Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Das zerebrale Subjekt: Gehirn und Selbst in Geschichte und zeitgenössischer Kultur

Autoren
Vidal, Fernando
Abteilungen

Ideale und Praktiken der Rationalität (Prof. Dr. Lorraine Daston)
MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Zusammenfassung
Ein Projekt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte untersucht historische und zeitgenössische Formen des „Hirnsubjekts“: die Vorstellung, wonach das Gehirn der einzige Teil des Körpers ist, den wir brauchen, um wir selbst zu sein. Diese Idee ist in den philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen des späten 17. Jahrhunderts verwurzelt und seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den industrialisierten und hoch medikalisierten Gesellschaften die vorherrschende Form geworden, in der Menschsein gedacht wird.

Lange Zeit hat man gedacht, dass das Gehirn einer Person A, wenn es in den Körper einer Person B transplantiert würde, nicht Person B ein neues Gehirn, sondern Person A einen neuen Körper verschaffe. Michael Gazzaniga, ein führender amerikanischer Neurowissenschaftler, kommentierte dieses Gedankenexperiment 2005 in seinem Buch The Ethical Brain: „Diese simple Tatsache macht deutlich, dass Du Dein Gehirn bist.“ Diese Schlussfolgerung ist zwar keine Tatsache, und sie wird auch nicht dem komplexen Begriff der menschlichen Identität gerecht. Dennoch ist die Überzeugung des Neurowissenschaftlers kein Zeichen von Einfältigkeit, sondern belegt, wie sehr die Vorstellung vom Menschen als zerebrales Subjekt kulturell verankert ist. Ein Projekt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte untersucht dieses zeithistorische Phänomen, das seit der Mitte des 20. Jahrhundert bedeutsam geworden ist, mit dem für das gesamte Forschungsprofil des Instituts charakteristischen Forschungsansatz: Es geht darum, das Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft in einem langfristigen historischen Kontext zu verstehen.

In Le Philosophe et le Scalpel von 1993 brachte der französische Philosoph Stéphane Ferret die Idee des Hirnsubjekts auf die Formel: „Person A ist identisch mit Person B nur dann, wenn A und B ein und dasselbe funktionsfähige Gehirn haben.“ Der Mensch braucht demnach sein Gehirn, um er selbst zu sein, aber der Rest des Körpers ist austauschbar. Wo das Gehirn ist, da ist die Person. Daher sind seit den 1990er-Jahren, die als Dekade des Gehirns proklamiert wurden, Bilder des Gehirns aus der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) Ikonen der modernen Menschheit, Portraits des individuellen Selbst und Symbole der Möglichkeiten und Grenzen moderner Wissenschaft geworden (Abb. 1).

In den 1990er-Jahren wurde behauptet, dass die Neurowissenschaften unsere Auffassung vom Selbst, vom freien Willen und von Verantwortung revolutionieren und viele Bereiche der Gesellschaft verändern würden: vom Rechtswesen über die Bildung, die öffentliche Gesundheitsfürsorge bis zum Steuerwesen. Auch die Einstellungen gegenüber Phänomenen wie Gewalt, Sucht, Lernen, sexuellen Unterschieden oder Orientierungen würden sich wandeln. Diese Prognosen waren voll Hoffnung, teilweise waren sie aber auch bloß „Hype“. Die wissenschaftliche Langzeitanalyse der Erfolgsgeschichte des Hirnsubjekts und der noch jüngeren „Neurokulturen“ möchte dieses zentrale gesellschaftliche Phänomen verstehen und sie hilft dabei, die Behauptungen und Moden, die die Entdeckungen in den Neurowissenschaften begleitet haben, nüchtern zu betrachten.

Die Wurzeln der Idee des zerebralen Subjekts in der frühen Neuzeit

Wenn Neurowissenschaftler sich über die Geschichte ihrer Disziplin äußern, neigen sie dazu, die Gewissheit, dass „wir unser Gehirn sind“, als notwendige Konsequenz neurowissenschaftlichen Fortschritts, als Triumph der empirischen Wissenschaften über den „traditionellen“ Glauben an die Seele oder den Dualismus von Geist und Körper zu beschreiben. Die historische Analyse zeigt aber, dass das Hirnsubjekt als Denkfigur in der neurowissenschaftlichen Forschung eher ein motivierender Faktor oder sogar eine grundlegende Annahme war, und nicht ihr Ergebnis. Insofern ist sie durchaus mit der kritisierten Tradition vereinbar.

Mit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts begannen die Philosophen, Naturphänomene nach Gestalt, Größe, Position und Bewegung mikroskopischer Partikel zu erklären. Physische Körper unterschieden sich jetzt nicht mehr durch die Natur ihrer Substanz, sondern durch die mechanischen Eigenschaften der Partikel, aus denen sie sich zusammensetzten. Da nach dieser Sichtweise alle Objekte aus denselben Arten von Partikeln bestehen und diese Partikel daher austauschbar sind, verlor die materielle Beständigkeit als grundlegendes Element von Identität und Ähnlichkeit materieller Körper an Bedeutung.

