-Kernen freigesetzt, das in den dafür verwendeten Brennelementen zu 98% angereichert ist (highly enriched uranium, HEU). Wie ihr Name verrät, sind Neutronen neutral, tragen also keine elektrische Ladung. Sie besitzen jedoch – gekoppelt mit ihrem Eigendrehimpuls („Spin“) – ein magnetisches Moment. Das macht sie zu einzigartigen Sonden, um zerstörungsfrei die mikroskopischen Ursachen für die sehr unterschiedlichen makroskopischen Eigenschaften verschiedener Materialsysteme zu erforschen, z.B. an einfachen Metallen, Legierungen, Keramiken, Polymeren, Flüssigkeiten, Magneten oder Supraleitern, aber auch an biologischen Membranen oder ultradünnen Einfach- oder Mehrfach-Schichtsystemen.

Ähnlich wie Licht können Neutronen auch als Wellen angesehen werden. Weil die Wellenlänge „kalter“ – das heißt relativ langsamer – Neutronen ungefähr so klein ist wie die Abstände zwischen den Atomen in „kondensierter Materie“ (d.h. in festen Körpern und Flüssigkeiten), liefern Neutronen nicht nur genau das „richtige Licht“, um das „Innenleben“ von Werkstoffen sichtbar zu machen, nämlich deren atomaren und molekularen Aufbau einschließlich aller Defekte und Fehlstellen. „Kalte“ Neutronen haben außerdem auch gerade die passende Energie, mit der sich in „kondensierter Materie“ Wechselwirkungen so anregen lassen, dass zum Beispiel die magnetische Struktur oder die innere Dynamik von Werkstoffen in Streuexperimenten mit Neutronen leicht erkennbar wird und exakt vermessen werden kann. Erst durch die Erarbeitung eines umfassenden und genauen quantitativen Verständnisses von Strukturen und Vorgängen auf atomarer und molekularer Skala lassen sich moderne Materialien mit herausragenden neuen Eigenschaften gezielt designen und herstellen.

Die Genauigkeit und Qualität der dazu erforderlichen experimentellen Untersuchungen hängt vor allem von der Stärke der Neutronenquelle ab. Die neue Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) bietet in dieser Hinsicht außergewöhnliche Möglichkeiten, die dem bislang einzigen verfügbaren Hochflussreaktor, dem Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble (Frankreich), in nichts nachstehen.

Das Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer N-REX+

Das neuartige Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer N-REX+, das im November 2005 offiziell eingeweiht wurde, bietet über den Grundmodus der Neutronenreflektometrie zur Charakterisierung des chemischen Tiefenprofils von Oberflächen, vergrabenen Grenzflächen, dünnen Filmen und Vielfach-Schichtsystemen hinaus verschiedene weitere zum Teil völlig neuartige Messmöglichkeiten:

  • Polarisationsaufgelöste Neutronenreflektometrie zur Aufklärung der magnetischen Struktur der oben genannten Systeme auf der Nanometerskala (1-100 nm);
  • Off-spekuläre Streuung zur Charakterisierung von Rauigkeitsmorphologien und von künstlichen oder selbst-organisierten Nanostrukturen (chemisch und magnetisch);
  • (Weitwinkel-)Oberflächen-Bragg-Streuung zur Charakterisierung der kristallinen Ordnung der oben genannten Systeme parallel zur Oberfläche (chemisch und magnetisch);
  • In-situ-Neutronen-Röntgen-Kontrast-Experimente, insbesondere zur Charakterisierung von irreversiblen dynamischen Prozessen wie zum Beispiel Aufrauung, Entnetzung, Schichtwachstum etc. (chemisch und magnetisch);
  • Moderne Spin-Echo-Techniken zur Realraum-Charakterisierung von bisher nicht oder nur sehr schwer experimentell zugänglichen Systemen.

