Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik

Oberflächenlegierungen: Eine Materialklasse mit riesiger Rashba-Spinbahnkopplung

Autoren
Henk, Jürgen
Abteilungen

Theorie-Abteilung (Prof. Dr. Jürgen Kirschner)
MPI für Mikrostrukturphysik, Halle (Saale)

Zusammenfassung
Die Oberflächenlegierung Bi/Ag(111) zeigt eine ungewöhnlich große Aufspaltung der Oberflächenbandstruktur. Rechnungen zur elektronischen Struktur belegen, dass dieser Effekt auf die Rashba-Spinbahnkopplung zurückzuführen ist. Insbesondere ist die planare Inversionsasymmetrie innerhalb der Oberflächenschicht für den unerwartet großen Effekt verantwortlich. Diese Ergebnisse ebnen den Weg zur Überprüfung theoretischer Vorhersagen für zweidimensionale Elektronengase mit Rashba-Spinbahnkopplung.

Rashba-Effekt an Metalloberflächen

Die Spinbahnkopplung manifestiert sich in der elektronischen Struktur von Festkörpern auf mannigfache Weise. So führt sie beispielsweise in magnetischen Proben zur magnetokristallinen Anisotropie und ist die Ursache des Magnetischen Dichroismus in der Röntgenabsorption. Ein weiteres einzigartiges Beispiel ist der Rashba-Effekt in zweidimensionalen Elektronengasen [1]. Dessen Elektronen bewegen sich innerhalb einer Ebene frei (xy), sind jedoch in senkrechter Richtung „eingesperrt“ (z).

Die Spinbahnkopplung, also die Kopplung von orbitalem Drehimpuls und Spin des Elektrons, ist in einer nichtrelativistischen Formulierung proportional zum Gradienten des Potenzials, in dem sich das Elektron bewegt. Sie besteht aus mehreren Beiträgen. Das Coulomb-Potenzial der Ionenrümpfe erzeugt eine Aufspaltung der Rumpfniveaus sowie Lücken in der Valenzbandstruktur. Schwere Elemente besitzen demnach ein größere Spinbahnkopplung als leichte Elemente: So nimmt dieser „atomare Beitrag“ in der Reihe Cu-Ag-Au zu.

Ein weiterer Beitrag zur Spinbahnkopplung tritt auf, falls die Inversionssymmetrie des Volumenkristalls gebrochen ist, wie zum Beispiel im Zinkblendegitter. Dieser Dresselhaus-Beitrag führt ebenfalls zu Bandlücken, auch wenn die Elemente vergleichsweise leicht sind (z. B. GaAs) [2].

An Grenzflächen ist die Inversionssymmetrie naturgemäß gebrochen (strukturelle Inversionsasymmetrie, SIA). Ein zweidimensionales Elektronengas, wie es zum Beispiel in Halbleiter-Heterostrukturen auftritt, ist innerhalb der Bandverbiegungszone lokalisiert [1]. Die Bandverbiegung entspricht einem Potenzialgradienten, der senkrecht zur Grenzfläche ausgerichtet ist (senkrechte SIA), und resultiert im Rashba-Beitrag zur Spinbahnkopplung. Letzterer führt zu spinpolarisierten elektronischen Zuständen. Der Rashba-Effekt hebt somit die Kramers-Entartung der elektronischen Zustände auf, welche mittels De-Haas-van-Alphen-Oszillationen nachgewiesen werden kann [3].

Das Standardmodell für den Rashba-Effekt beruht auf einem isotropen zweidimensionalen Elektronengas. Der Gradient des Potenzials senkrecht zur Bewegungsebene des Elektronensystems entspricht einem elektrischen Feld. Dessen Pendant ist, relativistisch betrachtet, ein effektives Magnetfeld im Ruhesystem des Elektrons, welches in einer Zeeman-Aufspaltung resultiert. Letztere ist deshalb proportional zum Elektronenimpuls (Geschwindigkeit).

