Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen

Die Erforschung der Evolution sozialer Systeme mithilfe kooperativer Bakterien

Using cooperative bacteria to understand the evolution of social systems

Autoren
Velicer, Gregory
Abteilungen

Gruppe Velicer - Sozialverhalten von Myxococcus xanthus (Dr. Gregory Velicer)
MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen

Zusammenfassung
Das langfristige Ziel unserer Forschung ist zu verstehen, wie sich soziale Systeme wechselnden Umweltbedingungen anpassen. Erst durch umfangreiche Kenntnisse über die den Anpassungen zugrunde liegenden Mutationen, die durch sie verursachten phänotypischen Effekte und schließlich derjenigen Umweltbedingungen, unter denen sie sich vorteilhaft auf die Selektion auswirken, ist ein tief greifendes Verständnis des Adaptionsprozesses möglich. Um dieses Ziel zu erreichen, führen wir an Myxococcus xanthus sowohl Evolutions-Experimente und Studien im Labor als auch hoch auflösende Analysen über phäno- und genotypische Variationen zwischen Wild-Isolaten durch. Im Folgenden werden einige unserer aktuellen Studien über im Evolutions-Experiment entstandene Genotypen vorgestellt.
Summary
The long-term goal of our research is to understand how social systems adapt to variable environments. Thorough understanding of the adaptive process, however, requires detailed knowledge of the mutational basis of adaptations, the fitness and phenotypic effects of those adaptations, and the selective environments in which they conferred fitness advantages. Towards this end, we employ both laboratory-based evolutionary studies of the social bacterium Myxococcus xanthus, as well as studies of fine-scale phenotypic and genomic variation among natural isolates. Here we highlight some of our ongoing studies of laboratory-evolved genotypes.

Einleitung

Kooperative soziale Verhaltensweisen haben wesentlichen Anteil am reproduktiven Erfolg, der so genannten „Darwin’schen Fitness“, in sehr vielen Organismen. Dies gilt für Viren und Bakterien - viele davon sind Pathogene - wie auch für komplexere Organismen bis hin zum Menschen. Übliche empirische Studien über die Evolution der Kooperation sind jedoch größtenteils darauf beschränkt, nachträglich aus dem Vergleich heutiger Arten Rückschlüsse über deren Evolution zu ziehen. Sozial aktive Bakterien erlauben dagegen die direkte Beobachtung der Entwicklung kooperativer Fähigkeiten in Echtzeit. Myxobakterien beispielsweise zeigen einige der genetisch und phänotypisch komplexesten Formen der Kooperation aller bekannten Prokaryoten. Dazu gehören: Genetisch programmierte, mehrzellige Entwicklung (z.B. von Fruchtkörpern), das Jagen im „Rudel“ und das so genannte „social Movement“, eine Bewegungsart, die nur im Schwarm möglich ist. Aufgrund der ausführlichen genetischen Charakterisierung seiner sozialen Eigenschaften und der kurzen Generationszeit stellt M. xanthus ein außergewöhnliches Modellsystem dar: Es erlaubt in einfachen Experimenten die direkte Untersuchung der Evolution sozialer Strategien, der Ursprünge vielzelligen Lebens und auch der molekularen Mechanismen, die den Ursprüngen zu Grunde liegen.

Das Sozialverhalten von (pathogenen) Mikroorganismen spielt eine Rolle bei aktuellen Fragestellungen der angewandten Medizin. Besonders interessant aber sind auch Untersuchungen, die im Zusammenhang mit schon seit langem bestehenden, fundamentalen Fragen über die Ursprünge genetisch basierter Kooperation und der Veränderung von sozialen Strategien (egoistische als auch kooperative Verhaltensweisen) stehen. Aufgrund der hohen Fortpflanzungsrate von Bakterien können durch spontane Mutation verursachte, evolutionäre Veränderungen im Sozialverhalten in der Tat beobachtet werden. Die kontrollierte Veränderung von Umweltbedingungen im Labor wiederum erlaubt umgekehrt ein genaues Verständnis der sich auf die Mutanten auswirkenden selektiven Kräfte. Da man Bakterien im gefrorenen Zustand zeitlich unbegrenzt aufbewahren kann, ist es auch möglich, veränderte Genotypen direkt mit ihren Vorfahren zu vergleichen, um z.B. einen Unterschied der relativen Fitness zum Vorfahr genau messen zu können. All diese Eigenschaften, in Verbindung mit den phylogenetisch genau definierten Beziehungen zwischen durch Evolution veränderten Stämmen und deren Vorfahren sowie umfassenden gentechnischen Werkzeugen, die die erbliche Basis von adaptiven Veränderungen zu verstehen helfen, machen Bakterien wie M. xanthus zu ausgezeichneten Werkzeugen für die Erforschung der Evolution sozialer Systeme.

