Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Dynamik und Plastizität der Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde

Dynamics and plasticity of information processing in the cerebral cortex

Autoren
Galuske, Ralf A. W.
Abteilungen

Neurophysiologie (Prof. Dr. Wolf Singer)
MPI für Hirnforschung, Frankfurt/Main

Zusammenfassung
Die Signalverarbeitung in der Großhirnrinde wird maßgeblich von den zugrunde liegenden Verbindungsstrukturen bestimmt. Bisherige Konzepte dazu bauen im Wesentlichen auf der Rolle von feed-forward-Verbindungen auf, die primäre und höhere kortikale Areale verbinden. Dieser Ansatz vernachlässigt jedoch, dass auch in der Gegenrichtung massive Projektionen Signale von höheren Arealen zurück in die primären sensorischen Hirnareale bringen. Wir haben die funktionelle Rolle solcher feed-back-Verbindungen durch Kombination von optischen und elektrophysiologischen Ableitemethoden mit reversiblen Deaktivierungsmethoden untersucht und konnten zeigen, dass feed-back -Verbindungen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von sensorischen Eingangssignalen spielen. Des Weiteren wurde untersucht, wie erfahrungsabhängige Plastizität von kortikalen Repräsentationen gesteuert wird. Diese Studien ergaben, dass die Induktion von plastischen Veränderungen in kortikalen Netzwerken entscheidend vom Kontext und globalen Aktivierungszustand, in dem die entsprechenden Reize präsentiert werden, abhängen.
Summary
In the cerebral cortex information processing strongly relies on the connectivity between different areas. So far, investigations have concentrated on the role of feed-forward connections linking lower areas to higher order centers. However, there is also a dense network of feed-back connections which transmit signals back to the primary sensory areas. We have investigated the role of these connections using optical and electrophysiological recording techniques in combination with reversible deactivation methods and showed that feed-back connections exert a strong influence over the neuronal processes in early sensory areas. Moreover, we investigated how use-dependent cortical plasticity is related to different states of cortical processing and found that only in states of high frequency oscillatory activity, which are related to wakefulness and attention, an enhancement of the representations of repetitively experienced stimuli can be induced.

Integration von feed-forward- und feed-back- Signalen im visuellen Kortex

In frühen sensorischen Arealen der Grosshirnrinde sind viele der Eigenschaften der zu verarbeitenden Information in so genannten „Karten“ in kolumnärer Weise repräsentiert. In den frühen kortikalen Verarbeitungsarealen des visuellen Systems bilden Eigenschaften wie z.B. die Orientierung von Konturen oder die Bewegungsrichtung von visuellen Reizen die Basis dieser komplexen Repräsentationen (Abb. 1).

Derzeitige Konzepte zur Verarbeitung von sensorischen Informationen basieren auf der Annahme, dass verschiedene subkortikale Zentren und kortikale Areale die eingehenden Signale in hierarchischer Reihenfolge sequenziell analysieren und so die Grundlage für die kartenartigen Repräsentationen bilden. Eine solches, als „bottom-up“ bezeichnetes Verarbeitungskonzept vernachlässigt allerdings die Tatsache, dass neben den in der Hierarchie vorwärts (feed-forward) gerichteten Verbindungen auch ein noch dichteres Netzwerk von Rückprojektionen (feed-back-Verbindungen) besteht, durch das hierarchisch höher stehende Areale Signale zurücksenden können. Wir haben in den vergangenen Jahren begonnen, die physiologischen Eigenschaften dieser Rückprojektionen näher zu charakterisieren. Als Modell dient uns das visuelle System von Katzen. Ähnlich wie im visuellen System von Primaten lassen sich hier zwei getrennte Verarbeitungspfade grob unterscheiden, die Form und Bewegung getrennt in einer Kette von reziprok miteinander verbundenen Hirnarealen mit zunehmender Komplexität verarbeiten.

