Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern

Die Psyche von Unternehmen, Verbänden und Staaten

Autoren
Engel, Christoph
Abteilungen
Zusammenfassung
Durch Psychologie und experimentelle Ökonomie wissen wir viel über das Verhalten von Individuen. Doch in unserer sozialen Umgebung haben wir gar nicht oft mit isolierten Individuen zu tun. Meist begegnen wir so genannten korporativen Akteuren wie Institutionen, Firmen oder Verbänden. Das gilt erst recht für den regulierenden Staat. Doch über das Verhalten korporativer Akteure ist kaum etwas bekannt.

Unternehmen haben keine Seele. Verbände haben kein Herz. Staaten haben kein Gehirn. Was macht die Rede von der Psyche dieser Organisationen also für einen Sinn? Und doch sagen wir: Dieses Unternehmen ist ängstlich geworden. Dieser Verband kämpft verbissen. Dieser Staat ist gewissenlos. Und damit meinen wir nicht: Der Vorstandsvorsitzende ist ängstlich. Die Mitglieder des Verbandes sind aggressiv. Die Angehörigen des diplomatischen Korps haben ihr abendländisches Ethos verloren. Wir meinen auch nicht bloß: Das Unternehmen muss sich das Verhalten seiner Organe zurechnen lassen. Der Verband haftet, wenn in seinem Namen Unrecht geschieht. Der Staat ist anderen Staaten dafür verantwortlich, dass sich seine Behörden und Gerichte an die Regeln des völkerrechtlichen Verkehrs halten. Es geht uns also nicht bloß um Rechtsfolgen. Wenn wir von Organisationen sprechen, als wären es Personen, ist das mehr als ein Kunstgriff. Wir wollen uns nicht nur die Mühe sparen, jeweils auszubuchstabieren, wer da jeweils im Innern der Organisation mit wem in welcher Weise zusammengewirkt hat. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass die Verbandspersönlichkeit real ist. Wir betrachten korporative Akteure als autonome Wesen.

Wer heutzutage als Psychologe ernst genommen werden will, der schreibt kein Buch über die Seele. Für Theologen mag es weiter schicklich sein, über den Weg der Seele in das Himmelreich zu spekulieren. Die meisten Psychologen verstehen sich dagegen als Naturwissenschaftler. Sie wollen mit Experimenten ergründen, welche Veränderung der Umwelt mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welcher Veränderung des Verhaltens führt. Mit weiteren Experimenten wollen sie die vermittelnden mentalen Mechanismen aufdecken. Nicht wenige wollen all das schließlich auf elektrische und chemische Vorgänge im Gehirn zurückführen. Ist die Vorstellung von der Psyche korporativer Akteure nicht genauso vorwissenschaftlich wie die Vorstellung von der Seele des Menschen? Können bloß naive Beobachter glauben, dass Unternehmen ängstlich sind?

Ja und nein. Wer nach dem Sitz der Psyche im Körper des Unternehmens sucht, der wird so wenig fündig werden wie die ersten Anatomen bei der Suche nach dem physischen Organ der Seele. Aber es macht viel Sinn, nach den Faktoren zu fragen, die das Verhalten korporativer Akteure bestimmen. Sie liegen nicht bloß in der Umwelt, sondern auch im Innern des Akteurs. Dabei kann man als Wissenschaftler die gleichen Beobachtungsebenen wählen wie beim Individuum. Welche Veränderung der Situation führt zu welcher Veränderung des Verhaltens? Mit welcher Interaktion im Innern des korporativen Akteurs kann man diese Veränderung erklären? Wie lässt sich diese Interaktion auf die jeweilige Ausstattung des korporativen Akteurs mit Ressourcen zurückführen?

Wem nutzt eine Analyse der Psyche korporativer Akteure?

Wenn sie in einer zugänglichen Sprache geschrieben ist, verkauft sich Psychologie gut. Sie bedient das Bedürfnis, mehr über sich selbst zu erfahren. Dasselbe Bedürfnis haben korporative Akteure. Der Manager will verstehen, warum das Unternehmen schon wieder langsamer war als die Konkurrenz. Der Geschäftsführer des Interessenverbandes leidet darunter, dass ihn die Mitgliedsunternehmen hindern, Chancen im politischen Prozess wahrzunehmen. Die Medien beklagen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahrzehnt so oft selbst blockiert hat.