Abbildung 1 zeigt das Reflektometer N-REX+: In der Abschirmburg (links im Bild) befinden sich der Neutronenleiter und der Monochromator. In der Bildmitte sieht man den Probentisch (zwischen zwei Blendensystemen). Rechts im Bild befindet sich der Detektorturm. Der ortsauflösende 2D-Detektor befindet sich in der blauen Abschirmbox.

Am Probentisch kann seitlich die in Abbildung 2 gezeigte kompakte Röntgen-Einheit montiert werden, welche eine Cu-Röntgenröhre und röntgenoptische Komponenten enthält. Der Röntgendetektor wird in einer annähernd baugleichen Einheit auf der gegenüberliegenden Seite des Probentisches befestigt. Die beiden Röntgenkomponenten weisen alle erforderlichen internen Freiheitsgrade auf, um Reflektivitätsmessungen an Proben durchzuführen, ohne diese zu bewegen, sodass Röntgen- und Neutronen-Experimente zeitgleich und ohne wechselseitige Interferenz durchgeführt werden können. Dies ist insbesondere für die Untersuchung irreversibler dynamischer Prozesse sehr interessant. Eine für solche In-situ-Neutronen-Röntgen-Kontrast-Experimente geeignete Probenkammer ist in Abbildung 3 gezeigt. Sie weist zwei Aluminium-Fenster für den Neutronenstrahl und zwei Kapton-Fenster für den Röntgenstrahl auf.

Derzeit befindet sich das Reflektometer N-REX+ in der Inbetriebsetzungsphase, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 abgeschlossen werden soll. Im Rahmen der Inbetriebsetzung wurden jedoch bereits erste Messungen mittels konventioneller Neutronenreflektometrie durchgeführt, um das Instrument unter realen Experimentierbedingungen zu testen und für den regulären Nutzer-Betrieb zu optimieren, der noch im Jahr 2006 beginnen soll.

Erste Messungen an N-REX+

Als erstes Testexperiment an N-REX+ wurden im Rahmen eines Projekts zur Entnetzung (dewetting) von Polymerfilmen zunächst erste Reflektivitätsmessungen an 50 bis 500 Å dicken dPS-Filmen (dPS = deuteriertes Polystyrol) auf Siliziumsubstrat durchgeführt. Die Oszillationen in den Reflektivitätskurven erlauben eine quantitative Bestimmung der Dicke des Polymerfilms während des Entnetzungsprozesses. Nach kurzer Zeit in Lösungsmittel-Atmosphäre (Toluol-Dampf) schwillt der Polymerfilm zunächst aufgrund der Aufnahme von Lösungsmittelmolekülen in den Film an und der Film wird flüssig. Bei längerer Einwirkung des Lösungsmittels auf den Polymerfilm führt der darauf folgende Entnetzungsprozess dazu, dass sich anstelle des zunächst geschlossenen Polymerfilms eine Inselmorphologie auf der Silizium-Substratoberfläche ausbildet [1].

Die bei der Entnetzung aus dem Polymerfilm entstehende Inselmorphologie kann als Template für die Erzeugung selbstorganisierter Nanostrukturen verwendet werden. Dies ist insbesondere dann auch technologisch hochinteressant, wenn es gelingt, die Morphologie durch externe Parameter gezielt einzustellen. Ein Verständnis der hier relevanten Zusammenhänge ist das Ziel des oben genannten Projekts zur Entnetzung von Polymerfilmen, wobei insbesondere der Einfluss derjenigen Wechselwirkungen auf die durch den Entnetzungsprozess entstehende Morphologie untersucht werden soll, die in so genannten Block-Kopolymer-Systemen zur Mikrophasenseparation führen.

