Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Soziale Teilhabe und Intelligenzentwicklung im Alter

Social participation and intellectual development in old age

Autoren
Lindenberger, Ulman
Abteilungen
Zusammenfassung
Kann ein sozial aktiver Lebensstil alterungsbedingte Einbußen der intellektuellen Leistungsfähigkeit abschwächen? Diese Frage wurde am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mithilfe eines Strukturgleichungsmodells zum Testen gerichteter Entwicklungshypothesen an 516 Personen im Alter von 70 bis über 100 Jahren überprüft, die im Rahmen der Berliner Altersstudie über einen Zeitraum von bis zu acht Jahren beobachtet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass soziale Teilhabe Veränderungen in der intellektuellen Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst. Eine Wirkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit auf Veränderungen in der sozialen Teilhabe ließ sich hingegen nicht nachweisen. Die Ergebnisse liefern erstmalig einen direkten empirischen Beleg für den Beitrag sozialer Faktoren zur Intelligenzentwicklung im Alter.
Summary
Does an engaged and active lifestyle in old age alleviate intellectual decline? Researchers at the Max Planck Institute for Human Development approached this question by applying a structural equation model for testing dynamic hypotheses to eight-year longitudinal data from the Berlin Aging Study (n = 516; age range = 70–100+years). Results reveal that, within a bivariate system of perceptual speed and social participation, prior scores of social participation influence subsequent changes in perceptual speed, while the opposite does not hold. Results support the hypothesis that an engaged and active lifestyle in old and very old age has beneficial effects on intellectual development in old age.

Intelligenz im Lebensverlauf: Mechanik und Pragmatik

Variabilität gehört zu den wesentlichen Merkmalen intellektueller Leistungsfähigkeit im Alter. Manche Personen erhalten und steigern ihre geistigen Fähigkeiten bis ins höchste Alter – man denke an Sophokles, Johann Wolfgang von Goethe oder Hans-Georg Gadamer. Bei anderen lässt sich bereits vor Erreichen des siebzigsten Lebensjahres ein deutlicher Rückgang der Leistungsfähigkeit nachweisen. Ähnlich groß wie die Unterschiede zwischen Personen sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Fähigkeiten. So nimmt die Wahrnehmungsgeschwindigkeit bereits nach dem Ende des Jugendalters stetig ab. Auf der anderen Seite zeigen Kompetenzen wie Wortschatz und allgemeines Weltwissen bis zum hohen Alter Stabilität und Gewinne.

Diese Multidirektionalität der geistigen Entwicklung im Erwachsenenalter und Alter hat zu einer Reihe von Begriffspaaren geführt, an deren Anfang die vom Philosophen Johann Nicolaus Tetens 1777 eingeführte Unterscheidung zwischen absoluten Kräften und relativen Vermögen steht. Demnach werden absolute Vermögen, oder nach Baltes [1] die Mechanik der Intelligenz, von biologischen Einflüssen dominiert und erfassen die Schnelligkeit, Genauigkeit und Koordination elementarer kognitiver Prozesse. Hingegen beziehen sich relative Vermögen, oder nach Baltes [1] die Pragmatik der Intelligenz, auf Leistungen, bei denen das im Laufe des Lebens erworbene Wissen im Vordergrund steht. Gewinne in der Pragmatik der Intelligenz sind keine direkte Folge des Älterwerdens an sich, sondern der mit dem Lebensalter verknüpften Lernprozesse. Tetens [2] beschrieb den Unterschied zwischen den beiden Fähigkeitsbündeln wie folgt:

„Die relativen Vermögen, oder besondere Geschicklichkeiten, müssen gleichfalls im Menschen ihr Maximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung von allen Virtuosen lehret. Doch ist dieser Punkt von dem Punkt des Größten in den absoluten Kräften unterschieden. Die letztern haben oft genug ihre höchste Stufe schon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewissen bestimmten Arten zu handeln nicht nur sich vervielfältigen und also an Ausdehnung zunehmen, sondern auch an innerer Stärke und Geschwindigkeit noch fortwachsen. Dieses Wachsthum kann weit in die Periode der Abnahme der absoluten Kräfte hineingehen.“

