Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Kritische Casimirkraft

Autoren
Bechinger, Clemens; Dietrich, Siegfried
Abteilungen

Weiche Materie (Prof. Dr. Clemens Bechinger)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Werden Flüssigkeitsmischungen nahe ihres kritischen Punktes lateral eingeschränkt, führt dies zu kritischen Casimirkräften auf deren Berandungen. Hervorgerufen werden solche Kräfte durch lokale Konzentrationsschwankungen, deren Ausdehnungen in der Nähe des kritischen Punktes divergieren und somit zu einer langreichweitigen Wechselwirkung führen. Kritische Casimirkräfte reagieren einerseits äußerst empfindlich auf kleinste Temperaturänderungen, andererseits lässt sich sogar das Vorzeichen dieser Wechselwirkung durch Veränderungen in den Oberflächeneigenschaften der Berandungen variieren.

Im Jahr 1948 machte der niederländische Physiker Hendrik Casimir eine zunächst erstaunliche Entdeckung: Laut seinen theoretischen Vorhersagen sollten sich zwei im Abstand L parallele, elektrisch neutrale Metallplatten im Vakuum und am absoluten Nullpunkt gegenseitig anziehen [1]. Ursache für die mittlerweile nach ihrem Entdecker benannte Casimirkraft ist das Heisenberg'sche Unschärfeprinzip. Dieses besagt, dass selbst am absoluten Temperaturnullpunkt, an dem jede thermische Bewegung eingefroren ist, quantenmechanische Fluktuationen auftreten. Im Bereich zwischen den Metallplatten macht sich dies durch spontane zeitliche Schwankungen des elektromagnetischen Feldes bemerkbar, welches zwischen den Platten hin und her reflektiert wird. Ähnlich wie bei einer schwingenden Saite, können sich dann nur solche Feldschwankungen ausbilden, die an beiden Oberflächen einen Knoten besitzen. Im Außenraum existieren dagegen keinerlei Beschränkungen hinsichtlich der Fluktuationsmoden. Die Differenz der Modenzahl des Feldes zwischen Innen- und Außenraum führt schließlich zur Casimirkraft, die neben der Fläche A der Platten nur von fundamentalen Größen wie dem Planck'schen Wirkungsquantum und der Lichtgeschwindigkeit c abhängig ist:

Vom Vakuum zu Flüssigkeiten

Obwohl der Casimireffekt, der mittlerweile von mehreren Gruppen experimentell bestätigt wurde, von rein quantenmechanischer Natur ist, existiert ein hierzu klassisches Pendant. Fisher und de Gennes wiesen darauf hin, dass Konzentrationsschwankungen in einer geometrisch eingeschränkten Flüssigkeitsmischung eine ganz ähnliche Wirkung wie die quantenmechanischen Fluktuationen des Vakuums besitzen [2]. Demnach sollte auf zwei zueinander parallele Oberflächen, die in eine Flüssigkeitsmischung eingetaucht sind, ebenfalls eine attraktive Kraft wirken. Da die Konzentrationsfluktuationen in der Nähe des kritischen Punktes, bei dem eine makroskopische Phasenseparation der Mischung auftritt, besonders stark und langreichweitig sind, sollte dort die Anziehung der Oberflächen besonders groß sein. Bereits vor einigen Jahren wurden erste Hinweise für die Existenz solcher kritischer Casimirkräfte in dünnen Filmen aus 4He gefunden [4]. In diesen Experimenten wurde zunächst ein dünner Film von 4He auf eine Kupferoberfläche adsorbiert. Wird die Temperatur in die Nähe der kritischen Temperatur abgekühlt, an der ein Übergang von der normalfluiden in die superfluide Phase auftritt, so führt die auf die Oberfläche des Filmes einwirkende kritische Casimirkraft zu einer messbaren Verringerung dessen Dicke.

Attraktive und repulsive kritische Casimirkräfte

Theoretisch werden sowohl attraktive als auch repulsive kritische Casimirkräfte vorhergesagt. Das Vorzeichen der Kraft hängt davon ab, ob die beiden Oberflächen, an denen die Kräfte angreifen, die gleiche Flüssigkeitskomponente (z.B. Wasser) bevorzugen oder nicht [3]. Diese Präferenz lässt sich als symmetrische oder asymmetrische Randbedingungen in Rechnung stellen und legt die Konzentration der Mischung in unmittelbarer Nähe der Platten fest. Die Stärke und die Reichweite der kritischen Casimirkraft nehmen kontinuierlich zu, je weiter man sich der kritischen Temperatur TC nähert. Dies ist unmittelbar einsichtig, da bei Annäherung an TC die Korrelationslänge der Fluktuationen divergiert und damit zunehmend mehr Konzentrationsmoden zwischen den Oberflächen unterdrückt werden.