In einem Diblock-Kopolymer sind zwei unterschiedliche lineare Polymerketten an einer Stelle miteinander kovalent verbunden. Aufgrund der abstoßenden Wechselwirkungen zwischen den beiden Polymerbestandteilen separieren sich die beiden Kettenabschnitte im thermischen Gleichgewicht voneinander, was je nach Temperatur und Kettenlängen-Verhältnis der beiden Komponenten zu verschiedensten Morphologien führen kann. Im Fall gleich langer Ketten bildet sich eine lamellare Struktur, im Fall stark unterschiedlich langer Ketten bilden sich kugelförmige Mizellen, etc. Es ist nun anzunehmen, dass der Effekt der Mikrophasenseparation einen Einfluss auf die Inselmorphologie hat, die bei der Entnetzung solcher komplexen Polymersysteme entsteht. Darüber hinaus ist ein Einfluss der Mikrophasenseparation auf die Geschwindigkeit zu erwarten, mit der sich die Inselmorphologie ausbildet. Diesen Fragestellungen sollen an N-REX+ vor allem mithilfe von Reflektometrie mit Neutronen-Röntgen-Kontrast-Variation sowie der SERGIS-Methode (spin-echo resolved grazing incidence scattering), einer jungen Variante der GISANS-Methode (grazing incidence small-angle neutron scattering), systematisch angegangen werden. Die SERGIS-Methode wird im folgenden Abschnitt näher erläutert.

Die Ausnutzug des Neutronen-Spin-Echos in der Reflektometrie

Eine grundlegende Eigenschaft von Neutronen, der Spin, wird in Streuexperimenten mit Neutronen auf zweierlei Weise benützt: Das an den Spin gekoppelte magnetische Moment des Neutrons kann einerseits mit internen lokalen Magnetfeldern in Materie direkt wechselwirken, wodurch bei der polarisationsaufgelösten Neutronen-Reflektometrie (PNR) Informationen über die magnetische Struktur des untersuchten Materials gewonnen werden können. Andererseits kann bei der Untersuchung nicht-magnetischer Materialien der Spin des Neutrons als experimentelles Hilfsmittel benutzt werden, um deren (chemische) Struktur bzw. Dynamik zu vermessen. Der zentrale Ansatz dabei ist die so genannte Neutronen-Spin-Echo-Analyse, die in der Neutronen-Spin-Echo-Spektroskopie (NSE) seit längerem verwendet wird, um die grundlegende Beschränkung von Neutronenexperimenten zu umgehen, die aus den insbesondere im Vergleich zu Synchrotronquellen relativ niedrigen Neutronenflüssen resultiert, die an heutigen Neutronenquellen verfügbar sind. Mithilfe moderner Spin-Echo-Methoden können auch dann noch aussagekräftige Messdaten gewonnen werden, wenn die Anforderungen an die experimentelle Auflösung in Raum oder Zeit so hoch sind, dass sie mit konventionellen Neutronen-Streumethoden aufgrund des limitierten Neutronenflusses nicht mehr erfüllbar wären.

In der spektroskopischen NSE wird ein beim Streuprozess auftretender Energieübertrag zwischen Probe und Neutron mithilfe von Larmor-Präzessionen des Neutrons in Magnetfeld-Regionen vor und nach der Probe auf eine Spin-Depolarisation des zuvor vollständig polarisierten Neutronenstrahls umkodiert. Diese Depolarisation wird dann mithilfe eines Polarisationsanalysators quantitativ bestimmt. Die Abhängigkeit der Restpolarisation als Funktion der Stärke und Länge der Präzessionsfelder ergibt die Zeit-Autokorrelationsfunktion der untersuchten Probe bei einem bestimmten Impulsübertrag des Streuprozesses. Die Parameter der Präzessionsfelder werden üblicherweise in der bei dieser Messtechnik entscheidenden Größe zusammengefasst: der so genannten Spin-Echo-Zeit.

HIER MUSS EINE SCHWIERIGE FORMEL REIN !!

