Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Kernphysik

Neutrinospektroskopie mit Borexino: erste direkte Messung des solaren 7Be-Neutrinoflusses

Autoren
Schönert, Stefan; Oberauer, Lothar (TU München); Göger-Neff, Marianne (TU München)
Abteilungen

Astroteilchenphysik (Prof. Dr. Heinrich Völk)
MPI für Kernphysik, Heidelberg

Zusammenfassung
Das Borexino-Experiment zur Messung niederenergetischer Neutrinos konnte am 15. Mai 2007 mit der Datennahme beginnen. Nach nur zwei Monaten Messzeit ist es damit erstmals gelungen, Neutrinos, die im Sonneninneren beim Elektroneinfang von 7Be entstehen, in Echtzeit eindeutig zu identifizieren und zugleich die Neutrinooszillationen unabhängig zu bestätigen. Daneben erzeugen Neutrinos aus dem Inneren der Erde und aus entfernten Kernreaktoren Signale in Borexino.

Die Sonne bezieht ihre Energie aus der Fusion von vier Wasserstoffkernen zu einem Heliumkern. Dieser mehrstufige Prozess kann sowohl über den so genannten pp- als auch den CNO-Zyklus ablaufen. Bei Temperaturen, wie sie im Inneren der Sonne herrschen, ist der pp-Zyklus (Abb. 1) der dominierende Prozess. Die Reaktionsrate der primären Fusion von zwei Protonen zu schwerem Wasserstoff (2H oder D, Deuterium) unter Emission eines Neutrinos mit einer maximalen Energie von 420 Kiloelektronenvolt (keV) wird durch die schwache Wechselwirkung und die im Inneren der Sonne herrschende Dichte und Temperatur bestimmt. Alternativ können zwei Protonen fusionieren und dabei ein Elektron einfangen, so dass 2H und ein mono-energetisches Neutrino mit 1442 keV entstehen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit dieses Prozesses mit 0,4% sehr gering. In 85% aller Fälle terminiert der pp-Zyklus, indem zwei 3He-Kerne miteinander verschmelzen und 4He bilden. In 15% der Fälle fusionieren 3He und 4He und bilden das radioaktive 7Be. Dieses fängt ein Elektron ein, emittiert dabei ein Neutrino mit 861 keV (90%) und wandelt sich zu 7Li. Nach Einfang eines weiteren Protons terminiert auch dieser Zweig mit der Emission zweier Heliumkerne. Nur in 0,016% der Fälle fängt ein 7Be-Kern ein Proton ein und bildet 8B. Dieses zerfällt unter Emission eines Positrons und eines Neutrinos mit einer Energie bis zu 14 MeV und endet wiederum in zwei Heliumkernen.

In sämtlichen schwachen Prozessen (in Abb.1 grün unterlegt) werden Neutrinos emittiert. Sie unterscheiden sich allein in ihrer charakteristischen Energieverteilung und werden üblicherweise nach der Reaktion benannt, bei der sie entstehen. So spricht man von pp-, 7Be- und 8B-Neutrinos.

Bisher konnte der solare Neutrinofluss nur beschränkt energieaufgelöst vermessen werden. Das Super-Kamiokande-Experiment in Japan misst mit hoher Präzision den Fluss der 8B-Neutrinos in einem Cherenkov-Detektor mit 40 Kilotonnen Wasser [1]. Sowohl die Energie als auch die Zeit der Wechselwirkung im Detektor werden dabei registriert. Im SNO-Experiment in Kanada [2] wurde der gleiche Neutrinozweig vermessen. Es konnte gezeigt werden, dass sich ein Teil der Neutrinos auf dem Weg zwischen ihrer Entstehung und ihrem Nachweis in eine andere Neutrinoart (Myon- bzw. Tau-Neutrinos) verwandeln. Dem europäischen Gallex/GNO-Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor [3, 4] und dem russischen SAGE [5] gelang es, das gesamte solare Neutrinospektrum zu vermessen, allerdings gemittelt über Zeit und Energie. Ziel des BOREXINO-Experimentes ist die Messung von 7Be-Neutrinos, des zweitstärksten Neutrinoflusses nach den pp-Neutrinos, in Echtzeit und mit Energieinformation.

Das Borexino-Experiment

Das Borexino-Experiment zur Messung niederenergetischer Neutrinos besteht aus 300 Tonnen Flüssigszintillator, der durch insgesamt ca. 3300 m3 Flüssigkeit (H2O und Pseudocumol) zur Abschirmung gegen natürliche Radioaktivität umgeben ist. Der Nachweis von Neutrinos erfolgt über die elastische Streuung der Neutrinos an Elektronen. Dieser Streuprozess wird über das dabei entstehende Szintillationslicht mit 2200 Photovervielfachern nachgewiesen. Das Experiment wird von Forschungsgruppen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Russland und den USA betrieben. Von deutscher Seite sind Physiker der Technischen Universität München und des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg maßgeblich an Borexino beteiligt.

