Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

Katalyse und Naturstoffsynthese – Eine starke Partnerschaft

Autoren
Fürstner, Alois
Abteilungen

Synthetische Organische Chemie (Prof. Dr. Manfred Reetz)
MPI für Kohlenforschung, Mülheim an der Ruhr

Zusammenfassung
Naturstoffe bilden eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für die Entwicklung neuer Synthesemethoden, besonders im Bereich der homogenen Katalyse. Zugleich stellen sie vortreffliche Werkzeuge und Sonden für biochemische, biologische und medizinische Untersuchungen dar, wie an ausgewählten Beispielen aus dem Labor des Autors gezeigt werden soll.

Einleitung

Die Chemie hat den anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen eine Fähigkeit voraus: Sie ist als einzige auf breiter Front „schöpferisch“, kann also zuvor nicht bekannte Materie mit neuen Eigenschaften kreieren. Dabei waren die Chemiker in der Vergangenheit überaus erfolgreich: So wurden im Verlauf des letzten Jahrhunderts etwa 20 Millionen gut charakterisierte, neue Verbindungen synthetisiert, wovon die überwiegende Mehrzahl „organische“ – also Kohlenstoff-basierte – Substanzen sind.

Trotz dieser einmaligen Befähigung denken viele organische Chemiker beim Stichwort „Synthese“ häufig an die Totalsynthese von Naturstoffen, also den detailgetreuen Nachbau dessen, was die Natur vorgibt. Sie verzichten somit freiwillig auf jenen ureigensten schöpferischen Aspekt ihrer Wissenschaft und glauben trotzdem, dass der Nachbau von Verbindungen aus der Natur zum Besten gehört, was die synthetische Chemie zu leisten im Stande ist.

Dabei steht außer Zweifel, dass auf diesem Gebiet in der Vergangenheit Großes geleistet wurde [1]. Totalsynthesen haben sowohl zur Entdeckung als auch zur Bestätigung einiger der fundamentalsten Theorien der Chemie geführt. Die Erkenntnis, dass es keine „Lebenskraft“, sondern nur physikalische Kräfte und chemische Transformationen gibt (Harnstoff, Wöhler), ist ihr ebenso zu verdanken wie der Beweis der zuvor heftig umstrittenen Theorie vom tetraedrisch koordinierten Kohlenstoff und dessen Fähigkeit Stereoisomere auszubilden, die sich zueinander wie Bild und Spiegelbild verhalten (Glukose, E. Fischer). Auch die Theorie von der Erhaltung der Orbitalsymmetrie hat ihren Ursprung in einer Totalsynthese (Vitamin B12, Woodward und Eschenmoser). Neben solchen erkenntnistheoretischen Durchbrüchen verdankt unsere Gesellschaft der Naturstoffsynthese aber auch erheblichen praktischen Nutzen, da ohne sie die manchmal selbstverständlich erscheinende Vielfalt pharmazeutischer Wirkstoffe, Pflanzenschutzmittel, Vitamine und Aromen nicht zur Verfügung stünde [1].

Dennoch wird an manchen Stellen vorgebracht, dass die Naturstoffsynthese insgesamt zu teuer, aufwendig, langwierig und zu wenig produktiv sei, als dass sie den enormen Mittelbedarf und langen Atem rechtfertigte. Diese Kritik ist unbegründet, wie exemplarisch anhand einiger Fallstudien aus unserem Labor gezeigt werden soll.

Der Weg ist das Ziel

Während die Darstellung von Grund- und Feinchemikalien ohne Einsatz von Katalysatoren heute undenkbar wäre, spielen sie bei der Synthese von Wirkstoffen etwa in der pharmazeutischen Chemie nur eine untergeordnete Rolle; diese weisen daher auch den mit Abstand ungünstigsten Nachhaltigkeitsfaktor auf. Die Entwicklung leistungsfähiger und vor allem selektiver Katalysatoren, die selbst auf fortgeschrittene und damit äußerst wertvolle Intermediate verlässlich anwendbar sind, birgt große Herausforderungen aber auch enorme Chancen für die Weiterentwicklung des methodischen Repertoires. Naturstoffsynthesen bieten ein nahezu ideales Testgelände, um solche neuen Methoden „auf Herz und Nieren“ zu prüfen. Wie groß der Bedarf ist, zeigt sich etwa an der Tatsache, dass bis heute keine Synthese eines anspruchsvollen Zielmoleküls existiert, die ausschließlich auf katalytischen Umsetzungen beruht. Eine Annäherung an dieses Ziel wurde jedoch am Beispiel des Spermidin-Alkaloids Isooncinotin erreicht, bei der zumindest alle wesentlichen Bindungsbildungen metallkatalysiert sind, und zugleich die Kontrolle über die absolute Stereochemie auf katalytischem Weg erfolgte. Dabei kamen übrigens weitgehend Methoden zum Zug, die zuvor in den Mülheimer Labors entwickelt worden waren (Abb. 1) [2].

