Forschungsbericht 2006 - Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft

Mikroskopische Untersuchungen von Korrosionsprozessen an Edelstahl.

Autoren
Rotermund, Harm Hinrich, Dornhege, Monika, Punckt, Christian
Abteilungen

Physikalische Chemie (Prof. Dr. Martin Wolf)
Fritz-Haber-Institut der MPG, Berlin

Zusammenfassung
Die Ausbreitung von Grübchenkorrosion (pitting corrosion) wird an einer Edelstahloberfläche in einem Elektrolyten untersucht. Die simultane Anwendung zweier Abbildungsmethoden, Ellipso-Mikroskopie und kontrastverstärkte optische Mikroskopie, gibt Aufschluss über die Korrelation zwischen der Schwächung des schützenden Oxidfilmes und der Nukleation und Reaktivierung individueller Grübchen. Der Nachweis von Frontausbreitung bei verstärkter Korrosion deutet auf einen stochastischen Reaktions-Diffusions-Prozess hin.

Die Grübchen-Korrosion stellt eine besondere Form der so genannten lokalen Korrosion dar, die an Metallen auftritt, deren Oberfläche durch dünne Oxidschichten vor weiterer Oxidation geschützt ist. Den Schutz des Metalls durch diese Oberflächenschichten bezeichnet man als Passivierung. An passivierten Metalloberflächen gelang schon früh die Beobachtung von raum-zeitlicher Musterbildung und Oszillationen, also Phänomenen, die heute im Kontext der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme interpretiert werden können. Im Jahr 1836 beschrieb Mousson [1] die Fortpflanzung von Aktivitätspulsen auf passiviertem Eisen und anderen Metallen in Salpetersäure, argumentierte aber mit Hinweis auf die unversehrt erscheinende Metalloberfläche, dass eine Oxidschicht, wie sie von Faraday vermutet wurde, nicht zur Erklärung der beobachteten Phänomene in Frage käme. Ostwald [2] verglich die Pulsausbreitung an Eisenstäben erstmals mit der Ausbreitung von Erregungswellen in Nervenfasern und beobachtete Oszillationen bei der elektrolytischen Oxidation von Eisen.

Erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte die Rolle der Oxidschicht bei der Passivierung von Stahl geklärt werden. Am damaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie (dem heutigen Fritz-Haber-Institut), damals geleitet von seinem Gründungsdirektor Fritz Haber, arbeitete in der Abteilung Herbert Freundlichs Leif Tronstad, ein Wissenschaftler aus Norwegen an optischen Untersuchungen von elektro-chemisch aktivierten und passivierten Metallspiegeln. Er konnte mittels ellipsometrischer Messungen erstmals die lang diskutierte Oxidhauttheorie für die Passivierung von Metallen bestätigen [3-4]. Tronstad wurde anschließend mit 33 Jahren einer der jüngsten Professoren in seinem Heimatland Norwegen, wo er dann keine zehn Jahre später bei der Verteidigung seines Lebenswerkes, der großtechnischen Trennung schweren Wassers, nahe der Rjukan-Vemork Wasserstofffabrik bei Oslo in den Wirren der letzten Kriegstage mit knapp 42 Jahren in Kampf gegen norwegische Nazi-Kollaborateure fiel [5].

In der Abteilung Physikalische Chemie des Fritz-Haber-Instituts wurde 1995 die klassische Ellipsometrie zu einer abbildenden Mikroskopiemethode „Ellipso-Microscopy for Surface Imaging“ (EMSI) weiterentwickelt [6], um damit die Musterbildung während katalytischer Oberflächenreaktionen auch bei höheren Drücken beobachten zu können. Ab 2004 wurde EMSI dann auch zur Untersuchung von elektrochemisch induzierten Prozessen an der Phasengrenze Metall/Elektrolyt, also in Flüssigkeiten, erfolgreich eingesetzt. Angeregt wurden die experimentellen Untersuchungen durch theoretische Arbeiten von Alexander Mikhailov, der in Zusammenarbeit mit John L. Hudson (Virginia University) die Lochfraßkorrosion an Edelstahl mit einem stochastischen Reaktions-Diffusions-Modell beschreibt [7].

Aus früheren Untersuchungen war bekannt, dass vor dem Einsetzen des eigentlichen Lochfraßes zeitlich begrenzte Korrosionsherde auftreten, die Grübchen von wenigen Mikrometern Durchmesser auf der Oberfläche hinterlassen. Des Weiteren wurde ein plötzlicher Übergang von niedrigen zu hohen Korrosionsraten selbst bei nur geringfügiger Änderung der experimentellen Parameter beobachtet. Dem von Mikhailov entwickelten Modell liegt nun die Vorstellung zu Grunde, dass von den Korrosionsherden, solange sie aktiv sind, schädigende Substanzen gebildet werden. Diese schwächen die schützende Oxidschicht auf der Oberfläche von Metallen in einem gewissen Umkreis und begünstigen so die Nukleation neuer Korrosionsherde. Im Rahmen dieses Modells erfolgt die Erklärung für den plötzlichen Übergang von niedrigen zu hohen Korrosionsraten und die Verbreitung des Lochfraßes durch eine autokatalytische Reproduktion der kleinen Korrosionsherde.