Nach langjähriger Entwicklungs- und Aufbauzeit konnte das Borexino-Experiment am 15. Mai 2007 mit der Datennahme beginnen. Die große experimentelle Herausforderung liegt darin, natürlich vorkommende radioaktive Verunreinigungen auf zuvor unerreicht niedrige Konzentrationen zu reduzieren. Radioaktive Strahlung kann nämlich von Neutrino-Elektron-Streuereignissen allein aufgrund der Ereignissignatur nur schwer getrennt werden. Deshalb war es das Ziel, dass sämtliche Störstrahlung nur eine Ereignisrate verursachen darf, die unter der erwarteten 7Be-Neutrinorate liegt. Bei ca. 50 Neutrinostreuungen pro Tag in 100 Tonnen Szintillator entspricht dies einer Konzentration von Uran und Thorium von weniger als 10-16 g/g. Diese Spezifikation konnte im Experiment übertroffen werden. Nach Reinigung der Komponenten weist der Flüssigszintillator nur Uran- und Thoriumspuren von < 10-18 g/g auf. Entscheidend für den Erfolg des Experimentes ist auch die Reinigung bzw. Reduktion von radioaktiven Edelgasen, insbesondere 222Rn und 85Kr in Stickstoff, der wiederum zur Reinigung des Flüssigszintillators benutzt wird.

Der zwiebelartige Aufbau des Detektors (Abb. 2, 3) dient dazu, natürliche radioaktive Strahlung zum Beispiel aus dem Felsgestein abzuschirmen. Die Reinheit der Detektorkomponenten nimmt von außen nach innen zu. Das Herz des Experiments ist der hochreine Flüssigszintillator im Zentrum des Detektors. Um die Höhenstrahlung effizient abzuschirmen, befindet sich Borexino ca. 1000 m unter der Erdoberfläche im Gran-Sasso-Untergrundlabor (Abb. 4) in den italienischen Abruzzen [6].

Nach nur zwei Monaten Datennahme ist es der Borexino-Kollaboration gelungen, Sonnenneutrinos aus dem Elektroneinfang von 7Be eindeutig zu identifizieren [7]. Abb. 5 zeigt das gemessene Energiespektrum inklusive der verschiedenen Untergrundbeiträge. Die gemessene Rate von 47 ± 7(stat) ± 12(sys) Ereignisse pro Tag und 100 Tonnen ist konsistent mit den Vorhersagen von Standard-Sonnenmodellen und Neutrinooszillationen. Ziel der kommenden mehrjährigen Messzeit ist es, sowohl den statistischen als auch den systematischen Fehler deutlich zu reduzieren, um Präzisionstests der Sonnenmodelle durchzuführen, und nach so genannten Nicht-Standard-Neutrinooszillationen zu suchen.

Sonnenneutrinos

Zusammen mit früheren Resultaten der GALLEX- und GNO-Experimente wird damit zum ersten Mal das Verzweigungsverhältnis der beiden wichtigsten Äste des thermonuklearen pp-Zyklus in der Sonne experimentell bestimmt. Da der Energieausstoß der Sonne pro Zeiteinheit (die so genannte Luminosität) bekannt ist, kann damit die primäre solare Verschmelzungsrate von zwei Protonen zu Deuterium bis zu einer Genauigkeit von ca. 1% gemessen werden.

Bereits Ende der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts haben Bethe und Weizsäcker einen Zyklus vorgeschlagen, der auf dem sukzessiven Einfang von Protonen in schwereren Elementen wie Kohlenstoff, Stickstoff oder Sauerstoff basiert. Auch in diesem so genannten CNO-Zyklus werden Neutrinos emittiert. Inzwischen ist verstanden, dass er in der Sonne gegenüber dem pp-Zyklus keine große Bedeutung besitzt, sehr wohl aber in schwereren Sternen, wo er dominieren sollte. Eine erstmalige direkte Messung von Neutrinos des CNO-Zyklus wäre somit von großer astrophysikalischer Bedeutung. Weil aber der CNO-Neutrinofluss wesentlich schwächer ist als der aus dem 7Be-Elektroneinfang, ist diese Messung extrem schwierig. Eine weitere seltene Reaktion ist die Verschmelzung von zwei Protonen und einem Elektron zu Deuterium. In dieser so genannten pep-Reaktion werden monoenergetische Neutrinos erzeugt, die ebenfalls in Borexino nachweisbar sein sollten. Eine Messung des pep-Neutrinoflusses käme einer momentanen Bestimmung der Luminosität der Sonne gleich. Dies ist interessant, weil sonst diese Größe nur über die Abstrahlung elektromagnetischer Wellen (u.a. das sichtbare Licht) von der Sonnenoberfläche ermittelt werden kann. Die heute abgestrahlte und von uns empfangene Energie wurde aber vor über 100.000 Jahren im Zentrum erzeugt. So lange dauert der Transport der Wärme aus dem Innern bis zur Oberfläche. Mit Neutrinos misst man dagegen die heutige Luminosität der Sonne, weil diese Teilchen nahezu ungehindert die Sonne durchqueren. Die Borexino-Kollaboration hofft, nach einer längeren Datennahme Aussagen zu diesen seltenen CNO- und pep-Neutrinos machen zu können.