In der Bandstruktur (Dispersionsrelation) äußert sich der Rashba-Effekt in einer Verschiebung der zunächst entarteten Bandparabeln gegeneinander (Abb. 1). Die Impulsverteilung besteht aus konzentrischen Kreisen, dem „inneren“ (rot) und dem „äußeren“ (blau). Die Spinpolarisation dieser beiden elektronischen Zustände ist vollständig (100%) und tangential ausgerichtet (innerhalb der xy-Ebene und senkrecht zur Ausbreitungsrichtung; Pfeile). Aufgrund der Zeitumkehrsymmetrie bleibt das System nichtmagnetisch. Die Stärke des Rashba-Effekts wird durch den Rashba-Parameter quantifiziert, der den atomaren und den Grenzflächenbeitrag zur Spinbahnkopplung berücksichtigt.

An Metalloberflächen sind ähnliche Effekte wie in Halbleiter-Heterostrukturen zu erwarten. Die Rolle des zweidimensionalen Elektronengases übernehmen hier Oberflächenzustände, das sind in den äußersten Atomschichten der Probe lokalisierte elektronische Zustände. Der Potenzialgradient wird durch die Oberflächenbarriere zum Vakuum, das so genannte Bildladungspotenzial, erzeugt. Der Rashba-Effekt führt dann zu einer spinpolarisierten, aufgespaltenen Oberflächenbandstruktur.

Der Rashba-Effekt wurde intensiv am Oberflächenzustand von Au(111) untersucht [4].
Letzterer kann als paradigmatische Realisierung des Standardmodells (vgl. Abb. 1) an Metalloberflächen angesehen werden [5]. Der Rashba-Parameter ist mit 0,33 eV Å deutlich größer als der von Elektronengasen an Halbleitergrenzflächen (typisch 0,07 eV Å). Für Cu(111) und Ag(111) ist die atomare Spinbahnkopplung zu klein, um die Aufspaltung eindeutig zu verifizieren.

Riesiger Rashba-Effekt in Oberflächenlegierungen: Bi/Ag(111)

Wird Bi auf die Ag(111)-Oberfläche aufgebracht, so kann es eine geordnete Oberflächenlegierung mit einer Überstruktur bilden (Abb. 2). Innerhalb der Bi-Schicht bildet sich ein Oberflächenzustand, der eine unerwartet große Rashba-Aufspaltung zeigt [6] (Abb. 3): Der experimentell bestimmte Rashba-Parameter ist mit 3,05 eV Å ca. 9-mal so groß wie der von Au(111). Eine Erklärung im Rahmen des Standardmodells des Rashba-Effekts ist kaum möglich, da atomarer und Grenzflächenbeitrag zur Spinbahnkopplung für die gemessene Aufspaltung viel zu klein sind. Um den experimentellen Befund dennoch zu erklären, wurden umfangreiche Rechnungen zur elektronischen Struktur durchgeführt.

Heutige Ab-initio-Rechnungen zur elektronischen Struktur sind in der Lage, Experimente qualitativ und quantitativ zu reproduzieren, wie für den Rashba-Effekt von Au(111) gezeigt wurde [7]. Die Bestimmung der elektronischen Struktur erfolgt dabei aus ersten Prinzipien, das heißt im Rahmen der lokalen Spindichtenäherung der Dichtefunktionaltheorie. Zunächst werden die genauen Positionen der Oberflächenatome berechnet (vgl. Abb. 2), da diese maßgeblich die Elektronenstruktur bestimmen. Die unten gezeigten theoretischen Resultate wurden mit der Korringa-Kohn-Rostoker-Methode für Schichtsysteme (layer-KKR) gewonnen. Diese Vielfachstreumethode ist besonders gut zur Beschreibung niedrigdimensionaler Systeme, wie Ober- und Grenzflächen, geeignet. Durch Lösen der Dirac-Gleichung anstelle der Schrödinger-Gleichung sind alle relativistischen Effekte berücksichtigt, insbesondere die Spinbahnkopplung. Die spektrale Dichte, die aus der Green-Funktion des Systems abgeleitet wird, erlaubt eine detaillierte Analyse der elektronischen Struktur.

Die Übereinstimmung der berechneten Oberflächenbandstruktur von Bi/Ag(111) mit der experimentellen zeigt, dass die Theorie alle wesentlichen Merkmale des Experiments enthält (Abb. 3). In der Tat ist die Spinbahnkopplung der Ursprung der großen Aufspaltung: Letztere verschwindet, falls die Spinbahnkopplung abgeschaltet wird. Andere Ursachen für den Effekt können daher ausgeschlossen werden.