In numerischen Simulationen führt dies bei geeigneten Parametern zu einer frontartigen Ausbreitung der Korrosionsaktivität ( Abb. 1). Anfänglich werden zwar immer wieder einzelne Korrosionsherde initiiert, aber die Oberfläche kehrt zunächst in den inaktiven Zustand zurück. Erst nachdem sich ein kritischer Keim gebildet hat, breitet sich die Schädigung frontartig aus. Wie aus dem Raum-Zeit-Diagramm ersichtlich, erfolgt die Ausbreitung mit annähernd konstanter Geschwindigkeit. Begleitet wird dies von einer näherungsweise exponentiellen Zunahme der Anzahl der entstandenen Herde (man beachte die logarithmische Auftragung) und einem ebenfalls näherungsweise exponentiellen Anstieg der Stromstärke. Der Strom erreicht zum Zeitpunkt t ≈ 350 s einen Sättigungswert, da ab dann der gesamte Bereich aktiv ist und eine weitere Ausbreitung der Korrosionsaktivität nicht möglich ist.

Die Überprüfung des Modells durch das Experiment sollte spezielle Charakteristika der Simulation, nämlich Frontausbreitung und exponentielles Wachstum von Strom und Grübchenzahl, wiedergeben. Dafür war es nötig, Experimente in situ durchzuführen, um die Prozesse unmittelbar während des elektrochemischen Experimentes und in Echtzeit sichtbar zu machen. Es wurde ein neuer Versuchsaufbau konstruiert, in dem eine speziell angefertigte elektrochemische Zelle und optimierte Probenpräparation die Verwendung von EMSI und kontrastverstärkter Mikroskopie zur Beobachtung von Vorgängen auf einer korrodierenden Elektrode ermöglichen. Während mittels EMSI großräumige Veränderungen der Oxidschicht in Echtzeit sichtbar gemacht werden konnten, wurde kontrastverstärkte Mikroskopie zur Beobachtung der kleinen Korrosionsherde genutzt. Sowohl die Veränderungen der Oxidschicht als auch das Auftreten der Grübchen, die durch einen Korrosionsherd verursacht werden, konnten mit erhöhter Aktivität im Strom korreliert werden [8].

Dies wurde durch eine fast vollständige Isolierung der Edelstahloberfläche gegen den Elektrolyten (0,05 molare Natriumchloridlösung „Salzwasser“) durch die Verwendung von Wachs bzw. eines Lackfilmes erreicht. Der nicht isolierte Bereich wurde durch den optischen Aufbau vollständig abgebildet. So konnte jedem Stromstoß, selbst bei einer Amplitude von wenigen Nano-Ampere, eindeutig ein neu entstandenes Korrosionsgrübchen zugeordnet werden. Des Weiteren wurde festgestellt, dass hinreichend aktive Korrosionsherde in den Mikroskopaufnahmen von einem hellen Hof umgeben sind. Dieser ermöglicht es, die Dauer der Aktivität zu bestimmen.

In den Experimenten haben wir die Oberfläche während des oben beschriebenen plötzlichen Übergangs von niedrigen zu hohen Korrosionsraten beobachtet. Hierbei ergab sich, dass die explosionsartige Vermehrung der Korrosionsherde für den rapiden Anstieg der Stromstärke verantwortlich ist und nicht – wie bislang angenommen – die Stabilisierung einzelner Herde (Abb. 2). In jüngeren Messungen mit kontrast-verstärkter Mikroskopie ergab sich eine beeindruckende Übereinstimmung mit den numerischen Simulationen (vgl. Abb. 1 mit Abb. 2); insbesondere der Anstieg der beobachteten Zahl von Korrosionsgrübchen wird vom Modell quantitativ beschrieben.

Ermutigt durch diese Ergebnisse wurde ein Aufbau realisiert, der die simultane Verwendung beider Abbildungsmethoden ermöglichte. Ein Ergebnis der Untersuchungen ist in Abbildung 3 dargestellt. Das Entstehen eines Korrosionsherdes – im Mikroskop als kleiner schwarzer Punkt sichtbar – führt unmittelbar anschließend zu einer großräumigen Veränderung der Oxidschicht in seiner Umgebung. In den EMSI-Bildern zeigt sich dies als großflächige Aufhellung. In diesem Bereich ist die Entstehung neuer Korrosionsherde begünstigt. Diese führen ihrerseits zu der Bildung schädigender Substanzen und somit zu einer weiteren Schwächung der Oxidschicht.

