Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Und was kommt jetzt? Kognitive Funktionen genuin motorischer Hirnregionen

Autoren
Schubotz, Ricarda I.
Abteilungen

Kognitive Neurologie I (Prof. Dr. D. Yves Cramon)
MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig

Zusammenfassung
Wenn wir überlegen, ob wir noch das nächste Auto abwarten oder jetzt gleich die Straße überqueren, koordinieren wir zwei synchrone Vorhersagen. Wir antizipieren einerseits, wie sich Dinge in unserer Umgebung verändern werden, und andererseits, wie wir unsere Umgebung verändern werden. Doch auch wenn wir die Straße gar nicht überqueren wollen, also keine Handlung planen, aktiviert diese Antizipation noch die gleiche Hirnregion. Bildgebende Forschung geht diesem Phänomen nach und befasst sich mit der Frage, warum manche kognitiven Funktionen Gebrauch von genuin motorischen Hirnregionen machen.

Sehen was der andere macht – Entdeckung neuer Funktionen des „Handlungsplanungsareals“

Was spielt sich in unserem Gehirn ab, wenn wir anderen Menschen bei ihrem Tun zuschauen? Warum verstehen wir so unmittelbar durch Beobachtung, was ein anderer gerade macht, welches Ziel er verfolgt? Und was hat diese Fähigkeit mit Mitgefühl und sozialem Verständnis zu tun? Fragen wie diese bewegen seit einigen Jahren vermehrt Forscher im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften. Alles begann mit der Entdeckung der so genannten Spiegelneurone im prämotorischen Kortex (Großhirnrinde) des Makakenaffen. Diese speziellen Nervenzellen sind nicht nur dann aktiv, wenn der Affe eine Handlung ausführt, sondern auch dann, wenn er einem anderen Affen bei derselben Handlung zuschaut. Könnten solche Spiegelneurone nicht die Grundlage für die Fähigkeit sein, die Handlungen anderer zu verstehen – durch eine Art „inneres Imitieren“ oder „Nachvollziehen“?

Über diese besondere Interpretation hinaus ist aber an der Entdeckung der Spiegelneurone noch etwas anderes überraschend: ein Hirnareal, das eigentlich für die Planung und Ausführung von Handlungen wichtig ist, hat offenbar auch Funktionen in der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Tatsächlich wurden im prämotorischen Kortex noch eine Reihe anderer Neuronentypen entdeckt, die diese Annahme untermauern. Wie sind diese Befunde zu verstehen? Warum feuern Neurone der motorischen Planung beim Anblick von Objekten, beim Hören von Geräuschen, bei der bloßen Berührung des Körpers?

Diese und damit verwandte Fragen können heute mithilfe bildgebender Untersuchungsmethoden wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie auch beim Menschen beantwortet werden. Während der Versuchsteilnehmer eine Aufgabenstellung bearbeitet, offenbart sich hierbei zwar nicht das Verhalten der einzelnen Nervenzelle, aber immerhin der erhöhte Stoffwechsel von Nervenzellverbänden. Seit der Etablierung dieser Untersuchungsmethode Anfang der 1990er-Jahre zeigte sich nun, zunächst zufällig, eine interessante Parallele zu der Entdeckung ungewöhnlicher, weil „nicht-motorischer“, Neurone im prämotorischen Kortex des Makaken: Auch wenn der betreffende Versuchsteilnehmer ganz regungslos im Magnet-Resonanz-Tomographen liegt und eine Aufgabe bearbeitet, die keine Handlungsplanung erfordert, können Aktivierungen seines prämotorischen Kortex festgestellt werden. Diese zunächst zufällig beobachteten Effekte werden nun systematisch und auf einer allgemeineren Ebene untersucht.

„Pragmatisches“ interessiert das Handlungsplanungsareal

Die bisherigen Befunde legen nahe, dass eine von zwei Bedingungen erfüllt sein muss, damit der prämotorische Kortex auch in Abwesenheit motorischer Planung aktiv wird. Eine Bedingung ist, dass der Versuchsteilnehmer mit Objekten befasst ist, die durch unseren alltäglichen Umgang mit ihnen einfach mit ganz bestimmten Handgriffen verbunden sind – etwa Werkzeug, Schreibutensilien oder Geschirr. Man sagt, diese Objekte haben für uns eine „pragmatische Bedeutung“. Vermutlich ist die Rolle des prämotorischen Kortex hierbei, die Betrachtung solcher Objekte stets und sofort mit der passenden Handlung zu verknüpfen –ob wir sie nun ausführen wollen oder nicht. Mit anderen Worten: Der bloße Anblick eines Hammers appelliert an unser Gehirn, die dazu passende Hämmerbewegung schon einmal aufzurufen. Warum ist das so?