Der britische Philosoph John Locke erkannte, dass die korpuskulare Philosophie tief greifende Folgen für die Vorstellung von persönlicher Identität hatte. In seinem epochalen Essay Concerning Human Understanding von 1694 trennte er die Persönlichkeit von der Materie. Er redefinierte die „Person“ als Kontinuität von Gedächtnis und Bewusstsein und behauptete, dass das Bewusstsein, wenn es im kleinen Finger angesiedelt wäre und dieser Finger von der Hand abgeschnitten würde, diesen Finger zur Person machen würde, die nichts mehr mit dem Rest des Körpers zu tun hätte. Theoretisch konnte das Selbst demnach jeder beliebigen Substanz zugeschrieben werden; in der Praxis wurde es dem Gehirn zugeordnet, als dem Organ, das für die psychologischen Funktionen verantwortlich war, die es definierten. Im Jahr 1760 malte der Genfer Naturalist und Philosoph Charles Bonnet aus, was passiert wäre, wenn man Montesquieus Gehirn der Seele eines „Wilden“ hätte vererben können. Er war sich sicher, dass dann „Montesquieu selbst noch tätig wäre“. Die Unsterblichkeit eines der größten Philosophen der Aufklärung schien von nichts anderem abzuhängen als vom Überleben seines Gehirns.

Gehirne in Gefäßen, Gehirne auf Scans

Bonnets Spekulationen sind eine der frühesten Ausführungen zur Idee vom Menschen als ein zerebrales Subjekt – sie sind viel älter als alles, was als bedeutende neurowissenschaftliche Entdeckung bezeichnet werden kann. In den folgenden Jahrhunderten haben Philosophen das Problem der persönlichen Identität immer wieder mit Hilfe von Gedankenexperimenten über Gehirntransplantationen oder über die Konservierung von Gehirnen in Gefäßen ausgelotet (Abb. 2).

Richtig in Mode kamen Gedankenexperimente über das Gehirn jedoch in den 1960er-Jahren. Seitdem hat die Idee des Menschen als Gehirn viele Formen jenseits von Neurophilosophie und Neurowissenschaften angenommen. In der Bioethik und der medizinischen Ethik diskutiert man den Hirntod, Gehirninterventionstechniken oder Hirntransplantationen; die „Neuroethik“ hat sich als neues Feld etabliert, und „Neurorecht“ befasst sich mit den Auswirkungen neurowissenschaftlicher Entdeckungen auf Theorie und Praxis des Justizwesens. Seit den 1990er-Jahren haben sich mehrere neue Forschungsfelder gebildet. Sie heißen Neurotheologie, Neuropädagogik, Neuroästhetik, Neuropsychoanalyse, Neuromarketing oder Neuroökonomie. Dadurch, dass verschiedene Visualisierungstechniken des Gehirns verfügbar sind, vor allem die PET (Positronen-Emissions-Tomographie) und die fMRI (Funktionelle Magnetresonanztomographie), und durch die verbreitete Publikation von Abbildungen, sowohl in populären wie auch in wissenschaftlichen Medien, konzentriert sich die Forschung meist auf die Suche nach „neuralen Korrelaten“ von Verhalten und geistigen Prozessen. Sowohl die Breitenmedien als auch die spezialisierten Medien berichten viel über diese Untersuchungen. Sie informieren auch über neue Formen von Sozialität und Identitätspolitik, die sich in der wachsenden Bewegung der „Neurodiversität“ herausbilden. Die Medien waren entscheidende Faktoren im Prozess, Gehirnscans zu modernen Ikonen des Menschseins zu machen.

Neurokulturen

Forscher in den „Neuro“-Gebieten gehen davon aus, dass die Neurowissenschaften unsere Auffassung vom Selbst neu definieren, alte philosophische Fragen neu aufwerfen und den Menschen vor neue ethische, gesellschaftliche und juristische Herausforderungen stellen. Dass diese Behauptungen so widerspruchslos akzeptiert werden, obwohl dafür nur wenige und dazu sehr zweifelhafte Belege vorliegen, ist ein Zeichen für die derzeitige Wirkungsmacht des zerebralen Subjekts als Bild vom Menschen. Dasselbe gilt für das „neurokulturelle“ Universum von Überzeugungen und Praktiken, das in enger Wechselbeziehung mit den wissenschaftlichen Aktivitäten gewachsen ist. Dieses Universum erstreckt sich von „Neurobics“-Kursen zur Stärkung unserer „Gehirnmuskulatur“ und zur „Verjüngung des Gehirns“ bis zu „neuroeschatologischen“ Spekulationen über die Unsterblichkeit durch Gehirnkonservierung. Besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich Schriftsteller, Filmemacher und bildende Künstler mit der Beziehung zwischen Gehirn, Körper und Selbst beschäftigt und sich damit aktiv an den zeitgenössischen Debatten über Bio-Identitäten und Bio-Sozialitäten beteiligt (Abb. 3).

Das Projekt „Das zerebrale Subjekt: Gehirn und Selbst in Geschichte und zeitgenössischer Kultur“ (www.brainhood.net) erforscht die beschriebenen Phänomene aus verschiedenen Perspektiven. Es untersucht sowohl Wissenschaft und Medizin seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als auch jene außerwissenschaftlichen Vorstellungen und Praktiken, die letztlich das Selbst und die Definition des Menschen betreffen und reale Konsequenzen für reale Menschen haben.

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