Das Ziel ist das Ziel

Das aus einem tropischen Meeresschwamm isolierte Makrolid „Iejimalide“ kann aus der natürlichen Quelle nicht in den Mengen gewonnen werden, die für eine sorgfältige Evaluierung seiner vielversprechenden zytotoxischen Eigenschaften nötig wären. Eine klassische Aufgabe der Synthesechemie besteht darin, solche Versorgungslücken zu schließen. Aufgrund der Instabilität des hoch ungesättigten Gerüsts dieser Zielstruktur haben jedoch in diesem Fall die klassischen Methoden versagt [3]. Erst durch Rückgriff auf ein Arsenal moderner, großteils katalytischer Bindungsbildungen ließ sich dieser potente Naturstoff erhalten (Abb. 2). Darunter sticht besonders die ringschließende Alkenmetathese (RCM) hervor, bei der selektiv zwei von insgesamt zehn Doppelbindungen im entsprechenden Zyklisierungsvorläufer aktiviert wurden, wofür es keinerlei Präzedenz gab [4]. Dieser scheinbar kontra-intuitive Weg konnte in der Zwischenzeit soweit optimiert werden, dass ausreichende Mengen nicht nur für biochemische und zellbiologische Untersuchungen, sondern auch für eine präklinische Entwicklung von Iejimalide vorhanden sind.

Was ist das Ziel?

Trotz der Leistungsfähigkeit der modernen spektroskopischen Methoden bleibt die Strukturaufklärung komplexer Naturstoffe ein nicht zu unterschätzendes Problem; die Zahl falscher Strukturen in der Literatur ist daher keinesfalls gering. Dies ist besonders kritisch, wenn eine Verbindung als Leitstruktur für die Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen in Frage käme, wie etwa im Fall der Berkelsäure. Diese Substanz soll als strukturell neuartiger und selektiver Inhibitor der Metalloproteinase MMP-3 wirken, eines Enzyms, das bei einer speziellen Art von Eierstockkrebs überexprimiert wird. Erst beim Versuch, Berkelsäure in den für weitergehende Tests notwendigen Mengen zu erzeugen, zeigte sich der subtile Fehler im ursprünglichen Strukturvorschlag (Abb. 3). Erst die Totalsynthese hat in diesem Fall definiert, worin das Ziel eigentlich besteht [5]. Zugleich wurde mithilfe einer effizienten Kaskade aus Entschützung/1,4-Addition/Spirozyklisierung auch ein produktiver Zugang zu diesem wertvollen, strukturell ungewöhnlichen und biologisch relevanten Wirkstoff eröffnet [5].

Das Ziel neben dem Ziel

Ist erst eine effiziente Syntheseroute ausgearbeitet, so lässt sich auch gezielt von dieser abweichen („diverted total synthesis“) [6]. Auf diese Weise können Verbindungen erzeugt werden, die dem eigentlichen Naturstoff ähneln aber nicht gleichen. Dieses Vorgehen ergänzt die sonst übliche Praxis der Derivatisierung, weil es tief sitzende (Gerüst)Modifikationen erlaubt, die auf konventionellem Weg nicht zu leisten sind.

Ein instruktives Beispiel für dieses Vorgehen bilden die Latrunculine. Diese marinen Naturstoffe binden stark und selektiv an monomeres G-Aktin („globular actin“) und werden seit Jahrzehnten als biochemische Sonden zum Studium des Aktin-Zytoskeletts und seiner vielfältigen biologischen Funktionen genutzt.