Um die Rolle von feed-back-Signalen zu untersuchen, haben wir höhere Areale im parietalen Pfad, der sich vornehmlich mit der Verarbeitung von Bewegungsinformationen befasst, durch Kühlung reversibel deaktiviert und gleichzeitig mithilfe optischer und elektrophysiologischer Ableitemethoden visuell evozierte Aktivität im primären visuellen Kortex untersucht (Abb. 2). Ein wesentliches Ergebnis dieser Experimente ist, dass die Deaktivierung dieser höheren Areale deutliche Aktivitätsverringerungen in frühen visuellen Arealen bewirkt. Zusätzlich zeigte sich, dass die Repräsentationen von Bewegungen nicht nur schwächer, sondern auch qualitativ verändert werden (Abb. 3). Insbesondere sehr bewegungsselektive Neurone veränderten in Abwesenheit von feed-back-Signalen ihr Feuerverhalten sehr stark bis hin zum völligen Erliegen der Antworttätigkeit.

Die Ergebnisse dieser Experimente zeigen, dass feed-back-Signale eine essenzielle Rolle bei der Signalverarbeitung in frühen visuellen Arealen spielen: Zum einen wurde durch die Deaktivierung von höheren, Bewegungsinformation verarbeitenden Arealen im parietalen Kortex global die visuell evozierte Aktivität deutlich reduziert, zum anderen wurde die Repräsentation von Bewegungsrichtungen, die so genannte Richtungskarte, massiv verändert (Abb. 3). Feed-back-Signale sind somit in zweierlei Hinsicht sehr wichtig für die Verarbeitung von einlaufenden Informationen: Einerseits wird durch diese Signale das Aktivitätsniveau global erhöht und dies führt zur Verstärkung der Eingangssignale; andererseits kontrolliert die feed-back-Aktivität sehr spezifisch die Bewegungssensitivität der Neurone und formt damit die entsprechenden Repräsentationen, wodurch eine bessere Analyse der einlaufenden Signale ermöglicht wird. Dieser Effekt der feed-back-Aktivität kommt insbesondere bei der Analyse komplexer Stimuluskonfigurationen zum Tragen, deren Interpretation die Koordination der Aktivität von Neuronenverbänden erfordert, die über eine große Fläche verteilt liegen. Diese Koordination der Aktivität scheint sich in der zeitlichen Struktur von Aktivitätsmustern auszudrücken. Wir konnten beobachten, dass durch Wegfall der feed-back-Aktivität die präzise Synchronisation der neuronalen Antworten in primären visuellen Arealen reduziert wird und die damit einhergehende Feldpotenzial-Aktivität im hochfrequenten γ-Bereich (30-70 Hz) signifikant abnimmt (Abb. 3). Diese Daten legen nahe, dass die neuronalen Prozesse, die der Wahrnehmung zugrunde liegen, nicht nur auf der seriellen Verarbeitung einlaufender Informationen beruhen, sondern dass die lokalen Prozesse der globalen Kontrolle von hierarchisch höhergestellten Großhirnbereichen unterworfen sind und dadurch Teilinformationen nach globalen Ordnungskriterien zusammengefügt werden. Laufende Untersuchungen setzen an dieser Stelle an und versuchen herauszustellen, wie diese Interaktionen im Detail ablaufen und welche Faktoren die Aktivitätsmuster in höheren Arealen der Großhirnrinde beeinflussen.