Universelle Skalenfunktionen

Mit Methoden der Renormierungsgruppentheorie kritischer Phänomene ergibt sich, dass bei kritischer Konzentration die kritische Casimirkraft FC,|| zwischen zwei planparallelen Platten folgende Skalenform annimmt: FC,|| = kBTAL-3θ||(L/ξ), wobei ξ = ξ0(1-T/Tc)-v die Korrelationslänge im unbeschränkten Volumen ist. Die Amplitude ξ0 ist eine mikroskopische Längenskala. Der Exponent ν und die Skalenfunktion θ|| sind universelle Größen und werden bestimmt durch die Raumdimension (d=3) und die innere Symmetrie des Ordnungsparameters. Für klassische binäre Flüssigkeiten ist dies die Ising Universalitätsklasse mit ν = 0,63. Die Skalenfunktion θ|| hängt zusätzlich noch von den Randbedingungen für den Ordnungsparamter an den beiden Wänden ab. Für die hier betrachteten Flüssigkeiten ist θ|| negativ (positiv) bei gleicher (ungleicher) Präferenz der Wände für die beiden Spezien der binären Mischung. Für große Skalenargumente fällt die Skalenfunktion auf Null ab: θ||(x→∞) = 0. Mit verschiedenen Methoden der Statistischen Physik ist es gelungen, die Skalenfunktionen für beide Randbedingungen zuverlässig zu berechnen [10].

Das kritische CasimirpotenZial ΦC einer Kugel mit Radius R im Abstand z < R von einer Wand (siehe Abb. 1) nimmt die Skalenform ΦC = kBTRz-1 θ (z/ ξ) an, wobei sich die universelle Skalenfunktion θ durch ein geeignetes Integral über θ|| ausdrücken lässt. Die durchgezogenen Linien in Abbildung 2 sind auf diese Weise parameterfrei bestimmt worden. Das PotenZial ΦC tritt additiv zu den PotenZialbeiträgen hinzu, die durch andere effektive Kräfte verursacht werden (Elektrostatik, Gravitation, äußere Kräfte, etc.). Auf diese Weise entsteht ein effektives GesamtpotenZial Φ.

Messung ultrakleiner Kräfte

Um kritische Casimirkräfte direkt zu bestimmen, wird ein empfindliches Verfahren benötigt, welches die Messung von sehr kleinen Kräften in Flüssigkeiten ermöglicht. Eine elegante, weil berührungsfreie Methode ist die evaneszente Lichtstreuung (total internal reflection microscopy, TIRM) wie sie in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist [6]. Durch Reflektion eines Laserstrahls knapp oberhalb des kritischen Winkels wird an der Oberfläche eines Glasprismas ein evaneszentes Lichtfeld erzeugt. Dessen Intensität IEV fällt senkrecht zur Wand exponenZiell ab. Befindet sich ein kolloidales Teilchen innerhalb der Abklinglänge des abklingenden Felds, so emittiert es Streulicht, aus dessen Intensität IEV der Teilchenabstand z vor der Wand berechnet werden kann. Da sich das Kolloid in einer Flüssigkeit befindet, vollführt es vor der Wand eine Brown'sche Bewegung, in deren Verlauf z permanent schwankt. Aus der Häufigkeit des Partikel-Wand-Abstands P(z) lässt sich das WechselwirkungspotenZial zwischen Kugel und Wand als Funktion von z bestimmen.

Als Flüssigkeit wurde eine Mischung aus ca. 70% Wasser und 30% Lutidin gewählt. Das System liegt unterhalb seines kritischen Punkts – bei ca. 34 °C – als homogene, klare Lösung vor. Oberhalb dieser Temperatur findet dagegen eine Entmischung in eine wasserreiche und eine lutidinreiche Phase statt. Dabei erfolgt dieser Übergang nicht schlagartig sondern kündigt sich unterhalb des kritischen Punktes, d.h. in der homogenen Mischung, dadurch an, dass dort starke lokale Konzentrationsfluktuationen auftreten. Abbildung 2 zeigt die experimentell beobachtete temperaturabhängige kritische Casimirwechselwirkung eines Kolloidteilchens vor einer Wand und nahe TC [5]. In Abbildung 2a sind sowohl Teilchen als auch Wand hydrophil. Damit zeigen beide Oberflächen eine Bevorzugung für Wassermoleküle und es werden attraktive kritische Casimirkräfte beobachtet. Für ein hydrophobes Kolloidteilchen (Abb. 2b) resultieren dagegen repulsive Kräfte. Die durchgezogenen Linien stellen die Resultate parameterfreier Rechnungen dar, die im Rahmen des dreidimensionalen Ising-Modells für eine Kugel-Wand-Geometrie erhalten wurden.