Mithilfe der in unserem Labor entwickelten Ringschluss-Alkinmetathese [7] als Schlüsselschritt zum stereoselektiven Aufbau des makrozyklischen Gerüsts konnte zunächst ein produktiver Zugang zu allen bekannten Vertretern dieser Familie an Naturstoffen entwickelt werden [8]. Aufgrund der Konvergenz der eingeschlagenen Route ließ sich im Anschluss – ohne unmäßigen Aufwand – durch gezielte Modifikation der verwendeten Bausteine eine Substanzbibliothek nicht-natürlicher Latrunculine synthetisieren und zellbiologisch evaluieren (Abb. 4). Dabei stellte sich heraus, dass die Relaxation des Rückgrads die Potenz der Verbindungen deutlich erhöht [9]. So erwies sich eine lediglich um zwei unscheinbare Methylverzweigungen „beraubte“ Verbindung als wesentlich aktiver als der eigentliche Naturstoff selbst. Eingehende computerchemische Analysen ergaben einen fundierten Einblick in die Bindung dieses maßgeschneiderten Analogons an das Protein und somit ein Verständnis für diesen unerwartet starken biochemischen Effekt (Abb. 4) [10].

Ausblick

Durch den methodischen Fortschritt im Bereich der homogenen Katalyse im Allgemeinen und der metallorganischen Katalyse im Besonderen gewinnt die Totalsynthese komplexer Naturstoffe heute neue, ungeahnte Möglichkeiten. Dabei wird die Naturstoffchemie insgesamt zunehmend interdisziplinär, und ist im Wechselspiel mit Biologie und Medizin Treibender und Getriebener zugleich. Naturstoffe bilden aufgrund des schier unerschöpflichen strukturellen Fundus auf absehbare Zeit eine wesentliche Quelle der Inspiration sowie eine nicht zu unterschätzende intellektuelle Herausforderung.

Originalveröffentlichungen

K. C. Nicolaou, E. J. Sorensen:
Classics in Total Synthesis: Targets, Strategies, Methods.
Wiley-VCH, Weinheim 1996, 798 p.
B. Scheiper, F. Glorius, A. Leitner, A. Fürstner:
Catalysis-based enantioselective total synthesis of the macrocyclic spermidine alkaloid isooncinotine.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 101, 11960-11965 (2004).
A. Fürstner, C. Aïssa, C. Chevrier, F. Teplý, C. Nevado, M. Tremblay:
Studies on iejimalide B: preparation of the seco acid and identification of the molecule’s “Achilles heel".
Angewandte Chemie 118, 5964-5969 (2006); Angewandte Chemie, International Edition 45, 5832-5837 (2006).
A. Fürstner, C. Nevado, M. Waser, M. Tremblay, C. Chevrier, F. Teplý, C. Aïssa, E. Moulin, O. Müller:
Total synthesis of iejimalide A-D and assessment of the remarkable actin-depolymerizing capacity of these polyene macrolides.
Journal of the American Chemical Society 129, 9150-9161 (2007).
P. Buchgraber, T. N. Snaddon, C. Wirtz, R. Mynott, R. Goddard, A. Fürstner:
A synthesis-driven structure revision of berkelic acid methyl ester.
Angewandte Chemie 120, 8578-8582 (2008); Angewandte Chemie, International Edition 47, 8450-8454 (2008).
R. M. Wilson, S. J. Danishefsky:
Small molecule natural products in the discovery of therapeutic agents: the synthesis connection.
Journal of Organic Chemistry 71, 8329-8351 (2006).
A. Fürstner, P. W. Davies:
Alkyne Metathesis.
Chemical Communications (Cambridge) 2307-2320 (2005).
A. Fürstner, D. De Souza, L. Turet, M. D. B. Fenster, L. Parra-Rapado, C. Wirtz, R. Mynott, C. W. Lehmann:
Total syntheses of the actin-binding macrolides latrunculin A, B, C, M, S and 16-epi-lactrunculin B.
Chemistry - A European Journal 13, 115-134 (2007).
A. Fürstner, D. Kirk, M. D. B. Fenster, C. Aïssa, D. De Souza, O. Müller:
Diverted total synthesis: preparation of a focused library of latrunculin analogues and evaluation of their actin-binding properties.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 102, 8103-8108 (2005).
A. Fürstner, D. Kirk, M. D. B. Fenster, C. Aïssa, D. De Souza, C. Nevado, T. Tuttle, W. Thiel, O. Müller:
Latrunculin analogues with improved biological profiles by “diverted total synthesis”: preparation, evaluation, and computational analysis.
Chemistry - A European Journal 13, 135-149 (2007).
Zur Redakteursansicht