Die theoretischen Resultate weisen jedoch auf deutliche Unterschiede zum Standardmodell des Rashba-Effekts hin. So ist die Spinpolarisation erheblich aus der Oberflächenschicht rotiert. Dieser Effekt und die stark anisotrope Oberflächenstruktur von Bi/Ag(111) legen nahe, dass die riesige Aufspaltung durch einen Potenzialgradienten innerhalb der Bi-Schicht hervorgerufen wird. Neben der Geometrie der Bi/Ag(111)-Oberfläche (vgl. Abb. 2) spricht dafür auch, dass die Bi-Zustände einen signifikanten Anteil von innerhalb der Oberflächenschicht liegenden p-Orbitalen besitzen. Diese planaren p-Orbitale (px-py) „fühlen“ einen Gradienten innerhalb der Bi-Schicht stärker als senkrecht ausgerichtete Orbitale (s-pz), wie sie zum Beispiel in Au(111) auftreten.

Die Erklärung der großen Aufspaltung durch einen planaren Potenzialgradienten kann mittels Ab-initio-Rechnungen nur schwer, wenn überhaupt, überprüft werden. Dieses gelingt jedoch mit Modellrechnungen für ein anisotropes zweidimensionales Elektronengas, welche alle Beiträge zur Spinbahnkopplung enthalten. Deren besonderer Vorteil liegt darin, dass sich letztere individuell an- oder abschalten lassen [8].

In der Tat zeigen die Modellrechnungen eine sehr große Aufspaltung, falls es einen planaren und einen senkrechten Potenzialbeitrag zur Spinbahnkopplung gibt (blau in Abb. 4). Ferner sind die Spinpolarisationen aus der xy-Ebene rotiert, wie in den Ab-initio-Rechnungen. Fehlt indessen der planare Beitrag (grün), ergibt sich eine moderate Aufspaltung, vergleichbar mit der von Au(111). Der planare Beitrag allein ergibt einen sehr geringen Effekt (rot). Das Modell bestätigt somit den neuen Mechanismus für eine riesige Spinbahnaufspaltung in Oberflächenlegierungen.

Das Zusammenwirken von Experiment, Rechnungen zur elektronischen Struktur aus ersten Prinzipien und Modellrechnungen ergibt ein konsistentes Bild der Rashba-Spinbahnkopplung in Oberflächenlegierungen. Der gezielten Suche nach Systemen mit noch größeren Aufspaltungen aufgrund der planaren Inversionsasymmetrie steht somit nichts im Wege. Die Stärke des Effekts ließe sich sogar durch substitutionelle Unordnung genau einstellen. Oberflächenlegierungen würden damit die Überprüfung theoretischer Vorhersagen für zweidimensionale Elektronengase mit Rashba-Spinbahnkopplung erlauben.

Originalveröffentlichungen

Winkler, R.:
Spin-Orbit Coupling Effects in Two-Dimensional Electron and Hole Systems
(Springer, Berlin 2003).
Dresselhaus, G.:
Spin-Orbit Coupling Effects in Zinc Blende Structures
Physical Review 100, 580-586 (1955).
Bychkov, Yu. A. and E. I. Rashba:
Oscillatory effects and the magnetic susceptibility of carriers in inversion layers
Journal of Physics C: Solid State Physics 17, 6039-6045 (1984).
LaShell, S., B. A. McDougall and E. Jensen:
Spin Splitting of an Au(111) Surface State Band Observed with Angle Resolved Photoelectron Spectroscopy
Physical Review Letters 77, 3419-3422 (1996).
Reinert, F.:
Spin–orbit interaction in the photoemission spectra of noble metal surface states
Journal of Physics: Condensed Matter 15, S693-S706 (2003).
Ast, Ch.S., J. Henk, A. Ernst, L. Moreschini, M. C. Falub, D. Pacilé, K. Kern and M. Grioni:
Giant Spin Splitting through Surface Alloying
Physical Review Letters 98, 186807/1-4 (2007).
Henk, J., M. Hoesch, J. Osterwalder, A. Ernst and P. Bruno.
Spin–orbit coupling in the L-gap surface states of Au(111): spin-resolved photoemission experiments and first-principles calculations
Journal of Physics: Condensed Matter 16, 7581-7598 (2004).
Premper, J., M. Trautmann, J. Henk and P. Bruno:
Spin-orbit splitting in an anisotropic two-dimensional electron gas
Physical Review B 76, 073310/1-4 (2007).
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