Hierbei ist B die magnetische Induktion, L die Länge der Magnetfeldbereiche, λ die Neutronenwellenlänge, m die Neutronenmasse, γ das gyromagnetische Verhältnis des Neutrons, und h das Plancksche Wirkungsquantum. Die Spin-Echo-Zeit τ bestimmt beim inelastischen Streuprozess mit Energieübertrag ħω den Präzessionswinkel-Unterschied Φ (beim Durchlaufen der beiden Magnetfeldregionen) und damit die Polarisation P gemäß

P = cos Φ = cos ωτ .

Ein im Vergleich zur spektroskopischen NSE-Methode jüngerer Ansatz ist der Einsatz von Spin-Echo-Methoden für die Strukturaufklärung (wobei man hier auf elastische Streuprozesse an nicht-magnetischen Proben beschränkt ist). Hierbei wird im Gegensatz zur NSE-Methode nicht der Energie-, sondern der Impulsübertrag des Streuprozesses in eine Spin-Depolarisation umkodiert. Auch hier gilt wieder, dass man im Vergleich zu konventionellen Neutronen-Streumethoden (SANS bzw. GISANS) mit den Spin-Echo-Varianten „Spin-Echo-Resolved Small-Angle-Neutron-Scattering“ (SESANS) bzw. „Spin-Echo-Resolved Grazing-Incidence-Scattering“ (SERGIS) schneller bzw. besser aufgelöste Messdaten gewinnen kann.

Am Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer N-REX+ soll nun erstmals auch die SERGIS-Methode [2, 3] routinemäßig zum Einsatz kommen. Mit Hilfe der (off-spekulären) Streuung von Neutronen an Oberflächen oder internen Grenzflächen unter streifenden Einfallswinkeln kann man dabei Informationen über die strukturellen Eigenschaften der Probe parallel zur Oberfläche (In-plane-Struktur) gewinnen. Die Umkodierung vom Impulsübertrag in eine Depolarisation wird hier mit Hilfe von Magnetfeld-Regionen mit schräg gestellten Feldgrenzen erreicht (siehe Abb. 4). Die hohen Anforderungen an die Feldhomogenität und die Genauigkeit der Magnetfeld-Begrenzungsflächen sind allerdings schwer zu erfüllen. Stattdessen wird daher am Instrument N-REX+ ein Nullfeld-Spin-Echo-System eingesetzt, das zu dem oben beschriebenen Basissystem äquivalent ist, bei dem aber die ausgedehnten homogenen Magnetfeldregionen durch je zwei Resonanz-Spulensysteme (NRSE, neutron-resonance spin-echo) ersetzt sind. Der Ausdruck „Nullfeld“ deutet dabei darauf hin, dass der Raum zwischen den beiden Resonanz-Spulensystemen magnetfeldfrei ist (das Erd-Magnetfeld und andere Störfelder müssen hierbei gut abgeschirmt werden). Bei den Resonanz-Spulensystemen handelt es sich um geeignete Kombinationen von Magnetspulen, die ein zeitlich konstantes Magnetfeld und ein Hochfrequenz-Magnetfeld erzeugen. Diese beiden Magnetfelder sind parallel zu den schräg angeordneten Feldgrenzen ausgerichtet und stehen senkrecht aufeinander. Ein sehr großer Vorteil der NRSE-Variante einer SERGIS-Anordnung ist dabei die einfache Drehbarkeit der Feldgrenzflächen.

Als Analogon zur Spin-Echo-Zeit τ bei der NSE-Spektroskopie beschreibt bei der SERGIS-Methode (Abb. 5) die so genannte Spin-Echo-Länge δ die Magnetfeldbereiche, die hier insbesondere auch von dem Kippwinkel η0 der Magnetfeldbegrenzungen abhängig ist:

FORMEL

Bei der Streuung von Neutronen an einer Oberfläche unter streifenden Winkeln mit einem lateralen Impulsübertrag qy gilt hier für den Präzessionswinkel-Unterschied Φ (beim Durchlaufen der beiden Magnetfeldregionen) bzw. die Polarisation P:

P = cos Φ = cos qyδ .