So kommt es zu einer frontartigen Ausbreitung des Gebietes, in dem die Oxidschicht sich geändert hat und Korrosionsherde bevorzugt nukleieren (Abb. 3 a und b). Dies ist verbunden mit einem exponentiellen Anstieg der durch die Korrosionsherde hinterlassenen Grübchen (Abb. 3, schwarze Linie) und einem exponentiellen Anstieg der Stromstärke (Abb. 3 f). Auffallend ist, dass die primären Grübchen am Rande der dem Elektrolyten ausgesetzten Fläche liegen. Höchstwahrscheinlich entstanden sie gerade dort, da der Lack potenzielle Korrosionsherde partiell abschirmt und somit Diffusion nur in eine Richtung möglich ist. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Nukleation. Es ist wichtig zu erwähnen, dass an diesen Stellen kein Anzeichen von Spaltkorrosion zu finden ist, und diese somit als Ursache für den beobachteten Prozess ausgeschlossen werden kann.

Sowohl im Experiment als auch in der numerischen Simulation finden sich ein exponentieller Anstieg der Anzahl der Grübchen und ein rasanter Anstieg der Stromstärke. Am Ende ist die Oberfläche übersäht mit ungefähr 1000 Grübchen, was einer Dichte von ca. 2300 Grübchen/mm2 entspricht. Die Auswertung der Lebensdauer von aktiven Grübchen zeigt deutlich, dass diese endlich ist und im Mittel weniger als 10 s beträgt. Dies ist ein weiteres Argument für unsere Modellvorstellung des Lochfraßes. Die im Experiment beobachtete Sättigung der Anzahl der Grübchen kommt in den numerischen Simulationen nicht vor, da an jedem Gitterpunkt – unabhängig davon, ob an dieser Stelle schon ein Grübchen aktiviert wurde – ein neues Grübchen erzeugt werden kann. Im Experiment dagegen erfolgt die Nukleation bevorzugt an bestimmten Stellen, wie Defekten in der Oxidschicht an Korngrenzen, Kratzern oder Einschlüssen, deren Anzahl begrenzt ist.

Die direkte Beobachtung des Wechselspiels zwischen Veränderungen der Oxidschicht und der Entstehung von neuen Korrosionsherden eröffnet ein neues Verständnis für das plötzliche Einsetzen von Lochfraß und festigt die dem theoretischen Modell zu Grunde liegende Vorstellung von einer auto-katalytischen Vermehrung der Korrosionsherde. Die Existenz der Frontausbreitung beim Übergang von niedrigen zu hohen Korrosionsraten zeigt, dass es sich beim Einsetzen der Lochfraß-Korrosion um einen kritischen kooperativen Effekt handelt [9].

Originalveröffentlichungen

Mousson, M.;
Versuch einer Erklärung des Verhaltens der Salpetersäure zu den oxydierbaren Metallen.
Annalen der Physik 39, 330 (1836).
Heathcoate, H.L.;
Vorläufiger Bericht über Passivierung. Passivität und Aktivierung des Eisens.
Zeitschrift für Physikalische Chemie 37, 368 (1901).
Tronstad, L.;
Optische Untersuchungen an elektrochemisch aktivierten und passivierten Metallspiegeln.
eitschrift für Physikalische Chemie 142, 241-281 (1929).
Tronstad, L.;
Optical Investigations of the Passivity of Metals.
Nature 124, 373 (1929).
Dahl, Per F.;
Heavy Water and the wartime race for nuclear energy,
Institute of Physics Publishing, Bristol and Philadelphia 1999.<>
Rotermund, H.H., G. Haas, R.U. Franz, R.M. Tromp and G. Ertl
Imaging pattern-formation in surface-reactions from ultrahigh-vacuum up to atmospheric pressures.
Science 270, 608-611 (1995).
Organ, L., J.R. Scully, A.S. Mikhailov and J.L. Hudson, J.L.
A spatiotemporal model of interactions among metastable pits and the transition to pitting corrosion.
Electrochimica Acta 51, 225-241 (2005).
Punckt, C., M. Bölscher, H.H. Rotermund, A.S. Mikhailov, L. Organ, L., N. Budiansky, J.R. Scully and J.L. Hudson
Sudden onset of pitting corrosion on stainless steel as a critical phenomenon.
Science 305, 1133-1136 (2004).
Dornhege, M., C. Punckt, J.L. Hudson and H.H. Rotermund, H.H.;
Spreading of Corrosion on Stainless Steel: Simultaneous Observation of Metastable Pits and Oxide Film.
Journal of The Electrochemical Society 154, C24-C27 (2007). http://edoc.mpg.de/269376, online since 2006-11-03
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