Forschungsbericht 2008 - MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht

Die neue Generation Europäischer Freihandelsabkommen: Ansätze für einen umfassenden Interessenausgleich im Immaterialgüterrecht?

Autoren
Grosse Ruse-Khan, Henning
Abteilungen

Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht (Prof. Dr. Dres. h.c. Joseph Straus)
MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München

Zusammenfassung
Der globale Schutz geistigen Eigentums wird durch immer mehr Freihandelsabkommen ausgeweitet. Vor allem Entwicklungsländer werden zu immer stärkerem Rechtsschutz verpflichtet, ohne dass ausreichend Rücksicht auf ihre besonderen Interessen genommen wird. Die neuen europäischen Freihandelsabkommen beanspruchen dagegen, Handelspartnerschaften mit dem Ziel nachhaltiger Entwicklung zu begründen. Bieten sie neue Ansätze für einen fairen Ausgleich zwischen privaten Rechten und den Interessen der Allgemeinheit in Entwicklungsländern? Geben sie Anregungen zur Reform des multilateralen Schutzsystems?

Der Schutz geistigen Eigentums bildet seit Gründung der World Trade Organisation (WTO) ein zentrales Element der Weltwirtschaftsordnung. Einen umfassenden und global einheitlichen Rechtsschutz verlangten vor allem Staaten mit starken Hochtechnologiesektoren, die Nachahmungen oder Kopien im Ausland unterbinden wollten. Besonders den Entwicklungsländer war dagegen daran gelegen, sich möglichst weite Spielräume bei der Ausgestaltung von Immaterialgüterrechtsschutz zu bewahren: So soll immaterialgüterrechtlicher Schutz zwar technologischen Fortschritt fördern, aber gleichzeitig Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Interessen wie in der Gesundheitspolitik nicht behindern. Das WTO-Abkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS) spiegelt diese unterschiedlichen Interessenlagen wider. TRIPS wird allgemein als Konzession der Entwicklungsländer an die Industriestaaten im weiteren Kontext des WTO-Rechts gesehen. Aber das Abkommen enthält auch Vorschriften, die Handlungsspielräume bei seiner Umsetzung eröffnen.

Der internationale Schutz geistigen Eigentums ist nicht bei TRIPS stehen geblieben. Immer mehr bilaterale und regionale Freihandelsabkommen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gehen über die Mindeststandards in TRIPS hinaus und beschneiden so die verbliebenen Handlungsspielräume. Auch wenn solche Abkommen Handelsvorteile für Entwicklungsländer schaffen, werden die „TRIPS-Plus“-Verpflichtungen sehr kritisch beurteilt. Nicht zuletzt stellen sie multilaterale Regelungsansätze infrage, die neben den Interessen der Rechtsinhaber auch die Auswirkungen eines Immaterialgüterschutzes auf Umwelt, Gesundheit, Nahrungsmittelsicherheit, Informationsfreiheit, Wettbewerb und Menschenrechte ernst nehmen.

Gehen die jüngsten Europäischen Freihandelsabkommen neue Wege?

Vor allem die Freihandelsabkommen der USA mit detaillierten Verpflichtungen zum Schutz geistigen Eigentums zugunsten von US-amerikanischen Handels- und Industrieinteressen sind Zielscheibe umfassender Kritik. Eine neue Generation europäischer Abkommen erhebt dagegen den Anspruch, Wirtschaftspartnerschaften mit dem Ziel nachhaltiger Entwicklung zu begründen. Diese sogenannten „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ (Economic Partnership Agreements) werden derzeit vor allem mit Gruppen afrikanischer, karibischer und pazifischer (AKP) Staaten verhandelt. Sie betreffen überwiegend ehemalige Kolonien europäischer Staaten und müssen im Kontext der Handels- und Entwicklungspolitik der EG betrachtet werden. Einerseits fällt auf, dass die Europäische Kommission eine umfassende Verstärkung des Schutzes für geistiges Eigentum als zentrales Element europäischer Handelspolitik versteht. Andererseits verlangt das Europäische Parlament, die Handlungsspielräume im TRIPS-Abkommen nicht zu beschneiden. Diese Ambivalenz findet sich auch in dem bisher einzigen unterzeichneten Abkommen der EG mit der Gruppe der karibischen Staaten wieder.