Dabei wurde angenommen, dass Einfalls- und Ausfallswinkel übereinstimmen und durch konventionelle Kollimation mittels Blenden festgelegt werden. Andere Anordnungen sind möglich, aber prinzipiell kann mit Hilfe der SERGIS-Methode nur die Probenstruktur in einer Raumrichtung in eine Depolarisation umkodiert werden. Entsprechend dem obigen Ausdruck für die Restpolarisation P als Funktion der Spin-Echo-Länge δ identifiziert man dann P(δ) als Orts-Autokorrelationsfunktion der untersuchten Probe entlang der Empfindlichkeitsrichtung der SERGIS-Anordnung. In SERGIS-Experimenten kann die experimentelle Auflösung dabei ohne Intensitätseinbußen allein durch eine Erhöhung der Magnetfeldstärke verbessert werden. Im Gegensatz dazu wäre bei konventionellen Neutronen-Streuexperimenten eine entsprechende Verengung der Kollimatoren erforderlich, die stets mit einem deutlichen Intensitätsverlust verbunden ist.

Ein wichtiger Unterschied zu konventionellen Neutronenstreumethoden wie SANS oder GISANS ist, dass bei diesen Methoden die in einen kleinen Raumwinkelbereich gestreute Intensität über einen dynamischen Bereich von vielen Größenordnungen gemessen werden muss. Der entscheidende Vorteil der SERGIS-Methode ist dagegen, dass hier die Polarisation des gesamten gestreuten Neutronenstrahls gemessen wird, d.h. dass das eigentliche Detektorsignal stets annähernd 100% der einfallenden Strahlintensität ist. Das Streusignal ist also während einer Messung stets konstant und es wird nur dessen Polarisation gemessen.

Erste Tests der SERGIS-Methode

In den letzten Jahren haben wir die SERGIS-Methode in einem „proof-of-principle“-Experiment am Hahn-Meitner-Institut (HMI, Berlin) erstmals erfolgreich getestet, sodann ein dediziertes SERGIS-System für das „Evanescent-Wave Reflecto-Diffractometer“ EVA am Institut Laue-Langevin (ILL, Grenoble) entwickelt und dieses schließlich an verschiedenen wissenschaftlich interessanten Probensystemen getestet. Im Folgenden werden wir über diese Tätigkeit berichten.

Für eine erste Demonstration der SERGIS-Methode stand am HMI mit dem NRSE-Dreiachsenspektrometer FLEX/V2, nach entsprechender Modifikation, ein geeignetes Instrument zur Verfügung. Als Testprobe wurde ein kommerziell erhältliches optisches Reflektionsgitter verwendet (3600 parallele Linien/mm auf einer Goldoberfläche). An einem konventionellen Reflektometer kann diese laterale Struktur nur schwer vermessen werden. Im SERGIS-Experiment jedoch wurden die Gitterlinien parallel zum Neutronenstrahl ausgerichtet und ohne jegliche Kollimation in der Richtung senkrecht zu den Gitterlinien das Relief des Gitters in dieser Richtung aus der Depolarisation des (lediglich vertikal kollimierten) Gesamtstrahls bestimmt (siehe Abb. 6). Damit war der Nachweis erbracht, dass das SERGIS-Prinzip funktioniert, mit dessen Hilfe man ohne geometrische Winkelauflösung in einer bestimmten Raumrichtung (d.h. ohne Blenden und ohne ortsauflösenden Detektor) die Struktur einer Probe in dieser Richtung ausmessen kann. Die Ergebnisse erscheinen dabei im Realraum als Paarkorrelationsfunktion g(δ) (genauer: Patterson-Funktion), anders als sonst bei Streumethoden üblich im reziproken Raum als Strukturfaktor S(q).

