Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik

Neue Symmetriestrukturen in der Stringtheorie

Autoren
Kleinschmidt, Axel
Abteilungen

Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien (Prof. Dr. Hermann Nicolai)
MPI für Gravitationsphysik, Golm

Zusammenfassung
Wir stellen einen am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut, AEI) entwickelten neuen Zugang zur Definition einer vereinheitlichten Theorie der vier bekannten Fundamentalkräfte vor. Dieser Vorschlag basiert auf der Analyse von Symmetrien in der Stringtheorie.

Symmetrien als Leitprinzip der theoretischen Physik

Fortschritt in der theoretischen Physik ist im Wesentlichen der Schritt vom Speziellen zum Allgemeinen. Ecksteine der Entwicklung bilden hierbei häufig Entdeckungen weithin gültiger Prinzipien, welche die „Spielregeln“ einer Theorie festlegen. Spätestens seit Einstein werden oft Symmetrien als Leitprinzip physikalischer Theorien ausgemacht.

Die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins ist in eine rein geometrische Sprache gefasst. Diese Theorie beschreibt die Gravitationskraft und die Entwicklung des Universums durch die gekrümmte Raumzeit. In der Geometrie sind die fundamentalen Objekte zum Beispiel Gerade oder Kugel; hierbei ist es unwesentlich, wie man einen bestimmten Punkt auf einer Kugel bezeichnet, solange die Bezeichnung eindeutig ist. So ist zum Beispiel 52°23’ nördlicher Breite, 12°58’ östlicher Länge eine eindeutige Bezeichnung für einen bestimmten Ort bei Berlin, jedoch ist die Wahl der Nullpunkte der Längen- und Breitengrade (Nullmeridian bei Greenwich bei London bzw. der Äquator) willkürlich. Diese (gewollte) Mehrdeutigkeit der mathematischen Modellierung bezeichnet man als „Koordinateninvarianz“. Es sei betont, dass alle physikalisch relevanten, d.h. einer Messung zugänglichen, Größen unabhängig von der Wahl eines Koordinatensystems sind: Der Abstand zwischen Berlin und Paris hängt nicht von der Lage des Nullmeridians ab. Nun kann je nach Problemstellung eine bestimmte Wahl der Koordinaten nützlicher sein als eine andere. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die Theorie mathematisch so zu fassen, dass sie einen Wechsel des Koordinatensystems zulässt. Man sagt, dass die Allgemeine Relativitätstheorie Koordinateninvarianz als grundlegende Symmetrie besitzt.

Neben der oben beschriebenen Gravitationswechselwirkung gelten noch drei weitere Kräfte als fundamental: Hierbei handelt es sich um die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung. Diese drei Kräfte werden im so genannten Standardmodell der Teilchenphysik adäquat in der Form von Eichtheorien beschrieben. Das charakteristische Merkmal einer Eichtheorie ist seine Eichsymmetrie, wie man sie zum Beispiel schon beim Elektromagnetismus (nach Maxwell) findet. Die mit der Symmetrie einhergehende Mehrdeutigkeit der Beschreibung – ähnlich der Lage des Nullpunktes im Kugelbeispiel oben – entspricht zum Beispiel bei der elektromagnetischen Eichsymmetrie der Wahl eines Nullpunktes für das so genannte elektrische Potenzial und ebenso für das magnetische Vektorpotenzial. Somit sind alle vier bekannten fundamentalen Kräfte wesentlich über Symmetrien charakterisiert.

Vereinheitlichung und Symmetrievergrößerung

Die Analyse von Elementarteilchenkollisionen in Teilchenbeschleunigern hat gezeigt, dass zentrale Kenngrößen der Eichtheorien sich mit der in der Kollision umgesetzten Energie verändern. Eine solche Kenngröße misst zum Beispiel die Stärke der beschriebenen Kraft. Die derzeit gemessenen Stärken der Kräfte stimmen hervorragend mit den aus dem Standardmodell berechneten überein. Durch theoretische Überlegungen ist es zudem möglich, die Stärke der drei Standardmodellkräfte bei Energien weit jenseits der momentan zugänglichen Energien vorherzusagen. Solche Untersuchungen legen nahe, dass bei einer sehr hohen Energie die Stärken dieser drei Kräfte identisch werden sollten. Die hierfür vorhergesagte Energie übersteigt allerdings die umgesetzten Energien des momentan im Bau befindlichen Large Hadron Collider (LHC)am CERN in Genf ungefähr um das Billionenfache. Die Gleichheit der Stärken der Standardmodellkräfte ist ein gutes Indiz dafür, dass die drei nicht-gravitativen Kräfte möglicherweise einen gemeinsamen Ursprung haben, der erst bei niedrigen Energien unkenntlich wird. Eine ähnliche Idee wurde erfolgreich auf die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung angewandt, die sich in eine einzige, so genannte elektroschwache Kraft zusammenfassen lassen. Die Zusammenführung verschiedener Kräfte wird im Rahmen des Standardmodells immer durch eine Vergrößerung der Eichsymmetrie bei hohen Energien bewirkt. Hierunter versteht man, dass in diesem Energiebereich physikalische Zustände durch eine Symmetrietransformation („Nullpunktsverschiebung“) ineinander übergeführt werden können, für die dies bei niedrigen Energien noch nicht möglich war.