Zum einen enthalten diese Abkommen TRIPS-Plus-Verpflichtungen wie jene zur verstärkten Rechtsdurchsetzung im Immaterialgüterrecht. Diese sind nicht nur deswegen problematisch, weil sie die Verantwortung zur Rechtsdurchsetzung von den privaten Rechtsinhabern auf staatliche Stellen wie Zollbehörden und Staatsanwaltschaft übertragen und so begrenzte Ressourcen von Entwicklungsländern binden. Sie transplantieren auch ein für die europäischen Staaten entwickeltes Regelwerk in Länder mit einem völlig anderen sozioökonomischen Kontext und Entwicklungsstand. Dies widerspricht der Erkenntnis, wonach der Schutz geistigen Eigentums so weit wie möglich den wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Gegebenheiten eines Landes angepasst werden sollte, um optimale Innovationsanreize zu bieten. Zum anderen finden sich im Abkommen Ansätze, die einem Interessenausgleich dienen. Dabei geht es vor allem um eine Balance zwischen dem Schutz privater Rechte und Investitionen gegenüber öffentlichen Interessen und Allgemeingütern. Zunächst fällt auf, dass mit Regelungen über Umweltschutz, Wettbewerb, Sozialstandards und Datenschutz die Bereiche des klassischen Welthandelsrechts verlassen werden. Als zukunftsweisend und mit Modellcharakter für den internationalen Schutz geistigen Eigentums könnten sich darüber hinaus spezielle Ausgleichsmechanismen herausstellen, die derzeit in einem Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht näher untersucht werden.

Wie kann ein Interessenausgleich funktionieren?

Zwei methodisch unterschiedliche Ansätze aus dem Abkommen mit den karibischen Staaten sind besonders interessant. Der erste nimmt das übergeordnete Ziel nachhaltiger Entwicklung im Abkommen ernst und versucht, dieses Prinzip für das Immaterialgüterrecht umzusetzen. Wichtig sind die Vorschriften, die diesen Ansatz konkretisieren und seine Durchsetzung auf jeder Ebene der Handelspartnerschaft einfordern. Das Abkommen versteht das Ziel nachhaltiger Entwicklung als Verpflichtung, menschliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und Umweltinteressen zu berücksichtigen. Diese Vorstellung eines umfassenden Interessenausgleichs findet sich auch in Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes und der obersten WTO-Streitschlichtungsinstanz.

Wie lässt sich aber ein solcher Interessenausgleich effektiv durchsetzen? Hier kommen allgemeine völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze zur Hilfe: Alle Vorschriften des Abkommens müssen auch mit Blick auf seine Zielsetzung interpretiert und implementiert werden. Gerade bei einem offenen Wortlaut können die Ziele ein wichtiger Leitfaden sein. Karibische und europäische Staaten müssen daher das Ziel eines Interessenausgleichs berücksichtigen, wenn sie das Abkommen in nationales Recht umsetzen. Ein Beispiel zeigt, wie dies funktionieren kann: Das Abkommen verlangt, Inhabern von Rechten geistigen Eigentums einstweiligen Rechtsschutz zu ermöglichen, um drohende Rechtsverletzungen zu verhindern. Ob ein Gericht nun diesen vorübergehenden Schutz gewährt, stellt das Abkommen in das Ermessen des Gerichtes. Dieser Entscheidungsspielraum sollte durch eine grundlegende Interessenabwägung ausgefüllt werden. Das Ziel nachhaltiger Entwicklung verlangt hier, dass bei behaupteten Patentverletzungen durch die Hersteller generischer Medikamente auch das Interesse an öffentlicher Gesundheit und einfachem Zugang zu Medikamenten berücksichtigt wird. Letztlich bedeutet das Ziel nachhaltiger Entwicklung mehr Möglichkeiten für einen Interessenausgleich bei der Umsetzung völkerrechtlicher Verträge. Es beeinflusst damit Ausmaß und Intensität internationaler Verpflichtungen und erweitert nationale Autonomie.

