Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Die Vermessung des europäischen Rechtsraums

Autoren
Zacharias, Diana
Abteilungen
Zusammenfassung
Das Max-Planck-Institut für Völkerrecht untersucht zusammen mit dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie der Universität München und dem Lehrstuhl für Verfassungsrecht der Universidad Autónoma Madrid die Grundlagen und Grundzüge des Verfassungs- und Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum. Dabei zeigen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen sowie erste Ansätze eines gemeineuropäischen öffentlichen Rechts.

Der europäische Rechtsraum als Prämisse und Horizont

Die elfte Präambelerwägung des Vertrags über die Europäische Union und Art. I-3 Abs. 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der nach dem vorläufigen Scheitern der Bemühungen um eine auch als solche bezeichnete Europäische Verfassung in seinen wesentlichen Teilen in das bestehende europäische Primärrecht integriert werden soll, sprechen visionär von Europa als einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Der letzte Aspekt dieser Trias, der europäische Rechtsraum, hat in ersten Ansätzen bereits die Scheidelinie zwischen Vision und Wirklichkeit überschritten und nimmt zusehends Gestalt an. Er wird durch das Recht der Europäischen Union und durch dasjenige ihrer Mitgliedstaaten gebildet, speist sich darüber hinaus auch aus weiteren Quellen, namentlich dem Völkerrecht, und wirkt über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht hat es sich zusammen mit dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie dem Lehrstuhl für Verfassungsrecht der Universidad Autónoma in Madrid zur Aufgabe gemacht, diesen emergierenden europäischen Rechtsraum mit Blick auf das öffentliche Recht, das sich im Zeichen der europäischen Integration entfaltet und als das neue „ius publicum europaeum“ („öffentliches europäisches Recht“) bezeichnet werden kann, zu vermessen. Die Vermessung erfolgt durch eine Kombination von rechtsordnungsspezifischer und rechtsvergleichender Analyse.

Die rechtsordnungsspezifischen Betrachtungen, die in Länderberichten niedergelegt werden, tragen dazu bei, dass die Juristen ein Verständnis für das Recht anderer Staaten entwickeln. Wissenschaftler wie Praktiker sollen auf der Grundlage gemeinsamer Fertigkeiten, Kenntnisse und Wertvorstellungen operieren. Sie sollen in der Perspektive des europäischen Rechtsraums ihren jeweiligen öffentlich-rechtlichen Acquis, den Bestand an Normen des Staats- und Verwaltungsrechts, neu justieren und fortentwickeln.

Die Rechtsvergleichung lässt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen und im Rechtsverständnis hervortreten. Im Bereich des Verfassungsrechts erschließt sie die gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten und somit eine Quelle des Unionsrechts. Auch ist die Verfassungsvergleichung ein Gebot des Art. 6 des Unionsvertrags, der besagt, dass die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

Nicht zuletzt ist oftmals nur mittels Rechtsvergleichung das Regelungsmodell eines europäischen Rechtsaktes oder die Entscheidung eines europäischen Gerichts zu durchdringen und die angestoßene Transformation des nationalen Rechts zu begreifen. Rechtsvergleichung und Kenntnisse anderer Systeme des öffentlichen Rechts können den europäisch wie zwischenstaatlich agierenden Beamten helfen, die Positionen der Kollegen zu verstehen und die eigene Argumentationslinie abzustimmen und anzureichern. Ähnliches gilt für die sich intensivierende Begegnung von Rechtswissenschaftlern im europäischen rechtswissenschaftlichen Raum, auf Tagungen genauso wie am Schreibtisch, und zwar keineswegs allein bei „europabezogenen“ Themen. Es wird immer mehr zum Standard guter rechtswissenschaftlicher Forschung, selbst rein innerstaatliche Fragestellungen unter europarechtlichen Gesichtspunkten und aus fremden Lehren schöpfend zu behandeln.

Vor diesem Hintergrund sind Texte erforderlich, die über vorliegende auslandsrechtskundliche Betrachtungen hinaus die Grundlagen der fremden Rechtsordnungen, insbesondere prägende historische Erfahrungen, Entwicklungsstufen, systematische Zusammenhänge, juristische und rechtswissenschaftliche Stile, in der Perspektive des europäischen Rechtsraums erschließen. Das Augenmerk des Heidelberger und Münchener Gemeinschaftsprojekts gilt dabei zunächst den nationalen Verfassungs- und Verwaltungsordnungen, ihrer wechselseitigen Durchdringung sowie ihrer Öffnung für die supranationale Integration und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Im weiteren Verlauf des Projekts sollen einzelne Aspekte des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum weiter vertieft werden.