Das Sozialleben von Myxococcus

Myxobakterien zeichnen sich besonders durch ihr hoch entwickeltes Sozialverhalten aus. Dies wird in ihrem gruppengesteuerten Schwarmverhalten, der Kooperation bei der Jagd auf Beute-Bakterien und ganz besonders bei der komplexen vielzelligen Bildung von Fruchtkörpern als Antwort auf Ressourcenknappheit deutlich. Die etwa fünfzig Arten von Myxobakterien bilden die monophyletische Ordnung der Myxococcales, die zur Delta-Untergruppe der Prokaryoten gehört. Als einzige Art wurde bisher Myxococcus xanthus intensiv untersucht, um die genetischen und mechanistischen Grundlagen des sozialen Verhaltens und der vielzelligen Entwicklung von Fruchtkörpern zu verstehen. Die Kapazität von M. xanthus, sich an neue Umweltbedingungen anzupassen, und die evolutionären Kräfte, die sein Sozialverhalten formen, wurden bisher kaum erforscht.

M. xanthus ist ein im Erdboden wachsendes, räuberisches Bakterium, das in sehr vielen terrestrischen Lebensräumen in der ganzen Welt gefunden und isoliert werden kann. Es ernährt sich von einer großen Bandbreite anderer Mikroorganismen, darunter auch Bakterien, Hefen und Pilze. Durch das kollektive Ausscheiden von lytischen und antibiotischen Substanzen töten und verdauen sie ihre Beute extrazellulär und nehmen dann die Nährstoffe auf. Obwohl einzelne Zellen von M. xanthus durchaus zu erfolgreicher Jagd imstande sind, geht man davon aus, das Myxobakterien generell in Gruppen erfolgreicher jagen als alleine. Dies könnte durch die größere Effizienz der ausgeschiedenen Substanzen (durch höhere Konzentration z.B. der ausgeschiedenen Enzyme) erklärt werden.

Die Jagd auf Beute wird M. xanthus durch zwei verschiedene Fortbewegungssysteme ermöglicht, dem A- und dem S-Bewegungssystem (A steht hierbei für adventurous = unternehmungslustig, S für social ). Das A-System erlaubt individuelle Fortbewegung auch von vereinzelten Zellen, während das S-System nur in großen Gruppen und Schwärmen funktioniert und Zell-Zell-Interaktionen erfordert. Schwarmbewegungen sind unter Einsatz beider Systeme am effizientesten, jedoch ist grundsätzlich auch die Bewegung mit nur einem System, abhängig vom Untergrund, möglich. An der Ausführung beider Bewegungen sind dutzende verschiedener Gene beteiligt, und es scheint, als ob jedes der beiden Systeme bis zu einem bestimmten Grad auf bestimmte Oberflächentypen spezialisiert ist.

Als Reaktion auf Aminosäuremangel bildet M. xanthus vielzellige Fruchtkörper in einem Entwicklungsprozess, der tatsächlich als sozial zu bezeichnen ist und einem genetisch genau regulierten Programm Folge leistet (Abb. 1). Durch gerichtete Bewegung sammeln sich dabei zunächst die Zellen des Schwarms. An Punkten mit großer Dichte durchlaufen dann ca. 100.000 Zellen eine Kaskade von Veränderungen in ihrer Genexpression, abhängig von der lokalen Zelldichte und dem aktuellen Entwicklungsstand. Eine kleine Minderheit von Zellen verändert sich dabei unter Laborbedingungen zu stressresistenten Sporen, während sich die große Mehrheit der Zellen auflöst. Wenn die Sporen und Fruchtkörper später auf einem Fleck mit mehr Nahrung landen, keimen die Sporen zu aktiven Zellen aus. Die Entwicklung von Fruchtkörpern wird ausgelöst, nachdem ein Mangel an Aminosäuren festgestellt wurde und bereits eine hohe Zelldichte bestand. Abhängig von der jeweiligen Entwicklungsphase werden die Zellen durch interzelluläre Signale koordiniert und dadurch größere Veränderungen in der Genexpression ausgelöst. Wo genau die Vorteile der Bildung von Fruchtkörpern in der freien Natur liegen, ist bis jetzt noch nicht aufgeklärt. Sie könnten vielleicht die Verteilung der Sporen begünstigen, eine bessere Ernährung nach dem Keimen durch eine hohe Zelldichte erlauben, vor anderen Jägern und schädlichen Substanzen schützen oder eine Kombination aus diesen Vorteilen bieten.

