Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Arbeitsgruppen für strukturelle Molekularbiologie am DESY

Strukturgenomik von Mycobacterium tuberculosis – ein Schritt auf dem Weg zu neuen Therapien gegen Tuberkulose?

Autoren
Bartunik, Hans D.
Abteilungen

Proteindynamik (Dr. Hans-Dieter Bartunik)
MP Arbeitsgruppen für strukturelle Molekularbiologie am DESY, Hamburg

Zusammenfassung
Die Gefährdung durch Tuberkuloseerkrankungen nimmt aufgrund zunehmender Resistenzen gegen die Standardmedikamente stark zu. Darüber hinaus weiß man noch sehr wenig über die Mechanismen, mit denen Mycobacterium tuberculosis der Immunabwehr über lange Zeiträume in latenten Zuständen widerstehen und sich dann reaktivieren kann. Die Identifizierung von Genen, die für die Virulenz und das Überleben des Pathogens essentiell sind, die Aufklärung der dreidimensionalen Struktur der von ihnen kodierten Proteine sowie Untersuchungen von Wechselwirkungen mit Liganden schaffen eine wichtige Grundlage für eine mögliche gezielte Entwicklung neuer Wirkstoffe. Ein derartiger Strukturgenomik-Ansatz wurde im Zusammenwirken mehrerer Gruppen auf insgesamt etwa 200 Targetproteine angewandt.

Bedarf an neuen Chemotherapien gegen Tuberkulose

Die Bedrohung durch Tuberkulose (TB) hat sich in den vergangenen Jahren in den Ländern der Dritten Welt und zunehmend auch in Industrieländern erhöht. Insgesamt rechnet die World Health Organisation (WHO) für den Zeitraum von 2000 bis 2020 damit, dass weltweit 200 Millionen Menschen an TB erkranken und 35 Millionen daran sterben. Die Bekämpfung der Krankheit wird durch eine Reihe von Faktoren erschwert. Zum einen kann der Erreger Mycobacterium tuberculosis nach der Infektion und der Einlagerung in Phagozyten in einen latenten Zustand mit stark reduziertem Stoffwechsel übergehen, über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg dem Angriff der Immunabwehr widerstehen und bei einer Schwächung des Immunsystems wieder einen aktiven Zustand annehmen. Durch die pandemische Ausbreitung von HIV/AIDS hat sich die Gefährdung durch TB-Erkrankungen stark erhöht. Zum anderen nimmt die Effizienz der bekannten Anti-TB-Medikamente, die im Wesentlichen nur auf die Pathogene im aktiven Zustand einwirken, in bedrohlicher Weise ab. Der Grund dafür liegt in der wachsenden Resistenz gegen einzelne oder mehrere der Standardmedikamente. Zunehmend wird auch über Fälle berichtet, in denen Resistenzen gegen alle bekannten Antibiotika zurzeit jede aktive Behandlung verhindern.

Die Kenntnis der dreidimensionalen Struktur von Proteinen, die für das Überleben und die Virulenz des Pathogens von Bedeutung sind, schafft eine Grundlage für eine mögliche gezielte Entwicklung neuer therapeutischer Wirkstoffe. Dazu können Verfahren der Strukturgenomik [1] eingesetzt werden. Die Methoden der Proteinkristallstrukturanalyse einschließlich der Probenpräparation wurden in den letzten Jahren zu hoher Effizienz weiterentwickelt. Zumindest im Falle löslicher Proteine können gentechnische Produktion, Aufreinigung und durch Robotik unterstützte Kristallisation bereits mit hohem Durchsatz erfolgen. An den führenden Messstationen für Proteinkristallographie mit Synchrotronstrahlung sind Mess- und Auswerteverfahren verfügbar, die eine schnelle Lösung der Struktur und eine Interpretation ermöglichen. Diese Verfahren wurden im Rahmen des europäischen BIOXHIT-Programms weitgehend automatisiert. Da Proteine unterschiedlicher Funktion zum Teil eng verwandte Faltungen aufweisen, kann die experimentelle Bestimmung der einzelnen Faltungstypen im Prinzip eine Grundlage zur theoretischen Modellierung weiterer Proteine, auch der anderer Organismen, bilden.