Das nationale Verfassungsrecht in Europa

Die ersten Ergebnisse des Projekts zum Bereich des nationalen Verfassungsrechts wurden Ende 2007 in zwei großen Bänden unter dem Titel „Handbuch Ius Publicum Europaeum“ veröffentlicht [1, 2]. Nur einige seien im Folgenden erwähnt.

Der Inhalt der nationalen Verfassungen speist sich aus drei Quellen. Eine erste Quelle ist die eigene Erfahrung, wobei für das Modell des europäischen Konstitutionalismus eine polemische oder zumindest unzufriedene Haltung gegenüber der verfassungsrechtlichen Vergangenheit charakteristisch zu sein scheint. Positive Aspekte werden aber bisweilen in der weiter entfernten Vergangenheit gefunden; man denke etwa an die Paulskirchenverfassung von 1849. Die zweite Quelle ist die fremde Erfahrung. Die verfassunggebenden Momente im europäischen Rechtsraum haben viele Impulse aus dem Rechtsvergleich gewonnen. Das gilt besonders für die Verfassungen, die seit den siebziger Jahren erlassen wurden, wie die spanische oder die griechische. Der inhaltliche Austausch zwischen den nationalen Verfassungen ist heutzutage sehr intensiv. Das führt zu einer immer stärkeren Annäherung der Verfassungssysteme in Europa. Die letzte Quelle ist die Kreativität der Verfassungseltern, die dafür sorgt, dass jede Verfassung in mehr oder weniger großem Ausmaß ein Original ist. Verfassungsinnovation ist oft das Ergebnis von Sachzwängen. So wurde etwa die bei einem speziellen Verfassungsorgan konzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen deshalb etabliert, weil die diffuse Normenkontrolle politisch nicht durchführbar war.

Die europäischen Verfassungen haben Verfassungsstabilität nicht deshalb erreicht, weil es keine Konflikte gab, sondern weil diese unter Beibehaltung der bestehenden Verfassungsordnung oder zumindest ihrer Grundzüge überwunden werden konnten. Eine nicht unwesentliche Rolle hat dabei gespielt, dass sich das Verfahren zur Reform des Verfassungstextes vollständig normalisiert hat. Die Verfassungen sind heute in der Lage, ihre Änderungen im Sinne einer weiteren, wenngleich außerordentlich relevanten Aufgabe im Spektrum politischer Aktivität in Angriff zu nehmen. Dieser Punkt verdient Erwähnung, weil in Europa lange die Tradition vorherrschte, dass eine Änderung in der Verfassung auch zu einer Änderung der Verfassung führte.

Die Verfassung ist in Europa Recht, jedoch gleichzeitig etwas mehr als Recht, was sich an der starken protagonistischen Position bemerkbar macht, die ihr in einigen Staaten zuerkannt wird. Die normative Kraft der Verfassung wird überall anerkannt. Darüber hinaus ist der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetzesrecht die klare Regel, mit sehr wenigen Ausnahmen.

Die europäischen Verfassungen projizieren sich heutzutage in einer bisher nicht gekannten Intensität auf die übrige Rechtsordnung; daher verwundert auch der Aufstieg der Wissenschaft vom Verfassungsrecht zur Königsdisziplin der Rechtswissenschaften nicht. Zum einen gestalten die Verfassungen ein zunehmend komplexeres System der Rechtsquellen. Zum anderen bestimmen sie den Inhalt oder den Zweck der Rechtsordnung. Der Begriff der Konstitutionalisierung hat überall Konjunktur. Er hat hauptsächlich eine materielle, aber auch eine formelle Bedeutung. Die Konstitutionalisierung im formellen Sinne meint die Hereinnahme von zusätzlichen Inhalten in die Verfassung, die aufgrund ihrer Natur nicht immer zwingend mit einer verfassungsmäßigen Dignität und Rigidität versehen werden müssten. Die Konstitutionalisierung im materiellen Sinne bedeutet, dass die Verfassung eine gewichtige Rolle im Hinblick auf das Bestehen und Funktionieren des nationalen Rechts insgesamt spielt. Dieses Phänomen ist relativ neu. Es tritt vor allem im Bereich des Privatrechts in Erscheinung, etwa infolge der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten.