Die Mechanik der Intelligenz im Alter: Quellen der Plastizität

Im Brennpunkt der Altersforschung steht nun die Frage, ob und in welchem Maße geistige Fähigkeiten, die der Mechanik zuzurechnen sind, gegen Abbau geschützt und gesteigert werden können. Dies ist die Frage nach der Plastizität der Mechanik der Intelligenz im Alter. Im Rahmen der kognitiven Altersforschung werden vor allem drei Einflussgrößen diskutiert: geistiges Training, körperliche Fitness und soziale Teilhabe. Pharmakologische Interventionen, die direkt in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen, sind weniger weit fortgeschritten, langfristig jedoch von großer Bedeutung.

Erwiesen ist, dass sich durch geistige Trainingsprogramme, etwa durch das Erlernen und Üben von Gedächtnistechniken, auch im Alter Leistungsgewinne in der trainierten Fertigkeit, etwa dem Einprägen von Wortlisten, erzielen lassen. Offen ist, ob solche Interventionen lediglich aufgabenspezifisches Wissen erzeugen (Anreicherung der Pragmatik) oder ob sie darüber hinaus auch die Fähigkeiten insgesamt zu steigern vermögen (Optimierung der Mechanik).

Körperliche Fitness, im Sinne von körperlicher Ausdauer und Beweglichkeit, kann das geistige Leistungsvermögen im Alter positiv beeinflussen. Die Ergebnisse verschiedener Trainingsprogramme lassen vermuten, dass hier zwei einander ergänzende Mechanismen wirksam sind. Erstens sinkt mit steigender Fitness der Aufmerksamkeitsbedarf des Körpers, sodass die frei gesetzten geistigen Ressourcen für andere Aufgaben eingesetzt werden können [3]. Zweitens hat körperliche Fitness positive Auswirkungen auf das Gehirn, und zwar vor allem auch auf diejenigen Areale und Funktionskreise, die besonders große anatomische und funktionale Alterungserscheinungen zeigen, wie zum Beispiel das Stirnhirn. Welche vaskulären und neuronalen Mechanismen den positiven Auswirkungen körperlicher Fitness zu Grunde liegen und wie diese, auch in Abhängigkeit von genetischen Faktoren, miteinander interagieren, ist noch weitgehend offen.

Soziale Teilhabe als dritte Einflussgröße verweist auf das Ausmaß an sozialen Aktivitäten im Leben verschiedener Personen. Seit längerem ist bekannt, dass soziale Teilhabe und geistige Leistungsfähigkeit im Alter positiv miteinander verknüpft sind: Ältere Erwachsene mit einem großen sozialen Netz und zahlreichen sozialen Aktivitäten sind im Durchschnitt kognitiv leistungsfähiger als ältere Erwachsene mit eingeschränktem sozialen Umfeld und wenig sozialer Aktivität. Ungeklärt war bislang die Einflussrichtung dieser korrelativen Beziehung. So könnte die positive Beziehung zwischen den beiden Bereichen allein darauf zurückgehen, dass Personen mit größeren kognitiven Leistungsvermögen stärker dazu neigen, sozial anregende Umwelten aufzusuchen. In diesem Fall würde von der sozialen Teilhabe selbst kein Einfluss auf die kognitive Alterung ausgehen.