Die Gravitationskraft nimmt in dieser Diskussion eine Sonderrolle ein. Es ist eine große Herausforderung der theoretischen Physik, die Gravitation und das Standardmodell der Teilchenphysik aus einer einzigen Theorie abzuleiten. Die Schwierigkeit des Problems beruht auf der schlechten Verträglichkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik. Die Quantenmechanik ist jedoch gleichzeitig unentbehrlich für das Standardmodell. Dieses fundamentale Problem der theoretischen Physik wird in der Abteilung „Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien“ des AEI untersucht. Die erfolgversprechendsten Zugänge zu diesem Problem sind derzeit die Stringtheorie und die kanonische Quantengravitation, auch bekannt als Schleifen-Quantengravitation. Von einem

einheitlichen Verständnis der vier fundamentalen Kräfte im Sinne einer umfassenden Quantengravitation könnten wichtige Impulse für benachbarte Forschungsgebiete der Physik, wie der Astrophysik oder der Kernphysik, ausgehen.

Dieser Beitrag verfolgt die Frage: Gibt es ein Symmetrieprinzip, durch das eine einheitliche Beschreibung aller vier Fundamentalkräfte erreicht werden kann? Im Folgenden soll ein am AEI mitentwickelter Vorschlag für eine solche Struktur vorgestellt werden. Die vorgeschlagene unendlichdimensionale Symmetrie basiert auf der Analyse von durch die Stringtheorie motivierten Abwandlungen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Diese als Supergravitationstheorien bezeichneten Abwandlungen geben in vielen Belangen Aufschluss über die Struktur der vollen Stringtheorie.

Dynamik in Urknallnähe und kosmologische Billardspiele

Die für hohe Energien vorhergesagte Symmetrievergrößerung im Standardmodell zeigt, dass theoretische Modelle in bestimmten „Grenzfällen“ Aufschluss über eine fundamentale Symmetriestruktur geben können. Im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie ist ein solcher Grenzfall das Verhalten der Raumzeitgeometrie in zeitlicher Nähe zum Urknall. Es ist bekannt, dass sich die Dynamik in dieser extremen Situation sehr gut durch einige wenige relevante zeitabhängige Variablen darstellen lässt. Dies ist eine enorme Vereinfachung, da normalerweise für jeden Punkt der Raumzeit mehrere raumzeitabhängige Größen berechnet werden müssen. Die im Grenzfall relevanten Variablen beschreiben die Ausdehnung des Universums im Raum. Geht man also wie Einstein von einer vierdimensionalen Raumzeit aus, so handelt es sich um drei relevante Variablen; in der Supergravitationstheorie sind zehn relevante Variablen nötig. Diese Variablen kann man sich nun als Koordinaten eines imaginären Punktteilchens („Billardkugel“) vorstellen. Die Kräfte, die auf dieses Teilchen wirken, reduzieren sich in Urknallnähe auf das Aufstellen von „Billardbanden“ im Raum der zehn Variablen, an denen das Teilchen bei seiner Bewegung abprallen kann. Die spezifische Lage der Billardbanden im Fall der Supergravitationstheorie stimmt überraschenderweise mit der Lage von Banden überein, wie sie bei einem abstrakten mathematischen Objekt namens E(10) auftritt [1]. Dieses mathematische Objekt wird in der Fachsprache als hyperbolische Kac-Moody-Lie-Algebra bezeichnet, wobei die „10“ in E(10) unmittelbar mit den zehn relevanten Variablen zusammenhängt. Dass die unendlichdimensionale E(10) eine Beziehung zur Stringtheorie oder zur Supergravitation hat, lässt sich aus der gewöhnlichen Beschreibung dieser Theorien nicht erkennen. Daher wird E(10) als „versteckte“ Symmetrie bezeichnet.