Eine naheliegende, spekulative Interpretation besagt, dass wir Objekte, die uns so vertraut sind wie etwa ein Hammer, eine Tasse oder ein Kugelschreiber, nicht lediglich in ihrer Farbe, Form, Textur und Orientierung zur Kenntnis nehmen, sondern zugleich auch in ihrer Bedeutung für uns als handelnde Wesen. In der durch den alltäglichen Umgang mit diesen Gegenständen geschulten Wahrnehmung liegt somit bereits die potenzielle Handlung an oder mit ihnen verborgen.

Welches ist aber die zweite mögliche Bedingung, deren Erfüllung dazu führt, dass der prämotorische Kortex aktiviert wird? Eine Reihe von Experimenten, in denen den Versuchsteilnehmern keine natürlichen, alltäglichen Gegenstände präsentiert werden, sondern vielmehr abstrakte Objekte wie zum Beispiel geometrische Figuren, zeitigen ebenfalls prämotorische Aktivität (Abb. 1, [1–5]). Diese Ergebnisse sind bislang nicht beim Makakenaffen untersucht worden und demnach bis auf weiteres als humanspezifisch einzustufen. Interessanterweise kommt es in diesem Fall nicht so sehr auf das besondere Aussehen der abstrakten Objekte an. Es ist beispielsweise nicht wichtig, ob uns ein solches abstraktes Objekt irgendwie an ein reales, pragmatisch bedeutsames Objekt erinnert. Hoch relevant ist hingegen, welche Aufgabenstellung dem Versuchsteilnehmer in Bezug auf das präsentierte Objekt gegeben wird. Nicht was man sieht ist hier also von Bedeutung, sondern was man (damit) machen soll.

„Dynamisches“ interessiert das Handlungsplanungsareal auch

Dass man beim Anblick eines Hammers zugleich – unwillkürlich und ohne sich dessen bewusst zu sein – seine Benutzung repräsentiert, ist eine letztlich naheliegende Vorstellung. Dass jedoch auch die Beachtung ganz abstrakter Objekte und, wie im Folgenden noch dargestellt wird, auch die Beachtung abstrakter Geräusche zu Aktivität in derjenigen Hirnregion führt, die für die Handlungsplanung unabdingbar ist, erscheint um einiges weniger plausibel. Um dieses Phänomen interpretieren zu können, muss man verstehen, unter welchen Bedingungen es überhaupt auftritt. Das Schlüsselwort ist hier „Antizipation“ – also: Vorhersage. Kurz gesagt führen Aufgaben, die die Vorhersage von Wahrnehmungsereignissen erfordern, zu Aktivität im prämotorischen Kortex – und zwar auch dann, wenn von dem Versuchsteilnehmer keine konkrete Handlungsplanung gefordert ist. Eine Aufgabe, mit Hilfe derer man diesen Effekt untersucht, ist die serielle Prädiktions-Aufgabe (serial prediction task, Abb. 2, [6]). Hierbei wird eine Sequenz von visuellen oder akustischen Reizen präsentiert, die eine bestimmte Reihenfolge aufweist, etwa wie in „A-B-C-A-B-C- ...“ oder „A-1-B-2-C-3- ...“. Die Versuchsteilnehmer werden aufgefordert, sich diese Sequenz genau anzusehen beziehungsweise anzuhören und auf die besondere Reihenfolge der Reize zu achten. Hat man dergestalt beispielsweise die Reize A, B, C, A gesehen, sollte man nachfolgend die Reiz B und C erwarten. Um sicherzustellen, dass dies auch geschieht, weichen einige Reize von der Reihenfolge ab. Die Versuchsteilnehmer sind nun angehalten, diese abweichenden Reize mittels Tastendruck anzuzeigen (Abb. 2). Nur wenn eine Sequenz in dieser Hinsicht richtig bearbeitet wurde, geht die dabei aufgezeichnete Hirnaktivität in die statistische Analyse ein.