Der zweite Ansatz in dem Abkommen mit den karibischen Staaten folgt aus Verpflichtungen, bestimmte Ausnahmen und Einschränkungen für den Rechtsschutz geistigen Eigentums einzuführen. Das Besondere liegt in der völkerrechtlichen Pflicht, den Rechtsschutz zu begrenzen. Hierdurch wird der Gedanke eines Maximalschutzes eingeführt. Die bisherigen internationalen Verträge hingegen setzen nur Mindeststandards, die grundsätzlich überschritten werden können. Das Abkommen sieht verbindliche Begrenzungen beispielsweise für eine rein beschreibende Nutzung von geschützten Marken oder im Bereich des Musterschutzes bei technisch bedingtem Produktdesign vor. Auch beim Verhältnis von geistigem Eigentum und Kartellrecht geht es über das hinaus, was das TRIPS-Abkommen erlaubt, aber eben nicht verbindlich vorschreibt: Die Vertragsparteien sind verpflichtet, gegen Lizenzpraktiken vorzugehen, soweit diese den internationalen Technologietransfer beschränken.

Die Idee eines Maximalschutzes bedeutet einen echten Paradigmenwechsel. Sie dient dazu, globale Standards für Schutzschranken in ein System einzuführen, das seinen Fokus bislang ausschließlich auf den Schutz geistigen Eigentums richtete. Inhalt und Umfang dieser Schranken folgen aus kollidierenden öffentlichen und privaten Interessen. Ein Maximalschutz könnte auch die ständige Verstärkung des Immaterialgüterrechts in Freihandelsabkommen unterbinden. Sowohl in der WTO als auch in der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) gibt es mittlerweile Initiativen, die Maximalschutzelemente enthalten. Als allgemeiner Leitgedanke kann Maximalschutz auch für andere Bereiche des Internationalen Wirtschaftsrechts Bedeutung erlangen und dort partikuläre Wirtschaftsinteressen verbindlich durch Umwelt- oder Sozialstandards begrenzen.

Das internationale Gefüge ist jedoch (noch) nicht darauf ausgerichtet, einen solchen Maximalschutz effektiv umzusetzen. Staaten nutzen die Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung in der WTO dann, wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. Wie aber können Verpflichtungen durchgesetzt werden, wenn sie primär dem Schutz öffentlicher Interessen dienen? Wie kann eine institutionelle Reform zur Umsetzung von Maximalschutz auf internationaler Ebene aussehen? Letztlich stellt sich auch eine grundlegendere Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, den Schutz öffentlicher Güter wie Gesundheit, Umwelt, Informationsfreiheit oder Nahrungsmittelsicherheit in Systemen zu verankern, die ihrer Natur nach ausschließlich Wirtschafts- und Handelsinteressen dienen? Wie lässt sich verhindern, dass der Schutz öffentlicher Güter in solchen Systemen an den Rand gedrängt werden?

Seit Anfang 2008 arbeiten Forscher am MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht in einem Projekt zum Innovationspotenzial der jüngeren Generation europäischer Freihandelsabkommen. Sie untersuchen kritisch die Tendenzen, den Schutz geistigen Eigentums weiter auszudehnen; der Forschungsschwerpunkt liegt auf den beschriebenen Ansätzen zum Interessenausgleich. Neue Regelungsansätze, die der Rolle des internationalen Immaterialgüterrechts in einer globalen Wirtschaft unter Berücksichtigung des Schutzes globaler Gemeinschaftsgüter gerecht werden, sollen erforscht und ausgearbeitet werden.

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