Strukturgenomik von Mycobacterium tuberculosis

Im Rahmen des vom BMBF geförderten XMTB-Konsortiums, in dem Gruppen der MPG (MPI für Infektionsbiologie, Max-Planck-Arbeitsgruppen für strukturelle Molekularbiologie), des EMBL Hamburg, des FMP Berlin sowie einige Firmen zusammenarbeiten, wurden in den letzten Jahren Verfahren der Strukturgenomik zur Aufklärung der Röntgenkristallstruktur von Zielproteinen von Mycobacterium tuberculosis und zur Untersuchung von Wechselwirkungen mit niedrigmolekularen Liganden eingesetzt. Dazu wurden insgesamt etwa 200 Targetproteine aufgrund von vergleichenden Proteomanalysen und Genomexpressionsprofilen identifiziert. Ein Beispiel für Targetproteine, deren Struktur an der Synchrotron-Beamline BW6 beim DESY in Hamburg aufgeklärt wurde, stellen Enzyme des Shikimat-Reaktionswegs dar, der von Mycobacterium tuberculosis zur Biosynthese aromatischer Aminosäuren verwendet wird und essentiell ist. Da dieser Reaktionsweg in Säugern nicht vorkommt, sind diese Enzyme interessante Kandidaten für eine mögliche Entwicklung von Antibiotika. In einer Reihe von Fällen wurden nicht nur die Kristallstrukturen der Enzyme und ihrer Komplexe mit Liganden untersucht, sondern auch transiente Änderungen in der Konformation im Verlauf der enzymatischen Reaktion verfolgt. Dazu wurde, wie etwa im Fall der Shikimatkinase [2], die Reaktion durch rasche Eindiffusion eines Reaktionspartners im Proteinkristall initiiert und mithilfe von Kryoverfahren in verschiedenen Schritten angehalten. Auf diese Weise gelang es, den gesamten Reaktionsweg bis zur Katalyse und dem Freiwerden der Endprodukte in einer Abfolge von Kristallstrukturen bei hoher Auflösung zu untersuchen. Die Kenntnis intermediärer Zustände kann von besonderem Interesse für die mögliche Entwickung von Wirkstoffen sein.

Ein weiteres Beispiel stellen Proteine dar, die beim Übergang von Mycobacterium tuberculosis in den latenten Zustand exprimiert werden. Als Antwort auf Sauerstoffmangel wird unter Kontrolle des dosR-Regulons die Transkription von etwa 50 Genen induziert. Einige dieser Gene kodieren hypothetische universelle Stressproteine. In diesem Fall ist zusätzlich zur Bestimmung der Kristallstrukturen die Aufklärung der Funktion der Gene erforderlich. Für eine Reihe von Targetproteinen wurden Ligandenbibliotheken zur Suche (Screening) von Interaktionen mit niedrigmolekularen Verbindungen eingesetzt, die Startpunkte für eine gezielte Entwicklung von Wirkstoffen darstellen können. Die Synthese neuer Verbindungen und erneute experimentelle Untersuchung von Wechselwirkungen könnten in zyklischer Abfolge im Prinzip bis zum möglichen Beginn klinischer Tests führen. Derartige weitere Schritte, die bisher nicht im Rahmen des XMTB-Konsortiums durchgeführt wurden, werden zur Zeit für Enzyme des Shikimatreaktionswegs durch kommerzielle Firmen verfolgt, aufbauend auf den Ergebnissen der Strukturgenomik-Untersuchungen.

Die Verfahren, die im Rahmen von Strukturgenomik-Projekten entwickelt wurden, finden zunehmend Anwendung auch bei der gezielten Untersuchung einzelner Proteine und ihrer Wechselwirkungen mit Liganden und anderen Proteinen. Ein Beispiel stellt die Präparation homologer Proteine von verschiedenen Organismen dar, um die Chancen für die Kristallisation und Strukturanalyse zumindest eines dieser Homologe zu erhöhen und so eine Grundlage für theoretische Modellierung des eigentlichen Zielproteins zu schaffen.

Originalveröffentlichungen

J.M. Chandonia, S.E. Brenner:
The impact of structural genomics: expectations and outcomes.
Science 311, 347-351 (2006).
M.D. Hartmann, G.P. Bourenkov, A. Oberschall, N. Strizhov, H.D. Bartunik:
Mechanism of phosphoryl transfer catalyzed by shikimate kinase from Mycobacterium tuberculosis.
Journal of Molecular Biology 364, 411-423 (2006).
Zur Redakteursansicht