Neutrinooszillationen

Das Ergebnis der bisherigen Messungen liefert eine unabhängige Bestätigung der Neutrinooszillationen und wird bei weiterer Verbesserung der statistischen und systematischen Genauigkeit eine Vermessung des Übergangsbereiches der materieinduzierten Neutrinooszillation zur Vakuumoszillation liefern. Dies setzt für solare Neutrinos gerade die Messung des Neutrinoflusses bei Energien unterhalb von 1 MeV (Megaelektronenvolt) voraus, was mit diesem Experiment erstmalig energie- und zeitaufgelöst erfolgt.
Neben den 7Be-Neutrinos, die mit ihrer festen Energie sehr gut zum Testen des Oszillationseffekts geeignet sind, können Neutrinos aus weiteren Reaktionen in der Sonne, wie oben bereits erläutert wurde, nachgewiesen werden. Da die verschiedenen Reaktionen unterschiedlich stark von Umgebungsbedingungen wie der Dichte und der Temperatur im Sonneninneren abhängen, kann mit der Messung unser Wissen über den inneren Aufbau der Sonne erweitert werden.

Anti-Neutrinos aus der Erde und aus Kernreaktoren

Neben den Neutrinos aus der Sonne kann Borexino auch Neutrinos aus dem Inneren der Erde nachweisen, womit Aufschluss über die Verteilung verschiedener natürlicher radioaktiver Elemente, wie Uran und Thorium, in der Erdkruste erhalten wird. Der Nachweis von Neutrinos aus Kernreaktoren aus einer Entfernung von vielen hundert Kilometern wird zu weiteren Informationen über die Neutrinooszillationsparameter führen. Aber auch hochenergetische Neutrinos, die im Teilchenbeschleuniger am CERN in Genf erzeugt werden und über eine Distanz von 732 km zum Gran-Sasso-Labor gesandt werden, sind mit Borexino bereits nachgewiesen worden.

Neutrinos aus Supernovaexplosionen

Sofern eine Supernovaexplosion im Zentrum der Milchstraße erfolgen sollte, werden mit dem Borexino-Experiment ca. 200 Neutrinoereignisse nachweisbar sein, die Informationen über den Ablauf der Supernovaexplosion liefern. Dabei werden verschiedene Reaktionen an den Wasserstoff- und Kohlenstoffkernen des Szintillators ausgenutzt. Insbesondere liefert die nur in einem Flüssigszintillator nachweisbare elastische Neutrinostreuung an Protonen wichtige Informationen über den Fluss und die Energieverteilung der bei einer Supernova emittierten Neutrinos. Mit diesen Messungen wird es möglich sein, die Dynamik einer Supernovaexplosion in unserer Galaxie aufzuzeichnen.

Neutrinoastronomie und Astroteilchenphysik bei niedrigen Energien

Seit Jahrhunderten war es der Wunsch von Wissenschaftlern, das Geheimnis der Energieerzeugung in der Sonne zu lüften. Heute wissen wir, dass die Verschmelzung von Protonen zu Helium die Quelle dieses gewaltigen Energiestroms ist, der Leben auf unserer Erde ermöglicht. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten in mehreren solaren Neutrinoexperimenten bewiesen. Einen wesentlichen Beitrag hat dabei Gallex/GNO [3, 4] geleistet, das federführend von Wissenschaftlern des MPI für Kernphysik in Heidelberg betrieben wurde. Im Jahre 2002 wurde Ray Davis für seine Pionierleistungen, das erste Sonnenneutrinoexperiment in der Homestake Mine, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Mit Borexino wird nun ein weiterer wichtiger Schritt zur Neutrinoastronomie und zur Astroteilchenphysik bei niedrigen Energien eröffnet.

Originalveröffentlichungen

S. Fukuda, et al. (Super-Kamiokande Collaboration):
Constraints on neutrino oscillations using 1258 days of Super-Kamiokande solar neutrino data.
Physical Review Letters 86, 5651 (2001).
Q. R. Ahmad, et al. (SNO Collaboration):
Direct evidence for neutrino flavor transformation from neutral current interactions in the Sudbury Neutrino Observatory.
Physical Review Letters 87, 071301 (2001).
W. Hampel, et al. (GALLEX Collaboration):
GALLEX solar neutrino observations: Results for GALLEX IV.
Physics Letters B 447, 127 (1999).
M. Altmann, et al. (GNO Collaboration):
Complete results for five years of GNO solar neutrino observations.
Physics Letters B 616, 174 (2005).
J. N. Abdurashitov, et al. (SAGE Collaboration):
Measurement of the solar neutrino capture rate with gallium metal.
Physical Review C 60, 055801 (1999).
G. Alimonti, et. al. (Borexino Collaboration):
Science and technology of BOREXINO: A real-time detector for low-energy solar neutrinos.
Astroparticle Physics 16, 205 (2002).
C. Arpesella, et. al. (Borexino Collaboration):
First real-time detection of 7Be solar neutrinos by Borexino.
Physics Letters B 658, 101 (2008).
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