Experimentelle Evolution

Unsere gegenwärtige Arbeit versucht, die genauen genetischen Abläufe aufzuklären, durch welche sich M. xanthus an drei definierte selektive Umgebungen angepasst hat - in zwei Fällen hat dies zum erfolgreichen Wiederentstehen von adaptivem sozialem Verhalten geführt. Im Folgenden werden wir drei neue soziale Verhaltensweisen von M. xanthus beleuchten, die unter definierten Bedingungen im Labor entstanden sind: i.) Notwendiges Betrügen während der Fruchtkörperentwicklung, verursacht durch Verlust der Fähigkeit, alleine Fruchtkörper auszubilden und alleine S-Bewegungen durchzuführen. (Ohne Betrug kann der Betrüger nämlich nicht überleben, denn er ist darauf angewiesen, die durch seine Nachbarn der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten Signalsubstanzen zu verwenden, um Sporen bilden zu können, ohne dabei jedoch selbst zu diesem allgemeinen Gut beizutragen.) ii.) Die wiedererworbene Fähigkeit zur Fruchtkörperbildung und iii.) die wiedererworbene Fähigkeit zur S-Bewegung (Abb. 2).

In jedem der drei Fälle ist unser erstes Ziel, alle Mutationen zu identifizieren, die sich im Verlauf des Evolutionsexperimentes in den entstandenen Genotypen angesammelt haben. Weiterhin soll der genaue Ablauf des ersten Auftretens und Aufstiegs bis zur Fixierung der jeweiligen Mutationen in der Population nachvollzogen werden. Für die Fälle i.) und ii.) haben wir bereits die in diesen Zelllinien auftretenden Mutationen durch Sequenzierung des gesamten Genoms identifiziert. Gegenwärtig sind wir damit beschäftigt, dies auch für den dritten Fall zu tun und die genaue Historie der einzelnen Mutationen in allen Fällen aufzuklären.

Das zweite Ziel besteht darin, den Einfluss der einzelnen Mutationen auf die Fitness und den Grad, in dem diese Effekte von epistatischen Wechselwirkungen mit bereits vorher erworbenen Mutationen abhängen, festzustellen. Wir haben dazu eine einzelne Mutation identifiziert, die verantwortlich für den Wiedererwerb der Fähigkeit zur Fruchtkörperbildung ist. Die Messung ihres quantitativen Einflusses auf die Fitness zeigte, dass Mutationseffekte aufgeklärt können, indem sie durch Übertragen der Mutationen in verschiedene genetische Hintergründe sichtbar gemacht werden. Im Moment führen wir ähnliche Untersuchungen an denjenigen Mutationen durch, die zu notwendigem Betrugsverhalten und zum Wiedererwerb des S-Bewegungssystems geführt haben.

Unser schlussendliches Ziel in allen diesen Fällen ist, die genetischen Hintergründe und Regulationswege zu verstehen, die jedem der neu entstandenen Verhaltensmuster zugrunde liegen. Dazu soll auch die funktionale Rolle der relevanten Gene sowohl in den entstandenen Genotypen als auch in deren gemeinsamen Vorfahren aufgeklärt werden. Wir haben mittlerweile eine Mutation identifiziert, die für den Wiedererwerb der Fähigkeit zur Fruchtkörperbildung verantwortlich ist - diese Mutation war in herkömmlichen genetischen Screens von so genannten Entwicklungsmutanten nicht gefunden worden. Derzeit arbeiten wir auch daran, den noch nicht beschriebenen Regulationsweg aufzuklären, durch den dieses Gen die Leistungsfähigkeit der Fruchtkörperbildung steigert.

Originalveröffentlichungen

Velicer, G. J., L. Kroos, and R. E. Lenski:
Loss of social behaviors by Myxococcus xanthus during evolution in an unstructured habitat.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 95, 12376-12380 (1998).
Velicer, G. J., L. Kroos, and R. E. Lenski:
Developmental cheating in the social bacterium Myxococcus xanthus.
Nature 404, 598-601 (2000).
Velicer, G. J., R. E. Lenski, and L. Kroos:
Rescue of social motility lost during evolution of Myxococcus xanthus in an asocial environment.
Journal of Bacteriology 184, 2719-2727 (2002).
Fiegna, F. and G. J. Velicer:
Competitive fates of bacterial social parasites: persistence and self-induced extinction of Myxococcus xanthus cheaters.
Proceedings of the Royal Society for Biological Sciences UK 270, 1527-1534 (2003).
Velicer, G. J. and Y.-T. N. Yu:
Evolution of novel cooperative swarming in the bacterium Myxococcus xanthus.
Nature 425, 75-78 (2003).
Fiegna, F. and G. J. Velicer:
Exploitative and hierarchical antagonism in a cooperative bacterium.
Public Library of Sciences - Biology 3, e370 (2005).
Fiegna, F., Y.-T. N. Yu, S. V. Kadam, and G. J. Velicer:
Evolution of an obligate social cheater to a superior cooperator.
Nature, in press (2006).
Velicer, G. J., G. Raddatz, H. Keller, S. Deiss, C. Lanz, I. Dinkelacker, and S. C. Schuster:
Comprehensive mutation identification in an evolved bacterial cooperator and its cheating ancestor.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA, in press.
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