Während früher zumeist die Organverfassung den ersten Teil des Verfassungstextes bildete und Grundrechte und mit der Idee der Rechtsstaatlichkeit eng verbundene Verfassungsprinzipien schon aufgrund ihrer Position als zweitrangig erschienen, hat sich dieses Verhältnis heute umgekehrt. Heute nehmen die Grundrechte den ersten Platz in der Struktur der nationalen Verfassungen in Europa ein. Gleichzeitig sind sie der Hauptbereich, in dem die nationalen Rechtsordnungen infolge ihrer Integration in das System der Europäischen Menschenrechtskonvention zusammenfließen.

Die Grundrechte werden als verbindlich für die öffentlichen Gewalten verstanden, wie einige Verfassungstexte ausdrücklich erklären; sie sind nicht nur bloße Programmsätze. Den Grundrechten kommt überdies eine horizontale Wirkung zu. Allerdings ist die Art und Weise, wie die Grundrechte Privatpersonen verpflichten, recht unterschiedlich; die Bandbreite reicht von der einfachen Unterwerfung unter bestimmte Diskriminierungsverbote bis zu Fällen, in denen die grundrechtliche Bindung mittels einer Ausstrahlungswirkung eintritt. Die Idee ist jedenfalls in alle nationalen Rechtsordnungen vorgedrungen, wobei den wesentlichen Impuls dafür die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegeben hat.

Die Demokratie erscheint als das universelle Prinzip für die Organisation der politischen Gemeinschaft. Die Souveränität liegt beim Volk, das die politische Macht durch periodisch stattfindende Wahlen oder durch Volksabstimmungen ausübt. Das allgemeine Wahlrecht aller volljährigen Personen ohne Unterschied des Geschlechts, das teilweise noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein umstritten war, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Was das Wahlsystem anbelangt, so setzt sich die Verhältniswahl immer stärker durch.

Was die verschiedenen Staatsgewalten und ihr Verhältnis zueinander anbelangt, lässt sich ein Vorrang der Legislative vor Exekutive und Judikative feststellen. Das Prinzip der politischen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, das sich ausgehend von seiner ursprünglichen Ausgestaltung in Großbritannien und seiner Akklimatisierung in der Republik während der Anfänge der französischen III. Republik weiterentwickelt hat, ist ein bedeutsamer Wesenszug des europäischen Konstitutionalismus.

Die Struktur des Parlaments ist in den europäischen Staaten ganz überwiegend durch ein Zweikammersystem geprägt. Schweden und Griechenland, die lediglich über eine einzige Parlamentskammer verfügen, sind als Ausnahmen anzusehen. Die zweite Kammer sucht ihre Daseinsberechtigung regelmäßig in der territorialen Repräsentation. Interessant ist, dass im Verlauf des politischen Übergangs Staaten wie Spanien oder Polen eine zweite Kammer eingeführt haben.

Dadurch, dass die Mehrzahl der neuen europäischen Verfassungsstaaten unitarische Strukturen aufweist, hat sich das traditionelle europäische Ungleichgewicht zwischen den Bundes- und den Einheitsstaaten zugunsten der letzteren verstärkt. Allerdings hat auch kein Bundesstaat den Föderalismus aufgegeben und sich entschieden, ein Einheitsstaat zu werden. Ganz im Gegenteil haben verschiedene traditionell zentralistische Staaten Elemente der politischen Dezentralisierung eingeführt, die manchmal kaum von Erscheinungsformen des Föderalismus zu unterscheiden sind. Es ist gerade dieser Bereich der territorialen Gliederung, in dem sich die europäische Vielfalt besonders zeigt.

Ausblick

Das Projekt hat gezeigt, dass sich in Europa nicht zuletzt unter dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention immer stärker Ansätze für ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht zeigen. Der europäische Rechtsraum hat einige feste Koordinaten, die von allen geteilt werden. Dies gilt selbst angesichts der Tatsache, dass grundlegende Begriffe wie Republik, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den einzelnen Staaten teilweise recht unterschiedlich verstanden werden.

Das Projekt wird derzeit fortgeführt im Bereich des nationalen Verwaltungsrechts mit Untersuchungen zur klassischen Gestalt von Staat und Verwaltung, zur gemeineuropäischen Geschichte, zum Begriff und zu den Grundzügen des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive.

Originalveröffentlichungen

A. von Bogdandy, P. Cruz Villalón, P. M. Huber (Hg.):
Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1: Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts.
Heidelberg, Müller 2007.
A. von Bogdandy, P. Cruz Villalón, P. M. Huber (Hg.):
Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht.
Heidelberg, Müller 2008.
Zur Redakteursansicht