Das sich aus dieser Analyse ergebende Bild lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Dynamik des Universums in unmittelbarer Nähe zum Urknall kann äquivalent durch die Bewegung einer Billardkugel beschrieben werden. Der zehndimensionale Billardtisch, auf dem sich die Kugel bewegt, ist identisch mit zehn ausgezeichneten Richtungen in der Kac-Moody-Lie-Algebra E(10), wobei die Position der Banden durch die mathematische Struktur vorgegeben wird.

Neuer Zugang: Das Universum als Teilchen im unendlichdimensionalen Raum

Das unerwartete Auftreten der unendlichdimensionalen Struktur E(10) in der Nähe des Urknalls wirft die Frage auf, inwieweit man eine E(10)-Symmetrie verwirklichen kann, wenn man sich nur ein wenig weiter vom Urknall entfernt. Bei dieser leichten „Lockerung“ des extremen Grenzfalls müssen zusätzliche relevante Variablen berücksichtigt werden, die vorher keinen entscheidenden Beitrag zur Dynamik lieferten. Die Untersuchungen am AEI zu einigen dieser Variablen in den Supergravitationsgleichungen ergaben wesentliche Korrekturen zum oben beschriebenen Billardbild. Entscheidend ist jedoch, dass erneut ein Zusammenhang mit der Bewegung eines imaginären Teilchens in einem von E(10) bestimmten Hilfsraum gefunden wurde [2]. Nunmehr ist dieser Hilfsraum von größerer Dimension, da mehr relevante Variablen berücksichtigt werden, und die Bewegung ist nicht mehr die einer Billardkugel. Statt einer geradlinigen Bewegung bis zur Reflektion an einer Billardbande hat der Billardraum nun eine gekrümmte Form, auf der sich das Teilchen auf so genannten Geodäten bewegt. Geodäten sind die Verallgemeinerung gerader Linien in gekrümmten Räumen. Ein Beispiel für Geodäten sind die so genannten Großkreise auf der gekrümmten Erdoberfläche, wie etwa der Äquator. In der Allgemeinen Relativitätstheorie bewegt sich Licht auf geodätischen Linien in der gekrümmten Raumzeit. Aus diesem Grund können wir gelegentlich hinter Sterne schauen, da das Licht eine gebogene Bahn um sie herum ausführt. Das am AEI mitentwickelte oben diskutierte geodätische Modell besitzt die unendlichdimensionale E(10)-Symmetrie und wird hier im Folgenden als E(10)-Modell bezeichnet.

Die Anzahl der Variablen, für die das geodätische E(10)-Modell bisher überprüft wurde, ist endlich. Hingegen würde man erwarten, dass der natürliche Billardraum mit E(10)-Struktur ein unendlichdimensionaler Raum ist. Die Extrapolation der Übereinstimmung für einige der endlich vielen Richtungen mit endlich vielen der relevanten Größen der Supergravitationsgleichungen führt zu der Vermutung, dass die volle Struktur der Supergravitation oder gar der Stringtheorie äquivalent durch einen verallgemeinerten Billardball im unendlichdimensionalen E(10)-Raum beschrieben werden kann. Insofern würde die komplette Entwicklung des Universums auf eine geodätische zeitabhängige Bewegung in einem unendlichdimensionalen Raum abgebildet.

Eigenschaften des E(10)-Modells

Obwohl die Kac-Moody-Algebra E(10) schon seit fast 40 Jahren in der Mathematik bekannt ist, hat bis heute niemand eine handhabbare Beschreibung für die unendlichdimensionale Struktur als Ganzes gefunden. Ein wesentlicher Fortschritt in der Analyse des E(10)-Modells wurde am AEI durch die Einführung der so genannten Level-Zerlegung erreicht [3]. Hierbei betrachtet man die unendlichdimensionale Struktur von E(10) als unendlichen Stapel endlichdimensionaler Schichten.

Dies ist in Abbildung 1 dargestellt, aus der auch ein weiterer wichtiger Aspekt der Level-Zerlegung ersichtlich ist: Es gibt viele verschiedene Wege, die Scheiben des unendlichen Stapels zu wählen; für jede mögliche Wahl sehen die mathematischen Strukturen auf den einzelnen Scheiben unterschiedlich aus. Die Berechnung der Level-Zerlegung für viele Scheiben wurde am AEI standardisiert und als Computerprogramm implementiert. Beachtenswerterweise ergab sich bei einer Analyse verschiedener Schichtungen eine Übereinstimmung mit verschiedenen Dualitätsvermutungen innerhalb der Stringtheorie. Diese 1995 aufgestellten Dualitätsvermutungen behaupten, dass augenscheinlich inäquivalente Stringtheorien in sehr indirekter Weise doch äquivalent sein können. Diese unerwartete Verwandtschaft verschiedener Stringtheorien hat eine Suche nach der alle Stringtheorien umfassenden M-Theorie ausgelöst. Die am AEI durchgeführten Studien belegen, dass das E(10)-Modell mit den bekannten Eigenschaften der M-Theorie konsistent ist [4], [5].