Warum führt gerade diese Aufgabe – und mit ihr ähnliche, die die Verarbeitung von Reihenfolge erfordern – zu einer Aktivität prämotorischer, handlungsvorbereitender Areale? Die Arbeitshypothese lautet wie folgt: Planvolle Handlungen erfordern Antizipation von Wahrnehmungsereignissen, und zwar gleich in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist es wichtig, die eigene Handlung „online“ auf die Ereignisse abzustimmen, die um den Handelnden herum stattfinden. Wollen wir die Straße überqueren, beachten wir selbstverständlich die herannahenden Autos, versuchen zu antizipieren, wann ein Auto auf unserer Höhe sein wird, und passen den Zeitpunkt unseres Losgehens und unser Gangtempo an. Zum anderen aber findet Antizipation auch in Bezug auf Handlungseffekte statt, die wir selber herbeiführen wollen. Wenn wir ein Glas Wasser einschenken, ist ein angestrebter Handlungseffekt, dass der Flaschenhals genau über dem Glas positioniert wird, und ein weiterer, dass das Glas nicht randvoll mit Wasser gefüllt wird.

In Anlehnung an neuere experimentalpsychologische Modelle der Handlungsplanung kann man davon ausgehen, dass Handlungspläne nicht, wie lange Zeit angenommen, in erster Linie motorische oder kinematische Pläne sind, sondern Pläne von Abfolgen von Handlungseffekten: Wir spüren, dass wir die Flasche fest genug gegriffen haben, um sie anheben zu können. Wir sehen, wann das Glas voll ist und wir die Flasche wieder abstellen können.

Als Handelnde müssen wir also in zweierlei Hinsicht antizipieren: sowohl solche Ereignisse, die in unserem Umfeld durch andere Lebewesen oder physikalische Kräfte verursacht werden, als auch solche Ereignisse, die wir selber herbeiführen. Funktionelle Bildgebung zeigt nun, dass im Gehirn beide Arten der Antizipation den prämotorischen Kortex aktivieren; sie konvergieren, wenn vielleicht nicht auf dieselben Nervenzellen, so doch auf eine gemeinsame Hirnregion. Dies erscheint plausibel, denn beide Informationen müssen perfekt integriert werden, um eine erfolgreiche Handlung zu ermöglichen.

Demnach lautet das Erklärungsmodell für oben genannte Befunde: Aufgaben, die die Verarbeitung von Reihenfolgen erfordern, aktivieren prämotorische, handlungsvorbereitende Areale, weil erst die Repräsentation einer Reihenfolge (A-B-C-A- ... usw.) die Antizipation von Ereignissen aufgrund anderer Ereignissen („nach C kommt wieder A“) ermöglicht. Und diese Funktionen können über ganz abstrakte Stimulationen und Aufgaben dargestellt und im Hirn untersucht werden.

Planung und Antizipation – Zwei Seiten einer Medaille

Wie sind diese neuen Erkenntnisse mit Blick auf die Forschung der Prämotorik zu bewerten? Konkret ist zu klären, ob – und wenn ja, wie – die beschriebenen nicht-motorischen Funktionen des prämotorischen Kortex mit seiner schon länger bekannten Rolle in der Planung von Handlungen zusammenpassen. Ein Weg, diese Frage anzugehen, besteht darin, die räumliche Anordnung der kognitiven und der motorischen Funktionen im prämotorischen Kortex miteinander zu vergleichen und experimentell miteinander in Beziehung zu setzen.

Sprechen, Greifen, Reichen – diese Handlungen gehen mit der Aktivierung unterschiedlicher Regionen des prämotorischen Kortex einher. Man spricht hier von einer Somatotopie, also einer Körperkarte, allerdings im weitesten Sinne, da sich die Körperteile im prämotorischen Kortex stark überlappen und auch mehrfach angelegt sind. Dies hat vermutlich den einfachen Grund, dass Handlungen in der Regel mehrere Körperteile zugleich in Bewegung setzen, zum Beispiel den Zeigefinger mit dem Daumen oder die Hand und den Mund. Vokalisation, Handbewegung und Armbewegung sind jedoch prämotorisch zu unterscheiden.