Doch auch Dritte können davon profitieren, dass sie wissen, wie das Verhalten individueller oder korporativer Akteure zu Stande kommt. Wenn sie dem Akteur nicht ausweichen können, erlaubt ihnen ihr generisches Wissen, sich besser darauf einzustellen. Es fällt ihnen leichter, den Akteur zur Kooperation zu bewegen. Vielleicht wollen sie ihn auch zum eigenen Vorteil manipulieren. Andernfalls wäre die Werbepsychologie nicht solch ein einträgliches Gewerbe. Schließlich erreicht auch der intervenierende Staat mehr, wenn er das Verhalten der Regulierungsadressaten versteht. Das erlaubt ihm, das regelungsbedürftige Problem präziser zu definieren. Und er hat eine bessere Chance, den Effekt der regulierenden Intervention richtig zu prognostizieren. All das gilt für korporative Akteure nicht minder.

Das Interesse als erste Näherung

Wenn wir nicht wissen, wie sich eine Person verhalten wird, fragen wir uns: Welches Verhalten läge denn in ihrem Interesse? Wie wir nachträglich sehen, haben wir damit oft nicht falsch gelegen. Die Ökonomie hat aus dieser einen Frage ein Forschungsprogramm gemacht, das die ganze Disziplin ein Jahrhundert lang beschäftigt hat. Sie unterstellt dabei, dass jedermann ausschließlich an seinen eigenen Nutzen denkt, und dass er unterstellt, dass auch jeder andere so handelt. Das Programm ist mittlerweile so hoch entwickelt, dass es Vorhersagen mit mathematischer Präzision machen kann. Auf dieser Grundlage sind insbesondere auch Aussagen für den häufigen Fall möglich, dass der Nutzen des einen vom Verhalten eines anderen abhängt. In solchen Situationen strategischer Interaktion kann man aus dem beobachteten Verhalten nicht mehr direkt auf die langfristigen Ziele einer Person schließen. Das Verhalten kann vielmehr auch darauf beruhen, was diese Person von anderen weiß oder erwartet.

All das gilt sehr weitgehend auch für das Verhalten korporativer Akteure. Nur einen wichtigen Unterschied gibt es. Einem Individuum kann man nicht in den Kopf sehen. Man kann allenfalls hoffen, dass es sich durch sein Mienenspiel oder durch seine Körpersprache verrät. Die Bildung des korporativen Willens ist dagegen viel leichter zu beobachten. Ein anschauliches Beispiel sind demokratische Staaten. Ja, Dritte haben gar nicht so selten sogar eine Chance, auf die Bildung des korporativen Willens Einfluss zu nehmen. Der ausländische Staat finanziert dann etwa die Opposition.

Systematische Abweichungen beim Individuum

Nachdenkliche Ökonomen haben ihr Modell nie für eine Beschreibung der Wirklichkeit gehalten. Sie wussten, dass die Menschen keine Maschinen zur Maximierung des Lebenseinkommens sind. Ihnen war klar, dass die meisten von uns nicht nach Grundsätzen entscheiden, für deren Analyse ein kluger Ökonom Monate gebraucht hat. Auch im Mittel größerer Gruppen oder nach längeren Perioden des Lernens stimmt die Wirklichkeit oft nicht mit den Vorhersagen des Rationalmodells überein. Mittlerweile ist eine ganze Heerschar experimenteller Ökonomen den empirischen Abweichungen von den Vorhersagen des Modells auf der Spur. Diese kollektive Anstrengung hat schon zu einem beachtlichen Korpus von Befunden geführt. Man weiß etwa, unter welchen Bedingungen die meisten Menschen (oder wenigstens die meisten Versuchspersonen) kooperieren, obwohl es kurzfristig rational wäre, Kooperation zu verweigern. Und man weiß, mit welchen kognitiven Problemen die meisten Menschen nicht gut zurechtkommen. So sind wir etwa fast alle lausige Laien-Statistiker.

Die beschränkte Bedeutung der Entscheidungen von Individuen

Was nützt uns dieses Wissen aber, wenn die meisten praktisch relevanten Entscheidungen nicht von isolierten Individuen getroffen werden? Für den regulierenden Staat und damit für die Rechtsordnung ist es besonders schlimm. Direkte Gebote oder Verbote an Individuen gibt es kaum. In zwei Jahrtausenden ist zu den zehn Geboten nicht so fürchterlich viel dazu gekommen. Aus den letzten beiden Jahrzehnten mag man noch hinzufügen: Du sollst deinen Sicherheitsgurt anlegen, und: Du sollst deinen Müll trennen. Wann immer das möglich ist, wendet sich der regulierende Staat stattdessen an Unternehmen oder Verbände. Er schreibt also nicht etwa ins Gesetz: Du sollst nicht sportlich fahren (weil das dem Klima schadet). Vielmehr verpflichtet er die Hersteller, Katalysatoren in die Autos einzubauen und deren Benzinverbrauch zu reduzieren. Offensichtlich ist der Staat also überzeugt, dass korporative Akteure leichter zu steuern sind als Individuen.