Angesichts dieses vielversprechenden Ergebnisses wurde der Beschluss gefasst, das von unserer Abteilung am ILL betriebene Neutronen-Reflektometer EVA mit einer SERGIS-Ergänzung zu versehen. Hierzu wurde eine Kooperation mit internationalen Experten auf diesem Gebiet in der Form eines Forschungskonsortiums gegründet, an dem folgende Institute beteiligt waren: das Los Alamos National Laboratory (LANL, Los Alamos), das Argonne National Laboratory (ANL, Argonne), das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung (Stuttgart), das Institut Laue-Langevin (Grenoble) und das Max-Planck-Institut für Metallforschung (Stuttgart).

Bei der Konzeption des im Rahmen dieser Kooperation entwickelten SERGIS-Setups, welcher in Abbildung 7 abgebildet ist, wurde darauf geachtet, dass die die Magnetspulen durchquerenden Neutronen nicht von den Spulendrähten gestreut werden und auch bei großen Kippwinkeln bis 45° der Neutronenstrahl noch nicht durch die Spulenbreite beschnitten wird. Dieses Spulensystem wurde zunächst getestet, wozu zunächst Transmissionsexperimente (NRSE-SESANS) an verdünnten wässrigen Kolloiden von Latexkugeln mit verschiedenen bekannten Durchmessern (160 nm - 300 nm) durchgeführt wurden. Diese Tests, deren Ergebnisse in Abbildung 8 dargestellt sind, verliefen sehr erfolgreich und bestätigten, dass die SERGIS-Kodierung bei dieser Anlage sehr zuverlässig funktioniert.

In einem weiteren Transmissionsexperiment wurde eine selbstorganisierte Struktur an einem dünnen anodisierten Aluminiumoxid-Film untersucht. Abbildung 9 zeigt eine Atomkraftmikroskop- (AFM-)Aufnahme von dieser Probe, Abbildung 10 die mittels NRSE-SESANS bestimmte laterale Korrelationsfunktion. Es war bekannt, dass die selbstorganisierte Röhrenstruktur der Probe keine weitreichende Periodizität aufweist, jedoch konnte die Korrelationslänge aus (lokalen) AFM-Daten nicht bestimmt werden. Aus den SESANS-Daten in Abbildung 10 ließ sich jedoch ohne weiteres eine Korrelationslänge von etwa 400 nm ermitteln.

Nach diesen erfolgreichen Transmissionsexperimenten (SESANS) wurden schließlich auch Experimente in Reflektionsgeometrie (SERGIS) an diversen Probensystemen durchgeführt. Als Beispiel seien hier nur Experimente an entnetzten dünnen Polymerfilmen erwähnt. Für die Untersuchung von Entnetzungsphänomenen an Polymersystemen eignen sich alternative Methoden wie AFM oder Röntgenstreuung nur bedingt, da sie im Gegensatz zur Neutronenstreuung (an geeignet deuterierten Proben) nicht zwischen den Polymerbestandteilen unterscheiden können. Die Datengewinnung mit der klassischen GISANS-Methode (grazing incidence small angle neutron scattering) ist allerdings aufgrund der dabei erforderlichen Strahlkollimation sehr zeitaufwendig. Die systematische Verwendung der alternativen SERGIS-Methode bietet hierbei einen deutlichen Vorteil, der sich insbesondere für die Untersuchung dynamischer Prozesse als entscheidend herausstellen könnte. Als Beispiel sind in Abbildung 11 die Ergebnisse von SERGIS-Experimenten an drei entnetzten dünnen Polymerfilmen gezeigt (freundlicherweise zur Verfügung gestellt von P. Müller-Buschbaum, Technische Universität München). Die mittels SERGIS bestimmten Höhen-Korrelationsfunktionen eines Homopolymer-Systems, einer Polymermischung bzw. eines Diblock-Kopolymers weisen deutliche Unterschiede auf.

