Forschungsbericht 2007 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut

Der Gründungstext der Kunstgeschichte: Giorgio Vasaris Vite in einer neuen deutschen kommentierten Ausgabe

Autoren
Lemelsen, Katja
Abteilungen
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Zusammenfassung
Ein Projekt am Kunsthistorischen Institut in Florenz widmet sich einer neuen wissenschaftlichen Übersetzung der Vite, dem grundlegenden Werk zur italienischen Kunstgeschichte von Giorgio Vasari. Neben der Kommentierung der circa einhundertundsechzig Künstlerviten, ihrer Kunstwerke und Themen stehen auch Vasaris rhetorische Strategien im Forschungsinteresse, mögliche Subtexte, Fehler, Wiederholungen und Parallelen zu anderen Viten sowie Abweichungen zwischen den beiden Ausgaben der Vite von 1550 und 1568.

Mussten die Herausgeber der letzten deutschen Ausgabe der Vite Vasaris (Abb. 1), Adolf Gottschewski und Georg Gronau, im Vorwort ihres 1916 publizierten ersten Bandes noch einschränkend bemerken, durch ihre Übersiedlung von Florenz nach Deutschland sei die Weiterführung ihrer bereits begonnenen Übersetzung extrem erschwert worden, so können die Herausgeber der im Verlag Klaus Wagenbach erscheinenden Neuausgabe der Vite neunzig Jahre später von einem Umzug in entgegengesetzter Richtung profitieren: Seit Oktober 2006 ist das Projekt der Neuübersetzung und wissenschaftlichen Kommentierung der Vite am Kunsthistorischen Institut in Florenz angesiedelt und somit in jene Stadt zurückgekehrt, die Vasari als Wiege der „modernen Kunst“ galt und die zugleich das Zentrum seines Schaffens bildete. Der Standort Florenz mit seinen reichen Kunstschätzen und insbesondere das Kunsthistorische Institut mit seinen auf italienische Kunst spezialisierten Bibliotheksbeständen bieten für die Neubearbeitung der Vite ein ideales Arbeitsumfeld.

Vasaris Vite – ein grundlegender Quellentext zur Kunst der italienischen Renaissance

Den Impuls zum Verfassen der Künstlerviten bekam der Aretiner Maler und Architekt Giorgio Vasari (1511–1574) nach eigenem Bekunden durch den von ihm frequentierten intellektuellen Kreis um Kardinal Alessandro Farnese Mitte der vierziger Jahre des Cinquecento in Rom. Im Jahr 1550 publizierte er seinen Epoche machenden Beitrag zur Geschichte der Künste unter dem Titel Le vite de' più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani [...] (Abb. 2). Achtzehn Jahre später brachte er sein Werk in einer revidierten und erweiterten Version mit einem leicht veränderten, die Rangfolge der Gattungen umgewichtenden Titel erneut heraus (Abb. 3). Die von Vasari gesammelten Lebensbeschreibungen stellen die erste umfangreiche Sammlung an Biografien der Nach-Antike dar und umspannen einen Zeitraum von rund dreihundert Jahren. Beginnend mit der Geburt Cimabues um 1240 bis in die Gegenwart des Autors liegt der Vitensammlung ein dreiteiliges historisches Modell zugrunde, das sich in eine maniera antica, eine maniera vecchia und eine maniera moderna aufgliedert. Während in der 1550er-Ausgabe Michelangelo – von Vasari dort zur emblematischen Figur der maniera moderna und Höhepunkt aller Kunstentwicklung stilisiert – den Abschluss des gesamten Werks bildet, reichen die Vite in der Edition von 1568 bis zur Autobiografie Vasaris und umfassen rund 160 Lebensbeschreibungen, darunter auch Sammelviten.

Während sich die wissenschaftliche Kunstgeschichte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts weitestgehend darauf beschränkte, Vasaris Künstlerviten für spezifische Forschungsinteressen auszubeuten und dabei die Richtigkeit seiner Angaben zu überprüfen, wurde mit der Arbeit Wolfgang Kallabs (1908) und der kritischen Viten-Ausgabe von Gaetano Milanesi (1878–1885) das Feld für eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Vite in ihrer Gesamtheit als Klassiker der Renaissanceliteratur bereitet. Auch Karl Freys auf einem aufwendigen Quellenstudium beruhende kommentierte Ausgabe einiger früher Viten samt der technischen Einleitungen und Vorworte (1911) war in dieser Hinsicht wegweisend. Neue kritische Ausgaben der Künstlerviten begleiteten und beflügelten diese Forschungsrichtung: So rückten dank der synoptischen Edition der Vite, die unter Paola Barocchi und Rosanna Bettarini (1966–1986) an der Scuola Normale in Pisa erarbeitet wurde, die Unterschiede zwischen beiden Versionen in den Blick. Zuletzt wurde die Edition von 1568 unter der Leitung von André Chastel mit einem auf das Essenzielle beschränkten Kommentar und in einer teils sehr freien Übertragung ins Französische (1984–1989) breiten Leserschichten zugänglich gemacht.

Wozu eine neue, deutsche Ausgabe der Vite Vasaris?