Der wichtigste Grund hat mit der Frage nach der Psyche korporativer Akteure nichts zu tun. Es gibt in der Bundesrepublik etwa fünfundfünfzig Millionen Kraftfahrzeuge, aber nicht viel mehr als ein Dutzend Hersteller. Deshalb sinken die Regulierungskosten dramatisch, wenn sich der Staat an die Hersteller wendet. Aber das ist nicht der einzige Grund. Die Hersteller stehen im Wettbewerb. Wenn sie gar zu lange ignorieren, dass sich die Chancen für den Absatz ihrer Produkte verändern, werden sie aus dem Markt gedrängt. Dahinter steht ein allgemeiner Umstand: Organisationen sind Zweckschöpfungen. Sie können schon die Ausstattung mit Ressourcen und die Interaktion im Innern auf die selbst gewählte Aufgabe ausrichten. Notfalls kann die Rechtsordnung nachhelfen. Das tut sie etwa, wenn Unternehmen verpflichtet werden, einen Störfallbeauftragten zu beschäftigen.

Was bestimmt das Verhalten korporativer Akteure?

Es gibt also Gründe zu vermuten, dass das Verhalten von Organisationen näher an den Erwartungen des Rationalmodells liegt als das Verhalten von Individuen. Dass sich Organisationen einfach wie Nutzenmaximierer verhalten, folgt daraus aber nicht. Letztlich handeln im Innern von Organisationen keine Maschinen, sondern Menschen. Mit Selektion und Training mag man den jeweiligen Inhaber einer Position vor manchen Verirrungen bewahren. Andere am Individuum belegte Abweichungen vom Rationalmodell schlagen dagegen auf das Verhalten korporativer Akteure durch. So werden die angestellten Manager von Unternehmen in der Nähe des Konkurses regelmäßig genauso risikofreudig wie Einzelunternehmer. Andere Abweichungen von den Erwartungen des Rationalmodells ergeben sich gerade aus der Interaktion mehrerer Individuen im Innern von Organisationen. So wirkt sich die Gruppenpsychologie aus. Sie kann etwa dazu führen, dass sich die Deutung der Situation immer mehr von der Wirklichkeit entfernt.

Wieder andere Abweichungen beruhen gerade darauf, dass jeder einzelne Angehörige der Organisation seinen je eigenen Nutzen verfolgt. Dann erklärt etwa der Wettbewerb in einer Branche, warum der Branchenverband gegenüber dem Gesetzgeber so kraftlos auftritt. Wunderliche Ergebnisse können auch eine Folge der Mechanismen sein, mit denen der Wille der Mitglieder zum Willen der Organisation verdichtet wird. So kann man etwa zeigen, dass die Entscheidung für die Verlegung der Bundeshauptstadt nach Berlin eine vorhersehbare Folge des gewählten Abstimmungsverfahrens war.

Schließlich hat schon Aristoteles gelehrt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das Interesse der Organisation löst sich auf Dauer von den Interessen seiner Mitglieder. Diese Beobachtung kann man auf verschiedene Weisen erklären. Man kann unmittelbar beim Ganzen ansetzen und beschreiben, wie sich der Diskurs über das Organisationsinteresse verselbstständigt. Man kann stattdessen auch bei den Handlungen der Mitglieder beginnen und die Mechanismen beschreiben, mit denen Wirkungen entstehen, die keiner so geplant, vielleicht auch keiner so gewollt hat. Für dieses Phänomen der Emergenz gibt es eine Fülle anspruchsvoller Modelle.

Letztlich ist die Frage nach dem Verhalten korporativer Akteure selbstverständlich eine empirische. Man muss beobachten und daraus allgemeine Schlüsse ziehen. Diese Schlüsse muss man, wo immer möglich, unter kontrollierten, und das heißt experimentellen Bedingungen überprüfen. Hier ist noch fast alles zu tun. Diese Zeilen wollten nur zwei Dinge erreichen: auf die Fragestellung hinweisen und erste Überlegungen zu einem konzeptionellen Rahmen andeuten, der die empirische Arbeit mit Hypothesen versorgt.

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