Die Organisation der Antizipation abstrakter Reize konnte mithilfe mehrerer Experimente aufgeklärt werden[1, 2, 5]. Dabei zeigte sich, dass sich unterschiedliche prämotorische Regionen durch unterschiedliche Reizeigenschaften aktivieren lassen (Abb. 3). Es gibt prinzipiell drei Reizeigenschaften, auf die man sein Augenmerk richten kann: Was ist es? Wo ist es? Wie lange dauert es? Die erste Eigenschaft bezieht sich auf alles, was ein Objekt ausmacht, wie etwa die Farbe, Form und Textur, unabhängig von seinem Erscheinungsort und der Dauer, für die wir es wahrnehmen. Die zweite bezeichnet den Ort eines Reizes, unabhängig davon, was und wie lange wir es sehen oder hören. Die dritte schließlich bezeichnet nur die Dauer eines Stimulus, unabhängig von Ort und Objekt. Befunde der Bildgebung zeigen nun, dass diese drei Reizeigenschaften in unterscheidbaren Regionen innerhalb des prämotorischen Kortex repräsentiert und verarbeitet werden.

Der Vergleich zwischen den kognitiven und den motorischen Funktionen im prämotorischen Kortex zeigt nun, dass sich drei Paare topographischer Organisation bilden lassen: Vokalisation und Reizdauer, Handbewegung und Reizobjekt, Armbewegung und Reizort (Abb. 4). Für diese dreifache Korrespondenz wurde der Begriff der „habituellen pragmatischen Körperkarte“ geprägt, der besagt, dass die Antizipation von Reizeigenschaften diejenige Region im prämotorischen Kortex aktiviert, die das pragmatisch passende Körperteil ansteuert [8]. Antizipieren wir etwa die vertraute Melodie, die wir im Radio hören, ist dabei das Vokalisationsfeld des prämotorischen Kortex aktiv.

Prämotorischer Kortex – diese Bezeichnung, so zeigen die dargestellten Ergebnisse aus der experimentellen Bildgebung, ist heute als irreführend zu bezeichnen, insofern sie eine rein motorische Funktion nahe legt. Aus aktueller Sicht würde man hingegen sagen, dass sowohl die Vorhersage von Ereignissen, die man wahrnimmt, als auch die Planung von Effekten, die man mit seiner Handlung erzielen will, kurz: antizipatorische Prozesse unterschiedlichster Art, gleichermaßen auf diese Hirnregion zurückgreifen [10]. Wie dieser Zusammenhang zu interpretieren ist, bleibt Gegenstand zukünftiger Forschung. Eine Möglichkeit ist, dass wir uns in einer sich ständig verändernden Umwelt mit zahlreichen lebenden Akteuren nur dann orientieren können, wenn wir uns in alles, was sich bewegt und vorhersagbar verändert, hineinversetzen, als seien wir selbst die Verursacher.

Originalveröffentlichungen

R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Functional organization of the lateral premotor cortex: fMRI reveals different regions activated by anticipation of object properties, location and speed.
Cognitive Brain Research 11, 97–112 (2001).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Interval and ordinal properties of sequences are associated with distinct premotor areas.
Cerebral Cortex 11, 210–222 (2001).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Predicting perceptual events activates corresponding motor schemes in lateral premotor cortex: an fMRI study.
NeuroImage 15, 787–796 (2002).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
A blueprint for target motion: fMRI reveals perceptual complexity to modulate a premotor-parietal network.
NeuroImage 16, 920–935 (2002).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon, G. Lohmann:
Auditory what, where, and when: A sensory somatotopy in lateral premotor cortex.
NeuroImage 20, 173–185 (2003).
R.I. Schubotz:
Instruction differentiates the processing of temporal and spatial sequential patterns: Evidence from slow wave activity in humans.
Neuroscience Letters 265, 1–4 (1999).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Dynamic patterns makes the premotor cortex interested in objects: Influence of stimulus and task revealed by fMRI.
Cognitive Brain Research 14, 357–369 (2002).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Functional-anatomical concepts on human premotor cortex: Evidence from fMRI and PET studies.
NeuroImage 20, 120–131 (2003).
R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
Sequences of abstract non-biological stimuli share ventral premotor cortex with action observation and imagery.
The Journal of Neuroscience 24, 5467–5474 (2004).
U. Wolfensteller, R.I. Schubotz, D.Y. von Cramon:
"What" becoming "Where": fMRI evidence for pragmatic relevance driving premotor cortex.
The Journal of Neuroscience, 24(46), 10431–10439 (2004).
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