Trotz der fundamentalen Bedeutung der Vite für die Kunstgeschichte existierte bislang keine zuverlässige moderne kommentierte Ausgabe in deutscher Sprache. Die Ausgabe von 1568 wurde erstmals von Ludwig Schorn und Ernst Förster (1832–1849), später von Adolf Gottschewski und Georg Gronau (1904–1927) ins Deutsche übersetzt. Letztere Version präsentierte die Biografien in einer nach Schulen und Gattungen neu geordneten Form und verstellte damit den Blick auf die ursprüngliche Konzeption Vasaris. Die klassische Edition von Ernst Schorn und Ludwig Förster ist, wenn auch sprachlich an vielen Stellen veraltet, im Ganzen zuverlässig. Allerdings fehlen darin Vasaris Einleitung zum Gesamtwerk sowie die Vorworte zu den drei nach Epochen unterteilten Abschnitten der Vite: eine eklatante Lücke, die auch in der Reprint-Version dieser Ausgabe von Julian Kliemann (1983/1988) nur fragmentarisch geschlossen wurde. Doch verwies der Herausgeber bereits damals auf das weiterhin bestehende Desiderat einer „nach dem heutigen Stand der Forschung kommentierten, deutschen Vasari-Ausgabe“ [1].

Versuche, die Schorn/Förster-Edition zu überarbeiten, wurden bereits zu Beginn der 1940er-Jahre unternommen, scheiterten aber an der Fülle des Materials. Eine deutsche Übersetzung der ersten, im Umfang wesentlich geringeren Ausgabe der Vite von 1550 lag bislang überhaupt nicht vor. Doch gerade eine Analyse der zahlreichen Streichungen, Änderungen und Ergänzungen, die die zweite Ausgabe im Vergleich zur ersten aufweist, ermöglicht es, Rückschlüsse auf Vasaris Arbeitsprozess, auf sein Netz an Gewährsmännern und Beratern sowie auf seine sich zwischen den beiden Editionen wandelnde Sicht auf einzelne Künstlerpersönlichkeiten zu ziehen, wie es die neue Edition leistet. Raffael etwa wird erst in der zweiten Ausgabe der Vite zum leuchtenden Gegenpart Michelangelos stilisiert. Jetzt ist er Hofmann par excellence und macht dem eigenbrötlerischen Meister, der noch in der Ausgabe von 1550 als Krönung allen Kunstschaffens von Vasari in den Himmel erhoben worden war, durch seine künstlerischen und moralischen Qualitäten den Rang streitig.

Die neue deutsche Übersetzung überträgt den Text der zweiten Ausgabe der Viten in eine moderne deutsche Fassung, die so textnah wie möglich und zugleich dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und gut lesbar ist. Kritische Stellen, an denen Vasari unklar in der Satzstellung oder der inhaltlichen Logik ist, werden nicht – wie häufig in den früheren Übersetzungen – einfach ausgelassen oder geglättet, sondern in ihrer Eigenart belassen und, wo nötig, mit einem Kommentar versehen. Der Stil Vasaris mit seinen zahlreichen Superlativen, antithetischen Wortstellungen und redundanten Formulierungen bleibt nach Möglichkeit erhalten, darüber hinaus wird versucht, sein rhetorisches Spektrum zwischen anekdotischer Erzählung, dem theoretischen Ton der Traktat-Literatur und moralischer Belehrung weitestgehend ins Deutsche zu übertragen.

Ziel des Forschungsprojekts ist eine deutsche Gesamtausgabe von Vasaris Vite in den Editionen von 1550 und 1568. Es wurde bereits ein Glossar erstellt, das die wichtigsten kunsttheoretischen Termini erläutert. Darüber hinaus werden alle Biografien, Vorworte, Widmungen und die theoretischen Einleitungen zur Architektur, Malerei und Bildhauerei mit einem Kommentar versehen, der die aktuellste Forschungsliteratur berücksichtigt. Bei der wissenschaftlichen Kommentierung der Texte werden über die vielfältigen Aspekte zu den von Vasari genannten Kunstwerken, Bauten und Auftraggebern hinaus nicht nur die Veränderungen zwischen den beiden Editionen von 1550 und 1568 kritisch beleuchtet, sondern auch mögliche Subtexte und rhetorische Strategien aufgezeigt, um dem literarischen Wert der Vite angemessen Rechnung zu tragen. Die vom Anmerkungsapparat gesondert gehaltenen Einführungen in die jeweiligen Lebensbeschreibungen verweisen dagegen in einer zusammenhängenden Darstellung auf die wichtigsten Themen und Topoi jeder einzelnen Vita und betten diese so in die Systematik des Gesamtwerks ein.

Die Bearbeitung des dritten Teils der Vite ist bereits abgeschlossen. Die Ergebnisse werden in einer Taschenbuchausgabe im Verlag Klaus Wagenbach fortlaufend publiziert. Bislang umfasst die Reihe 18 Bände, jährlich erscheinen vier weitere [2]. Die nach neuestem wissenschaftlichen Stand sorgfältig kommentierten und edierten Künstlerviten bieten Kunsthistorikern ein fundiertes Arbeitsinstrument zur monografischen oder themenübergreifenden Forschung, aber auch dem interessierten Laien bieten sie einen informativen und gut lesbaren Einstieg in die Kunst der italienischen Renaissance. Gegenwärtig werden die noch verbleibenden 83 Künstlerbiografien der prima und seconda età – von der Vita Cimabues bis zu jener Luca Signorellis – neu übersetzt und entsprechend den Vorgaben des vorangegangenen Projektabschnitts kommentiert.

Originalveröffentlichungen

G. Vasari:
Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Übersetzt von Ludwig Schorn und Ernst Förster, neu herausgegeben und eingeleitet von Julian Kliemann. Bd. 1.
Worms 1988.
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