Die Wirkung sozialer Teilhabe auf die Intelligenzentwicklung im Alter

Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gelang nun anhand von Daten der Berliner Altersstudie [4] der empirische Nachweis, dass zumindest im höheren und hohen Alter soziale Teilhabe den alterungsbedingten Rückgang in der Mechanik der Intelligenz abzuschwächen vermag [5]. Untersucht wurden 516 Personen im Altersbereich zwischen 70 und über 100 Jahren, die an bis zu vier Messzeitpunkten über einen Zeitraum von bis zu acht Jahren in ihrer persönlichen Entwicklung verfolgt wurden. Das Ausmaß an sozialer Teilhabe wurde durch zwei Maße erfasst: (a) durch das „Yesterday-Interview“, mit dem die Zeit ermittelt wurde, die die Probanden am Tag zuvor in sozialen Kontexten verbracht hatten (beispielsweise Besuche machen oder empfangen); (b) durch die „Aktivitätsliste“, mit der die Anzahl unterschiedlicher sozialer Aktivitäten im vergangenen Jahr erfasst wurde (beispielsweise Restaurantbesuche, soziale Hobbys, kulturelle Veranstaltungen, Tanzen). Als Indikatoren der Mechanik der Intelligenz dienten zwei Tests der Wahrnehmungsgeschwindigkeit, in denen die Probanden gebeten wurden, visuelle Reize möglichst schnell miteinander zu vergleichen.

Der entscheidende Unterschied zu früheren Auswertungen vergleichbarer Datensätze bestand darin, dass die Daten an zwei miteinander vergleichbare statistische Modelle angepasst wurden, die jeweils unterschiedliche Wirkrichtungen repräsentieren. Das erste statistische Modell brachte die Annahme zum Ausdruck, dass die Wahrnehmungsgeschwindigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt das Ausmaß an Veränderung in der sozialen Teilhabe von diesem bis zu einem nächsten Zeitpunkt vorhersagt. Ein derartiger Einfluss war nicht nachweisbar. Das zweite Modell postulierte hingegen, dass das Ausmaß an sozialer Teilhabe zu einem gegebenen Zeitpunkt das Ausmaß an Veränderung in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von diesem bis zu einem nächsten Zeitpunkt vorhersagt. Eine Wirkung in dieser Richtung war deutlich nachweisbar. Personen mit einem höheren Maß an sozialer Teilhabe zeigten im Laufe der acht Jahre einen geringeren Verlust an kognitiver Leistungsfähigkeit als Personen mit einem niedrigeren Ausmaß an sozialer Teilhabe.

Die vorliegenden Ergebnisse, die unterdessen an Datensätzen aus der Schweiz und Nordamerika repliziert wurden, unterstreichen die zentrale Bedeutung sozialer Faktoren für die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter. Zugleich werfen sie viele neue Fragen auf, da soziale Teilhabe, wie sie hier erfasst wurde, ein sehr heterogenes Bündel an Einflüssen darstellt. Insbesondere ist zu vermuten, dass die Wirkung sozialer Teilhabe auf die kognitive Entwicklung am oberen und unteren Ende des Spektrums durch unterschiedliche Mechanismen vermittelt wird. Die schützende Funktion hoher sozialer Teilhabe besteht vermutlich in ihrer stimulierenden Wirkung auf Gehirn und Verhalten. Sehr niedrige soziale Teilhabe könnte hingegen mit Stress und Depressivität assoziiert sein. Für die Identifikation physiologischer Mechanismen, die die Wirkung der sozialen Teilhabe im Einzelnen vermitteln, bedarf es weiterführender Untersuchungen, die Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit zu anatomischen, chemischen und funktionalen Veränderungen des Gehirns in Bezug setzen.

Originalveröffentlichungen

P.B. Baltes:
Theoretical propositions of life-span developmental psychology: On the dynamics between growth and decline.
Developmental Psychology 23, 611-626 (1987).
J.N. Tetens:
Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung.
Weidmanns Erben und Reich, Leipzig 1777.
U. Lindenberger, M. Marsiske, P.B. Baltes:
Memorizing while walking: Increase in dual-task costs from young adulthood to old age.
Psychology and Aging 15, 417-436 (2000).
P.B. Baltes, K.U. Mayer:
The Berlin Aging Study: Aging from 70 to 100.
Cambridge University Press, New York 1999.
M. Lövdén, P. Ghisletta, U. Lindenberger:
Social participation attenuates decline in perceptual speed in old and very old age.
Psychology and Aging, 20, 423-434 (2005).
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