Plastizität sensorischer Repräsentationen im visuellen Kortex

Nicht nur der auf einer sehr engen Zeitskala ablaufende Prozess der Interaktion von feed-back- und feed-forward-Interaktionen ist wichtig für die Verarbeitung von Sinnesinformationen, sondern auch der jeweilige Zustand der verarbeitenden Neuronennetze. Dieser Zustand kann in erheblichem Umfang von vorhergehenden Wahrnehmungen abhängen, da diese zu plastischen Veränderungen führen können, die als Lernprozesse in Erscheinung treten. In der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, dass die wiederholte Konfrontation mit demselben Stimulus eine Verbesserung (Sensibilisierung) oder eine Verschlechterung (Adaptation) der Wahrnehmung des jeweiligen Stimulus nach sich ziehen kann -so stellt sich die Frage nach den neuronalen Prozessen, die bei wiederholter Stimuluspräsentation zu Funktionsänderungen führen und welche Faktoren diese Veränderungen bestimmen. Wir formulierten die Hypothese, dass der allgemeine Aktivierungszustand für diese Prozesse eine maßgebliche Rolle spielt. Dieser wird entscheidend durch die Aktivität von Hirnstammzentren, insbesondere der Formatio Retikularis, gesteuert, die indirekt über den Neuromodulator Acetylcholin die globale Aktivität im Neokortex beeinflusst und auf diese Weise die oszillatorische Aktivität und die zeitliche Struktur von neuronalen Antworten stark verändern kann. In Phasen der Ruhe oder im Schlaf ist die Aktivität dieser Hirnstammstruktur gering und die oszillatorische Aktivität im Kortex liegt im Bereich von niedrigen Frequenzen (1-10Hz). In Phasen der Wachheit und des aktiven Verarbeitens von Sinnesinformationen ist diese modulierende Aktivität deutlich erhöht und es kommt zu schnellen Oszillationen im γ-Bereich (30-70 Hz). Gleichzeitig werden die Entladungsmuster der kortikalen Neurone mit einer Präzision im Millisekundenbereich synchronisiert. Um unsere Hypothese zu testen, haben wir die wiederholte Präsentation von visuellen Reizen mit elektrischer Reizung der Formatio Retikularis gepaart. Dabei zeigte sich, dass sich die Repräsentationen der wiederholt gezeigten Stimuli deutlich vergrößerten, während eine Abnahme der Signalstärke für diese Stimuli zu verzeichnen war, wenn die visuellen Reize ohne die Hirnstammaktivierung wiederholt dargeboten wurden (Abb. 4). Diese Effekte waren sehr eng an das Vorliegen von γ-Oszillationen gekoppelt, und auch auf dem Niveau von einzelnen Neuronen ließ sich nachweisen, dass sich die Antworteigenschaften der Zellen entsprechend veränderten: Fand die wiederholte Präsentation der Stimuli in Phasen erhöhter γ-Aktivität statt, so antworteten die Neuronen im Folgenden besser auf diese Stimuli; war die γ-Aktivität nicht erhöht, so antworteten die Zellen später schlechter auf die wiederholt gezeigten Reize.

Diese Ergebnisse zeigen, dass der Kontext, in dem Reize verarbeitet werden, nicht nur eine wesentliche Rolle für die aktuelle Reizverarbeitung spielt, sondern dass er darüber hinaus die lang anhaltenden Veränderungen der verarbeitenden Strukuren nachhaltig bestimmt. Ferner zeigen diese Daten, dass die Induktion von plastischen Veränderungen in der Großhrinrinde ein zeitkritischer Prozess ist. In Phasen hoher γ-Aktivität sind die neuronalen Antworten im Millisekundenbereich synchronisiert und die Effizienz der synaptischen Übertragung zwischen den dann gleichzeitig aktiven Neuronen nimmt zu. In Phasen, in denen diese präzise Synchronisation nicht zustande kommt, werden die synaptischen Verbindungen abgeschwächt. Genau diese Veränderungen sind von dem kanadischen Psychologen Donald Hebb in den 1949 formulierten Lernregeln vorausgesagt worden. Unsere Experimente bestätigen diese Voraussage nunmehr auf systemischer Ebene.

Originalveröffentlichungen

Galuske, R. A. W., K. E. Schmidt, R. Goebel, S. G. Lomber, and B. R. Payne:
The role of feedback in shaping neural representations in visual cortex.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 99, 17083-17088 (2002).
Galuske, R. A. W.:
Reticular activation facilitates use-dependent plasticity in cat visual cortex.
European Journal of Neuroscience 12 (Suppl.11), 206.2 (2000).
Hebb, D. O.:
The Organization of Behavior.
Wiley, New York (1949)
Tusa, R. J., L. A. Palmer, and A. C. Rosenquist:
Multiple cortical visual areas: Visual field topography in the cat.
In: Woolsey, C. N. (ed.): Cortical sensory organisation, Vol. 2. Humana Press, Clifton, NJ, USA (1981).
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