Als nächster Schritt soll der am Instrument EVA am ILL in Grenoble getestete SERGIS-Aufsatz am Neutronen-Röntgen-Kontrast-Reflektometer N-REX+ am Garchinger Forschungsreaktor installiert werden, welches für einen routinemäßigen Einsatz der SERGIS-Methode konzipiert ist. Dabei ist auch eine Weiterentwicklung des SERGIS-Systems vorgesehen, weil noch nicht alle Anlagenparameter ganz zufriedenstellend sind. Insbesondere sind hier die maximale erzielbare Spin-Echo-Länge, die Streuwinkelakzeptanz der Spulen sowie Polarisationsverluste bei größeren Kippwinkeln η0 zu nennen.

Mit Hilfe der Spin-Echo-Kodierung ermöglichen SESANS und SERGIS die Charakterisierung einer Probenstruktur auf lateralen Längenskalen im Bereich von wenigen Nanometern bis zu einigen Mikrometern, wobei sowohl Volumenproben als auch Oberflächen und interne Grenzflächen untersucht werden können. Ein entscheidender Vorteil dieser Methoden ist, dass Strukturinformationen ohne die Streuintensität beeinträchtigende Kollimation gewonnen werden können. Dies eröffnet insbesondere bei der Untersuchung von niedrig-dimensionalen Systemen mit geringer Streuintensität (wie dünnen Filmen, Oberflächen und internen Grenzflächen) neue Möglichkeiten, so dass sich neuartige, mit konventionellen Streumethoden nicht zugängliche Informationen gewinnen lassen. Wir haben in diesem Artikel das Potential dieser Methoden anhand verschiedener Beispiele aufgezeigt: Die vorgestellten NRSE-SESANS-Experimente an einem dünnen anodisierten Aluminiumoxid-Film lieferten eine außerordentlich saubere Paarkorrelationsfunktion der selbstorganisierten Röhrenstruktur. Darüber hinaus konnte mit Hilfe von NRSE-SERGIS-Experimenten die unterschiedlichen Inselmorphologien von dünnen entnetzten Polymerfilmen (Homopolymer, Polymergemisch bzw. Block-Kopolymer) erfolgreich charakterisiert werden. Diese Experimente sollen in nächster Zeit an N-REX+ im Rahmen systematischer Untersuchungen des mikroskopischen Entnetzungsprozesses fortgeführt werden, mit dem Fernziel, die dabei entstehenden Nanostrukturen gezielt steuern zu können.

Die Art und Vielfalt wissenschaftlicher Probleme, die mit diesen zu den konventionellen „reciprocal space“-Streumethoden komplementären Techniken gewinnbringend untersucht werden können, sind derzeit noch Gegenstand von weitergehenden Untersuchungen und Diskussionen, beinhalten aber in jedem Fall Oberflächen- und Grenzflächenmorphologien (wie Inseln, Facetten, Kapillarwellen, etc.) aus dem Bereich der anorganischen Systeme bis hin zu biologischen Membranen.

Originalveröffentlichungen

P. Müller-Buschbaum, E. Bauer, O. Wunnicke, and M. Stamm:
The control of thin film morphology by the interplay of dewetting, phase separation and microphase separation.
Journal of Physics: Condensed Matter 17, S363-S386 (2005).
G. P. Felcher, S. G. E. te Velthuis, J. Major, H. Dosch, C. Anderson, K. Habicht, and T. Keller:
Spin-echo resolved grazing incidence scattering (SERGIS) of cold neutrons.
In: Advances in neutron scattering instrumentation, (Eds.) I. S. Anderson and B. Guérard, Proceedings of SPIE Vol. 4785. SPIE Optical Engineering Press, Bellingham, WA, USA, 2002, pp. 164-174.
J. Major, H. Dosch, G. P. Felcher, K. Habicht, T. Keller, S. G. E. te Velthuis, A. Vorobiev, and M. Wahl:
Combining of neutron spin echo and reflectivity: a new technique for probing surface and interface order.
Physica B 336, 8-15 (2003).
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