Strukturierte Substrate

Die Abhängigkeit kritischer Casimirkräfte von den Oberflächeneigenschaften der Berandungen lässt sich ausnützen, um kolloidale Teilchen auf einem Substrat anzuordnen [8]. Solche zweidimensionalen Kristalle sind u.a. als photonische Kristalle oder Biosensoren von großem Interesse. Hierzu wird zuächst eine Glasoberfläche lateral in ihren Oberflächeneigenschaften so strukturiert, dass Bereiche mit einer Präferenz für Lutidin und für Wasser entstehen. Aufgrund kritischer Casimirkräfte werden Kolloidteilchen dann genau an den Bereichen lokalisiert, wo das Substrat die gleiche Adsorptionspräferenz wie die Teilchen aufweist [7]. Die Symbole in Abbildung 3 zeigen experimentell bestimmte, laterale Wechselwirkungspotentiale eines Teilchens auf einem streifenförmigen Substrat, welche analog zu oben eine starke Temperaturabhängigkeit aufweisen. Die durchgezogenen Linien sind theoretische Vorhersagen, welche in ausgezeichneter Übereinstimmung mit den Experimenten sind [9].

Mögliche Anwendungen kritischer Casimirkräfte

Da kritische Casimirkräfte nicht an bestimmte Materialien bzw. feste Längenskalen gebunden sind, handelt es sich um ein sehr allgemeines Phänomen, welches zunächst von grundsätzlichem Interesse ist. Zusätzlich können kritische Casimirkräfte aber auch von praktischem Nutzen sein. So wird etwa bei der Miniaturisierung mechanischer Bauteile, z.B. in Form von Mini-Getrieben oder -Kupplungen, häufig beobachtet, dass diese nicht mehr frei beweglich sind sondern einzelne Bauteile aneinander haften. Hierfür werden attraktive quantenelektrodynamische Casimirkräfte verantwortlich gemacht. Denkbar wäre, diese durch repulsive kritische Casimirkräfte zu neutralisieren. Dies ließe sich erreichen, indem solche mikromechanischen Bauteile in einer Flüssigkeitsmischung nahe am kritischen Punkt betrieben werden. Obwohl aufgrund von viskoser Reibung die Drehzahl eines Mikromotors in einer Flüssigkeit reduziert wird, bietet der Betrieb in einer Flüssigkeit durchaus auch Vorteile: Störende Vibrationen würden damit schnell ausgedämpft, was für bestimmte Anwendungen von Vorteil wäre.

Originalveröffentlichungen

H. B. G. Casimir:
On the attraction between two perfectly conducting plates.
Proceedings of the Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen B 51, 793-796 (1948).
M. E. Fisher, P.-G. de Gennes:
Wall phenomena in a critical binary mixture.
Comptes Rendus de l'Académie des Sciences Paris B 287, 207-209 (1978).
A. Gambassi, C. Hertlein, L. Helden, S. Dietrich, C. Bechinger:
The critical Casimir effect: universal fluctuation-induced forces at work.
Europhysics News 40, 18-22 (2009).
R. Garcia, M. H. W. Chan:
Critical Fluctuation - Induced Thinning of 4He Films near the superfluid.
Physical Review Letters 83, 1187-1190 (1999).
C. Hertlein, L. Helden, A. Gambassi, S. Dietrich, C. Bechinger:
Direct measurement of critical Casimir forces.
Nature 451, 172-175 (2008).
D. C. Prieve:
Measurement of colloidal forces with TIRM.
Advances in Colloid and Interface Science 82, 93-125 (1999).
F. Soyka, O. Zvyagolskaya, C. Hertlein, L. Helden, C. Bechinger:
Critical Casimir forces in colloidal suspensions on chemically patterned surfaces.
Physical Review Letters 101, 208301 (2008).
M. Sprenger, F. Schlesener, S. Dietrich:
Forces between chemically structured substrates mediated by critical fluids.
Journal of Chemical Physics 124, 134703 (2006).
M. Tröndle, S. Konrat, A. Gambassi, L. Harnau, S. Dietrich:
Normal and lateral critical casimir forces between colloids and patterned substrates.
Europhysics Letters 88, 40004 (2009).
O. Vasilyev, A. Gambassi, A. Maciolek, S. Dietrich:
Monte Carlo simulation results for critical Casimir forces.
Europhysics Letters 80, 60009 (2007).
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