Ausblick

Die gegenwärtigen Untersuchungen in diesem Gebiet am AEI befassen sich vorrangig mit zwei Fragestellungen:
Zuerst ist eine dringliche Frage, inwieweit die E(10)-Symmetrie Schritt für Schritt in größerer zeitlicher Entfernung vom Urknall erhalten bleibt. Ziel ist es also eine größere Zahl an Variablen in die Korrespondenz zwischen dem E(10)-Modell und der Stringtheorie einzubauen. Hierbei gibt es zwei unterschiedliche Arten von Variablen. Zum einen sind dies weitere Veränderliche der Supergravitationstheorie, die im Wesentlichen mit einer größeren Variabilität der Raumzeit zusammenhängen. Zum anderen sind dies neue Variablen aus der Stringtheorie, die allein nicht in der reinen Supergravitationstheorie auftauchen. Aus der Level-Zerlegung gibt es Anzeichen, dass es möglich sein könnte, sämtliche Variablen der Allgemeinen Relativitätstheorie in den E(10)-Rahmen einzubauen.[2,6]. Im Falle der Bestätigung dieser Hypothese würde dies eine radikal neue Sicht auf die Struktur der Raumzeit liefern, da Einsteins gekrümmte Raumzeit nicht mehr als Grundlage angenommen wird, sondern aus der unendlichdimensionalen E(10)-Symmetrie entsteht. Dies bezeichnet man als „Emergenz“ der Raumzeit.

Die zweite sich anschließende Frage betrifft die Rolle der fermionischen Teilchen im E(10)-Modell. Im gegenwärtigen Bild der Teilchenphysik ist die Materie aus fermionischen Teilchen aufgebaut, die über die als Bosonen bezeichneten Teilchen wechselwirken. Ein Beispiel für ein Wechselwirkungsteilchen ist das Photon. Viele theoretische Physiker erwarten, dass es eine fundamentale Symmetrie zwischen fermionischen und bosonischen Teilchen gibt. Diese so genannte Supersymmetrie ist experimentell derzeit weder bestätigt noch widerlegbar. In der Stringtheorie ist Supersymmetrie ein wesentlicher Baustein, wobei viele auf Supersymmetrie basierende Aussagen der Stringtheorie am AEI auch durch die Analyse des E(10)-Modells abgeleitet werden konnten. Dennoch ist es eine wichtige Frage, inwieweit Fermionen konsistent in das E(10)-Modell eingebaut werden können. Erste Untersuchungen ergaben positive Anzeichen für die Verträglichkeit von Fermionen mit E(10). Hierbei wird auch mathematisches Neuland betreten, da die mathematischen Spielregeln für diese fermionischen Teilchen noch gänzlich unbekannt sind.

Symmetrien wurden einleitend als ein Leitprinzip der theoretischen Physik identifiziert. Die weitere Erforschung des hier vorgestellten, auf der unendlichdimensionalen E(10)-Symmetrie basierenden Modells könnte Erkenntnisse über die Struktur der Raumzeit liefern und eine Zusammenführung aller vier bekannten fundamentalen Kräfte erlauben (Ch. Hillmann, A. Kleinschmidt, H. Nicolai).

Originalveröffentlichungen

T. Damour, M. Henneaux:
E10, BE10 and Arithmetical Chaos in Superstring Cosmology
Physical Review Letters 86, 4749-4752 (2001)
T. Damour, M. Henneaux, H. Nicolai:
E10 and a Small Tension Expansion of M Theory
Physical Review Letters 89 221601 (2002)
H. Nicolai, T. Fischbacher:
Low level Representations for E10 and E11
In: Kac Moody Lie Algebras and related topics, Madras (2002), 191-227
A. Kleinschmidt, H. Nicolai:
E10 and SO(9, 9) invariant supergravity
Journal of High Energy Physics 0407, 041 (2004)
A. Kleinschmidt, H. Nicolai:
IIB supergravity and E10
Physics Letters B 606, 391-402 (2005)
A. Kleinschmitt, H. Nicolai
Gradient representations and affine structures in AE(n)
Classical and Quantum Gravity 22, 4457-4488 (2005)
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